Schmid (Hrsg)Wien 1, Stubenring 1

Verlag des ÖGB, Wien 2012, 188 Seiten, € 29,90

JOSEFCERNY (WIEN)

Der Titel des Buches lässt nicht erkennen, aus welchem Grund dieses Buch in einer arbeits- und sozialrechtlichen Fachzeitschrift besprochen werden sollte. Erst der – sprachlich ein wenig holprige – Untertitel macht klar, worum es geht: „Persönliche Erinnerungen von und an österreichische Sozialministerinnen und Sozialminister“ in der Zeit von 1980 bis 2012. Unter dem Motto „University goes public, public comes to University“ wurden alle noch lebenden ehemaligen SozialministerInnen dieser Zeitperiode und der amtierende Sozialminister eingeladen, im Rahmen einer Ringvorlesung an der Fachhochschule St. Pölten über „Sozialpolitik aus verschiedener Sicht“ zu reflektieren. Die Ex-MinisterInnen Walter Geppert, Franz Hums, Lore Hostasch, Herbert Haupt, Ursula Haubner, Erwin Buchinger sowie der amtierende Sozialminister Rudolf Hundstorfer sind dieser Einladung nachgekommen, ihre Beiträge sind als Mitschnitte in Vortragsform in dem Buch dokumentiert. An den 1989 verunglückten Sozialminister Alfred Dallinger wird in Erinnerungen von Karl Fakler, Manuela Vollmann und Sepp Ginner gedacht, an den 2003 verstorbenen Minister Josef Hesoun in einem Gespräch mit den ehemaligen Mitarbeitern seines Ministerbüros Herbert Buchinger und Christoph Lechner. In einer „Außensicht“ behandelt Karl Öllinger „Eckpunkte Grüner Sozialpolitik“, und Barbara Rieder reflektiert die Vortragsreihe aus studentischer Sicht. Als Herausgeber fungiert Tom Schmid, Politikwissenschaftler und (neben anderen Funktionen) Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule St. Pölten.

Nicht an dem Diskurs teilgenommen haben die Kurzzeit-Sozialministerin Sickl – was hätte sie auch zur Sozialpolitik sagen sollen? – und der ehemalige Wirtschaftsminister Bartenstein, der von 2000 bis 2008 auch die Funktion des Arbeitsministers ausgeübt hatte.

Absicht des Buches ist es nicht, Politik zu personalisieren, aber den persönlichen Aspekt der Politik aus der Sicht der jeweils für das Ressort Verantwortlichen bzw durch eine persönliche Sicht auf diese Personen herauszuarbeiten. Dieser Zugang bringt für die LeserInnen Vor- und Nachteile: Einerseits bekommt man interessante, bisher in dieser Form nicht veröffentlichte Hintergrundinformationen, andererseits handelt es sich notwendigerweise um eine persönlich-subjektive Sicht der Dinge, die in dem Buch kaum kritisch hinterfragt wird, obwohl (Selbst)Kritik in einzelnen Beiträgen durchaus anklingt. Die „Außensicht“ von Öllinger und Rieder reicht jedenfalls nicht aus, um sich ein einigermaßen objektives Bild von der Politik der jeweiligen MinisterInnen machen zu können.

So greift schon der erste (Gedenk)Beitrag mit den Erinnerungen von Fakler, Vollmann und Ginner viel zu kurz, wenn er Alfred Dallingers Tätigkeit als Sozialminister im Wesentlichen auf die Einführung der aktiven und experimentellen Arbeitsmarktpolitik reduziert. Ein kurzes Tableau der wichtigsten in seiner Amtszeit gesetzten Maßnahmen ließe erkennen, dass Dallinger ein Sozialpolitiker war, der weit über den Tellerrand der Tagespolitik hinaus geblickt hat. Andererseits wäre auch das Defizit in der Arbeitsrechtspolitik aufzuzeigen gewesen: Trotz eindeutiger Absichtserklärung im Regierungsprogramm hat er – wie übrigens auch alle seine Nachfolger bisher – in der Frage der Kodifikation des Arbeitsrechts nichts weiter gebracht. Allgemein musste Dallinger das Schicksal vieler Linker im Widerspruch zwischen visionärem Zukunftsdenken und realer Tagespolitik erfahren. Seine heute mehr denn je aktuelle Idee einer grundlegenden Änderung der Finanzierung des Sozialstaats mit Hilfe einer Wertschöpfungsabgabe ist bisher nicht einmal ansatzweise verwirklicht worden. Stattdessen musste er schon während seiner Amtszeit als Sozialminister die ersten Einschnitte im Leistungsrecht der SV (mit) verantworten (40. und 44. ASVG-Novelle), eine Entwicklung, die sich seither unter dem Titel diverser „Sparpakete“ oder „Stabilitätsabkommen“ ständig fortgesetzt hat.

Das in dem Buch Dallinger zugeschriebene Zitat „Wer nicht den Mut zum Träumen hat, hat auch nicht die Kraft zu kämpfen“ stammt im Übrigen mW nicht von ihm, sondern von einem italienischen Gewerkschafter – trotzdem gut!

An dem Beitrag von Geppert beeindrucken sein großes Fachwissen und seine klaren Wertvorstellungen. Zentrale Ziele der Sozialpolitik sind für ihn Verteilungsgerechtigkeit und soziale Sicherheit. Er bringt auch zutreffend die internationale Dimension der Sozialpolitik ins Spiel. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – seines sozialpolitischen Engagements haben Geppert als Sozialminister die realen politischen Zwänge und die ständigen Angriffe auf das System der Sozialen Sicherheit offenbar ziemlich zu schaffen gemacht. Sein Beitrag in dem vorliegenden Buch bestätigt jedenfalls den Eindruck, dass er als Politiker in der öffentlichen Meinung unter seinem Wert geschlagen wurde.

Ähnliches gilt auch für Franz Hums, der in seiner offenen und sympathischen Art kein Hehl daraus macht, dass er sich als Sozialminister nur als temporärer Sachwalter der Sozialpolitik zur Vorbereitung des Weges in die EU gesehen hat.

Ganz anders fällt die Bilanz der Sozialpolitik in der Ära des Sozialministers „Jolly“ Hesoun aus. In einem unterhaltsamen, lockeren Gespräch zeichnen seine ehemaligen Mitarbeiter im Ministerbüro und persönlichen Assistenten Buchinger und Lechner ein nahezu euphorisches Bild der Tätigkeit von Hesoun. Nun ist zwar gewiss nicht zu bestreiten, dass Hesoun während seiner fünfjährigen Amtszeit sehr viel Positives auf den Weg gebracht hat. Vor allem die Einführung der Pflegevorsorge war jedenfalls eine sozialpolitische Großtat. In manchen Belangen wird aber die Rolle Hesouns in dem Buch etwas überzeichnet, so etwa, wenn Christoph Lechner das Arbeiterkammergesetz 1992 (es war übrigens nicht bloß eine Novelle, sondern ein völlig neues Gesetz) der erfolgreichen Tätigkeit des Sozialminister(ium)s zuschreibt. Hesoun hat zwar als Spitzenfunktionär der AK maßgeblich am Zustandekommen des Gesetzes und der Kammerreform mitgewirkt, die inhaltliche Arbeit ist aber nicht vom Sozialministerium, sondern von den Arbeiterkammern selbst geleistet worden.87

Besonders interessant ist, wie die beiden ehemaligen Mitarbeiter Hesouns ihre eigene Rolle im politischen Geschehen beschreiben. Ohne viel zwischen den Zeilen lesen zu müssen, gewinnt man den Eindruck, dass selbst ein „starker“ Minister, wie Hesoun einer war, in seinem politischen Denken und Handeln sehr stark von seinen engsten Mitarbeitern beeinflusst wird.

Noch deutlicher wird das in dem Beitrag von Lore Hostasch, die es als Glück bezeichnet, einen Kabinettschef gehabt zu haben, der (nicht nur) ihrer Meinung nach zu den besten Sozialpolitikern in Österreich gehört (Anm des Rezensenten: es war Bernhard Schwarz). Und Hostasch sagt klipp und klar: „Der Kabinettschef hat bei uns die mächtigste Position in der Verwaltung.

Es wäre eine politikwissenschaftliche Studie wert, den tatsächlichen Einfluss der Ministerbüros und deren leitenden MitarbeiterInnen auf die Politik der jeweiligen MinisterInnen einmal näher zu beleuchten. Ich denke, da könnte man manche Überraschung erleben.

Im Übrigen zeigt der Beitrag von Hostasch alle ihre Vorzüge: Verhandlungs- und Kompromissfähigkeit nach allen Seiten, offenes Zugehen auf die Menschen unter Einsatz von Sympathie und Charme und nahezu grenzenloses Engagement für Maßnahmen, die sie als richtig erkannt hat. Bemerkenswert ist, dass die auch als glühende Verfechterin und in langjähriger Praxis erprobte Akteurin der Sozialpartnerschaft davon ausgeht, dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit die Gesellschaft beherrscht. Es wäre aber nicht Hostasch, würde sie nicht gleich besänftigend hinzufügen, sie „möchte es nicht unbedingt klassenkämpferisch formulieren“.

Was in der Selbstdarstellung zwar anklingt, aber nicht deutlich genug herauskommt: Bei aller Freundlichkeit und Kompromissbereitschaft war und ist Lore Hostasch auch durchaus in der Lage, von ihr als richtig erkannte Entscheidungen mit aller Konsequenz und notfalls auch Härte umzusetzen.

In den Beiträgen von Haupt und Haubner wird der Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik deutlich: Während die SozialministerInnen vorher trotz schwieriger werdender Rahmenbedingungen die Sicherung und Weiterentwicklung des Sozialstaats in den Mittelpunkt ihrer Politik gestellt hatten, sieht Haupt Bedarf für „neue Flexibilitätsmodelle zur Erhaltung der Beschäftigung“ und widmet der Diskussion über „Missbrauch“ im Zusammenhang mit dem Kindergeld breiten Raum. Haubner spricht von „Vollkasko-Mentalität“ und fordert ein „bedürfnisorientiertes, solidarisch getragenes System“, in dem die Politik die Rahmenbedingungen so zu setzen habe, „dass die Menschen möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich leben können“. Das Ergebnis dieser Politik ist an den Sozialdaten am Ende der schwarz-blauen Regierungszeit abzulesen.

Der Beitrag des unkonventionellen Erwin Buchinger, der ab 2007 knappe zwei Jahre als Sozialminister tätig war, steht daher unter dem Motto: „Die Wende der Wende versuchen“. Er rechnet schonungslos mit der Politik der schwarz-blauen (orangen) Regierung ab, weist aber zugleich darauf hin, dass neo-liberale Sichtweisen bereits in den 80er- und 90er-Jahren auch in der Sozialdemokratie zu wirken begonnen hatten. Am deutlichsten sichtbar sei die Gegenwende im Pensionsrecht, wo die Härten der schwarz-blauen Pensionsreformen konsequent beseitigt und darüber hinaus einige Verbesserungen erreicht werden konnten. Als Herzstück der Armutsbekämpfungspolitik bezeichnet Buchinger die Bedarfsorientierte Mindestsicherung, die in seiner Zeit als Sozialminister „auf Punkt und Beistrich fertig ausverhandelt“, von ihm aber wegen des Bruchs der Koalition nicht mehr realisiert werden konnte. Insgesamt zieht Buchinger eine durchaus positive Bilanz seiner kurzen Ministerzeit, in der der Begriff „Reform“ wieder seine ursprüngliche Bedeutung gewonnen habe.

An vieles, was seine VorgängerInnen vorbereitet hatten, konnte der amtierende Sozialminister Rudolf Hundstorfer anknüpfen. Allerdings betont er gleich einleitend zu recht, dass sich die Rahmenbedingungen für die Sozialpolitik durch die Finanzkrise und deren Auswirkungen grundlegend geändert hatten. Sein Beitrag trägt deshalb den Titel „Den Sozialstaat durch die Krise führen“ und sein Credo lautet: „Die österreichische Sozialpolitik ist bestrebt, das hohe Niveau des Sozialstaates aufrecht zu erhalten und auch – im Wissen, dass damit Kosten verbunden sind – auszubauen“. Als wichtiges Beispiel führt Hundstorfer die Einführung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung an, deren Konzept er von seinem Vorgänger im Wesentlichen übernommen hatte. Bemerkenswert ist die starke Akzentuierung der Umverteilungsfunktion des Sozialstaats und damit in Verbindung die Forderung nach vermögensbezogenen Abgaben. Nicht zuletzt daran wird man später einmal die Tätigkeit des Sozialministers Hundstorfer zu messen haben.

Das Buch erhebt nicht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Es kann aber allen, die an Sozialpolitik und/oder an Zeitgeschichte interessiert sind, zur Lektüre empfohlen werden.