Invaliditäts- und Berufsunfähigkeitspensionen – Probleme des Verfahrens vor den Versicherungsträgern und dem Arbeits- und Sozialgericht
Invaliditäts- und Berufsunfähigkeitspensionen – Probleme des Verfahrens vor den Versicherungsträgern und dem Arbeits- und Sozialgericht
Vor allen anderen Handlungsoptionen (darunter: höhere Beiträge, Leistungskürzungen) hat sich die Kommission zur langfristigen Finanzierung der PV117 („Pensionskommission“) im Bericht zum Langfristgutachten 2010* für die Anhebung des faktischen Pensionsalters ausgesprochen. Die österreichische Pensionspolitik ist dieser Anregung weitgehend gefolgt. Obwohl die Vorziehung der Anhebung des gesetzlichen Regelpensionsalters für Frauen politisch gescheitert ist, sind mit Ausnahme der Schwerarbeitspension die vorzeitigen Alterspensionen entweder abgeschafft worden oder sie laufen aus; zugleich ist der Pensionszugang erschwert worden (höheres Pensionsalter, Verschärfung der sonstigen Anspruchsvoraussetzungen), bei der Korridorpension ist der Pensionsabschlag erhöht worden. MaW: Das durchschnittliche faktische Pensionsalter von Alterspensionen – es liegt derzeit bei 62,6 Jahren bei Männern und 59,3 Jahren bei Frauen – wird in den nächsten Jahren durch zT bereits wirksam gewordene gesetzliche Maßnahmen (dazu gehört auch die sukzessive Anhebung des Frauenpensionsalters ab 2024) erheblich steigen.
Das faktische Pensionsalter aller Eigenpensionen beträgt 58,1 Jahre (bei Männern 59,1 Jahre, bei Frauen 57,1 Jahre). Bedenkt man, dass Invaliditätspensionen rund ein Drittel aller Direktpensionen ausmachen, liegt auf der Hand, dass ein noch höheres durchschnittliches Pensionszugangsalter bei Beibehaltung des Regelpensionsalters von 65 nur mit einer viel geringeren Zahl von Invaliditätspensionen oder zumindest mit einer markanten zeitlichen Verschiebung des Pensionsanfalls von Invaliditätspensionen erreicht werden kann. Peilt man etwa eine Erhöhung des faktischen Pensionsalters auf 62,5 Jahre an, müssten Frauen wie Männer mit durchschnittlich rund 62,5 Jahren in die Alterspension gehen. Zugleich müsste aber auch das faktische Pensionsalter bei Invaliditätspensionen (derzeit 50,1 bei Frauen bzw 53,5 bei Männern) auf 62,5 Jahre angehoben werden. Das ist mittelfristig unrealistisch. Die Sozialpartner haben ein Paket geschnürt,* das zu einer Anhebung um rund zwei Jahre bis 2020 führen soll. Die Pensionskommission setzte sich das Ziel, das faktische Pensionsalter bis 2030 um eineinhalb Jahre zu erhöhen.
Sozialpolitisch gesehen ist jede Invaliditätspension (IP) sozusagen „eine zu viel“. Die Pension kann deshalb nur die ultima ratio eines Kontinuums von präventiven und kurativen Maßnahmen sein. Ein höheres Pensionszugangsalter bei Invaliditätspensionen kann jedoch nicht nur durch gesetzliche Änderungen wie beispielsweise beim sogenannten Tätigkeitsschutz,* sondern vor allem auf der Verwaltungsebene durch gezielte Maßnahmen der Rehabilitation und Prävention bewirkt werden. Diesen muss eine erschwingliche Krankenbehandlung* vorgelagert sein: Ziel ist es, Versicherte, allenfalls auch mit Hilfe beruflicher Umschulungen, möglichst bis zum Regelpensionsalter im Erwerbsleben halten zu können.
Erfreulicherweise ist Österreich seit 2008 nicht mehr Spitzenreiter bei den Sozialausgaben für Invalidität, sondern liegt mit 2,3 % des BIP im EU-27-Schnitt.* Im Gegensatz zu den meisten OECD-Staaten ist die Zahl der Invaliditätspensionen in Österreich sogar rückläufig: Der Anteil der InvaliditätspensionsbezieherInnen im erwerbsfähigen Alter an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter liegt in Österreich mit 4,6 % unter dem OECD-Durchschnitt von 5,8. In den Altersgruppen zwischen 20 und 49 wird in Österreich weniger um Invaliditätspensionen angesucht als in vergleichbaren OECD-Staaten, bei den über 50-Jährigen rangiert Österreich allerdings im Spitzenfeld.*
Im vorliegenden Aufsatz wird zunächst zu einigen Grundfragen des sozialrechtlichen Verfahrens Stellung bezogen. Es handelt sich um rechtspolitische Probleme, die seit jeher umstritten sind oder im Gefolge der Budgetkonsolidierung politisch virulent geworden sind.* Bei einigen dieser Probleme sind bereits gesetzliche Regelungen in Kraft getreten.
Im Anschluss daran werden Ansatzpunkte für Reformen zur Verhütung von Invalidität dargestellt, die an den Ursachen von Invalidität ansetzen. Trotz aller Bemühungen wird es auch in Zukunft Personen geben, die aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation nicht in der Lage sein werden, bis zum regulären Pensionsantrittsalter am Arbeitsmarkt zu verbleiben. Für sie müssen die Verfahren vor den Versicherungsträgern und dem ASG insgesamt effizienter und so nachvollziehbar wie möglich gestaltet werden. Es wird dargestellt, dass durch bestimmte verfahrensgestaltende Maßnahmen mehr Prozessgerechtigkeit und eine Senkung der Zahl der Pensionsanträge, der Klagen und schließlich der Zahl von Invaliditätspensionen erreicht werden könnte. Verfahrensgerechtigkeit im pensionsrechtlichen Verfahren, das sich im Streitfall aus einem Anstaltsverfahren und einem sozialgerichtlichen Verfahren zusammensetzt, muss nicht weniger Pensionen zum Ergebnis haben, der Mehrwert liegt vielmehr in der Herstellung gleicher Zugangschancen zu Invaliditätspensionen auf Anstalts- und gerichtlicher Ebene. Im letzten Teil des Aufsatzes wird auf bedeutsame auf Zugangsgerechtigkeit ausgerichtete verfahrensrechtliche Änderungen im SRÄG 2012 aufmerksam gemacht.
Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit der sukzessiven Kompetenz im gegenwärtigen pensionsrechtlichen Verfahren ergibt sich aus dem Grundsatz118 der Trennung von Justiz und Verwaltung (Art 94 B-VG). Somit kann die Frage nur mehr lauten, ob ein an die Stelle der Sozialgerichtsbarkeit tretendes verwaltungsrechtliches Rechtsmittelverfahren insgesamt nicht leistungsfähiger wäre. Eine unverzichtbare Bedingung dabei ist, dass der Rechtsschutz nicht verschlechtert werden darf.
Das Verwaltungsverfahren ist wesentlich komplexer und formalistischer als die Sozialgerichtsbarkeit. Umso notwendiger ist eine fundierte juristische Aufbereitung des Prozessgegenstandes sowie die Begleitung durch RichterInnen im Verfahren. Eine Manuduktionspflicht ist im Verwaltungsverfahren nicht vorgesehen, ebenso bestehen aufgrund der derzeitigen gesetzlichen Bestimmungen des AVG massive Kostenrisken für den Fall des Unterliegens der/des Kl. Darüber hinaus käme es zu einer Verkürzung des Instanzenzuges, denn im sozialgerichtlichen Verfahren sind drei Instanzen (ASG, OLG sowie OGH) sowie unter bestimmten Umständen auch noch die Anrufung des VwGH bzw VfGH möglich. Im Verwaltungsverfahren gibt es lediglich zwei Instanzen, wobei der VwGH die Behandlung einer Beschwerde, deren Lösung der Rechtsfrage keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und schon ausreichend behandelt worden ist, ablehnen kann.
Laiengerichtsbarkeit ergänzt richterlichen Sachverstand durch „unverbildetes Rechtsempfinden“ von (mitentscheidenden) Mitwirkenden aus dem Volk. Sie gilt seit Mitte des 19. Jahrhunderts als demokratisches Element der Gerichtsbarkeit, das aus dem Misstrauen gegenüber politisch abhängiger staatlicher Berufsjustiz entstanden ist und das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit erhöhen soll.*
An dieser Begründung von Art 91 B-VG hat sich bis heute prinzipiell nichts geändert. Dazu kommt, dass § 12 ASGG „fachkundige Laienrichter“, also aus den Berufsgruppen der am Rechtsstreit beteiligten Parteien rekrutierte LaienrichterInnen, die fehlende Erfahrung über die Arbeitswelt beim/bei der BerufsrichterIn ausgleichen sollen, vorsieht. Daraus lässt sich eine noch höhere Legitimität der Laiengerichtsbarkeit gewinnen, wenngleich diese Funktion nicht immer „gelebt“ wird* und nach § 37 Abs 2 ASGG ein Verstoß gegen diese Vorschrift nicht als unrichtige Gerichtsbesetzung geltend gemacht werden kann. Trotzdem wurde im Rahmen der Zivilverfahrensnovelle 2002 in erster Linie aus Einsparungsgründen versucht, die Laiengerichtsbarkeit in Sozialrechtssachen abzuschaffen. Die Kritik, dass die Bestellung durch Wahl durch gesetzliche Interessenvertretungen (siehe § 19 ff ASGG) zwar sozialpartnerschaftlich, aber nicht demokratisch „aus dem Volk“ erfolgt, wird völlig zu Recht vom VwGH abgelehnt.*
Laiengerichtsbarkeit erfordert jedoch ohne Zweifel auch mehr Verantwortung der entsendenden Stellen für eine ausreichende Qualifizierung (Schulung) „ihrer“ fachkundigen LaienrichterInnen. Das betrifft vor allem die Rechtslage und den Prozessablauf. Das Unbehagen an der Laiengerichtsbarkeit rührt ja vor allen Dingen daher, dass LaienrichterInnen infolge der Komplexität des Sozialrechts „nichts Wesentliches“ zur Rechtsfindung beitragen können,* was von den BerufsrichterInnen aber überaus divergent wahrgenommen wird und gewiss nicht für alle Verfahrensabschnitte belegbar ist (so beispielsweise nicht in Fragen des Anforderungsprofils von Verweisungstätigkeiten oder im Rechtsmittelverfahren).* Nicht übersehen werden darf die präjudizielle Wirkung der Abschaffung der Laiengerichtsbarkeit im sozialgerichtlichen Verfahren für das Verfahren in Arbeitsrechtssachen. Lediglich dann, wenn im Rahmen einer vorbereitenden Tagsatzung Prozessinhalt und -verlauf festgelegt werden, könnte für die weitere Prozessregie auf die Beiziehung fachkundiger LaienrichterInnen verzichtet werden.119
Die den Gerichten aus dem sozialgerichtlichen Verfahren erwachsenden Kosten sind bekanntlich von den Versicherungsträgern zu tragen. Darunter fallen nach § 93 ASGG auch die Kosten von ZeugInnen, Sachverständigen und Parteien sowie die zu leistenden Gebühren und Entschädigungen der fachkundigen LaienrichterInnen. Das im Oktober 2010 zur Begutachtung vorgelegte BBG 2011* sah neben Einsparungen im Bereich des Einsatzes des richterlichen Personals (Auflassung der Amtstage bei Gericht) auch Einsparungen im Bereich der Gerichtskosten vor.
In den EB zum Entwurf wird ausgeführt, es habe sich aufgrund eines Gutachtens des Beratungsunternehmen ROI gezeigt, dass durch Insourcing von Dolmetschleistungen in den wichtigsten Sprachen bundesweit erhebliche Einsparungseffekte erzielt werden könnten. Es sollte daher – im Zivilrechtsverfahren vorerst auf sozialgerichtliche Verfahren beschränkt – die Möglichkeit geschaffen werden, auf von der Justiz bereitgestellte DolmetscherInnen zugreifen zu können. Diese Änderung wurde beschlossen und gilt seit 1.1.2011. Sie hat in § 75 ASGG in folgender Textierung Eingang gefunden: „Als Dolmetscher ist eine vom Bundesministerium für Justiz oder in dessen Auftrag von der Justizbetreuungsagentur zur Verfügung gestellte geeignete Person zu bestellen. Steht eine geeignete Person nicht oder nicht für die angefragte Zeit zur Verfügung, so kann das Gericht auch eine andere geeignete Person als Dolmetscher bestellen. Dabei ist vorrangig eine in die Gerichtssachverständigen- und Gerichtsdolmetscherliste eingetragene Person zu bestellen.
“ Diese gesetzliche Maßnahme kann als sinnvoll betrachtet werden.
Kostenreduktionen spielen aber noch in einem weiteren Bereich eine Rolle: § 93 Abs 2 ASGG führt in der Fassung ab 1.1.2012* aus, dass zur Begleichung der Gerichtskosten (ausgenommen sind der Aufwand für Personal und Infrastruktur) dem Bund vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger für das jeweilige laufende Jahr durch Zahlung an das BM für Justiz zu ersetzen sind. Jährlich ist am 1.4. die Hälfte der Vorjahreszahlung und am 1.10. die Hälfte der Vorjahreszahlung unter Berücksichtigung der Differenz zwischen der Vorjahreszahlung und den tatsächlich angefallenen Kosten des Vorjahres zu ersetzen. § 98 Abs 26 ASGG bestimmt in seiner neuen Fassung ab 28.12.2011, dass diese Regelung erstmals im Jahr 2013 auf den Abrechnungszeitraum des Jahres 2012 zur Anwendung kommt. Die aufgrund dieser Bestimmung am 1.4.2013 zu leistende Zahlung beträgt 26,5 Mio €. Auf die im Jahr 2012 zu leistenden Zahlungen ist noch altes Recht anzuwenden. § 98 Abs 2 ASGG in der alten Fassung sah vor, dass der Hauptverband einen jährlichen Pauschalbetrag von insgesamt 41 Mio € zu zahlen hat, wobei dieser jeweils zur Hälfte am 1.4. und am 1.10. fällig ist. Dieser Betrag wird seit 1.7.2006 eingehoben, die tatsächlichen Kosten sind jedoch weit höher, es kann von ca 53 Mio € ausgegangen werden.
Vor diesem Hintergrund ist jedoch damit zu rechnen, dass bei steigender Inanspruchnahme der Sozialgerichte insb von den Sozialversicherungsträgern bzw vom Hauptverband nach neuen Möglichkeiten für Einsparungen gesucht wird. Daher besteht die Gefahr, dass sich vor allem in der Frage, ob beim Sozialgericht Gerichtsgebühren eingehoben werden sollen, eine „unheilige Allianz“ von SV und Justiz bildet, die sich für Gerichtsgebühren einsetzen wird. Gerichtsgebühren können aber, wenn sie eine bestimmte Höhe erreichen, vor allem sozial schwächere Parteien von einer (erfolgreichen) Prozessführung abhalten und den Pensionszugang durch eine finanzielle Barriere erschweren.
Etwa gegen die Hälfte aller ablehnenden Bescheide wird Klage beim zuständigen Arbeits- und Sozialgericht eingebracht. Dies kann von den PensionswerberInnen vor allem in Hinblick darauf, dass das Verfahren in der ersten Instanz für sie mit keinem Kostenrisiko verbunden ist, derzeit ohne finanzielles Risiko unternommen werden. § 77 ASGG regelt die Kostenersatzansprüche von Versicherten gegen den Versicherungsträger dahingehend, dass der Versicherungsträger die Kosten, die ihm durch das Verfahren erwachsen sind, ohne Rücksicht auf dessen Ausgang selbst zu tragen hat. Darüber hinaus hat die/der Versicherte gegenüber dem Versicherungsträger Anspruch auf Ersatz aller sonstigen durch die Prozessführung verursachten, zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Verfahrenskosten.
Das im § 142 ZPO vorgesehene Instrumentarium der Kostenseparation wird in der Praxis nur in Ausnahmefällen praktiziert und spielt daher für die Frage der finanziellen Belastung der Kl vor Gericht keine Rolle. Die Kostenseparation kann dann ausgesprochen werden, wenn eine der Prozessparteien Anlass zur Verlängerung einer Frist oder zur Erstreckung einer Tagsatzung gegeben hat und dem/der ProzessgegnerIn dadurch Kosten entstanden sind. In der Praxis ist diese Vorgangsweise im sozialgerichtlichen Verfahren dann denkbar, wenn Kl die Einholung eines (weiteren) Sachverständigengutachtens beantragt haben, weil das Ergebnis der bisher eingeholten Gutachten nicht zufriedenstellend ausgefallen ist. Dem Antrag kann das Gericht mit einer entsprechenden Begründung, die auch Eingang in das Urteil finden wird, nicht stattgeben, es kann aber auch mit Hinweis auf die Kostenseparation dem Antrag der/des Kl Folge leisten und das beantragte Gutachten einholen.
Der Entwurf des BBG 2011 sieht im Kapitel Justiz einige Änderungen vor, die massive Auswirkungen auf den freien Zugang zum sozialgerichtlichen Verfahren gehabt hätten. Ua war der Entfall jenes Grundsatzes vorgesehen, der seit jeher einen für Kl erleichterten120 Zugang zu den Gerichten vorgesehen hat, nämlich die Möglichkeit, die Klage bei Gericht zu Protokoll geben zu können. Begründet wurde dieser Novellierungsvorschlag in erster Linie damit, dass aufgrund der angespannten Personalsituation diese zeitaufwändige Aufgabe von den RichterInnen nicht mehr bewerkstelligt werden könne. Darüber hinaus sei zu bedenken, so wird in den Materialien ausgeführt, dass der/die RichterIn nicht Rechtsfreund einer Partei werden darf, erwarte doch der/die Kl bei Anbringen der Klage bei Gericht eine für ihn/sie vorteilhafte Beratung in der zukünftigen Streitsache. Es gäbe zudem ausreichende Alternativen, wie eine Klage bei Gericht eingebracht werden könne, zB mit Hilfe der Interessenvertretungen und der RechtsanwältInnen. Auf Grund dieses umfangreichen Angebots seien Defizite im Rechtsschutz nicht zu befürchten.
Erfreulicherweise fanden diese Überlegungen letztlich keinen Eingang in die Rechtsordnung. Gerichtstage bieten Beratung durch Rechtskundige und Hilfestellung bei der Klage an. In manchen Fällen können dadurch Klagen verhindert werden. Es ist Sache der Gerichte, ihre Gerichtstage für diesen Zweck zu nutzen. Das sozialgerichtliche Verfahren sieht somit auch weiterhin gem § 39 Abs 2 Z 1 ASGG in erster Instanz die Manuduktionspflicht der RichterInnen vor: „... der Vorsitzende hat die Parteien über die bei derartigen Arbeits- und Sozialrechtssachen in Betracht kommenden besonderen Vorbringen und Beweisanbietungen zu belehren, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung (Rechtsverteidigung) dienen können, und sie zur Vornahme der sich anbietenden derartigen Prozesshandlungen anzuleiten...
“. Mit dieser Regelung wird somit auch in Zukunft dem Umstand Rechnung getragen, dass es gerade rechtsunkundigen Personen ermöglicht werden soll, ihre Ansprüche gegenüber dem Versicherungsträger ohne Hürden geltend zu machen.
Nach dem Sozialbericht 2011–2012 des BMASK gingen 2011 26,9 % der Männer aus dem Bezug von Krankengeld in die IP, 43,1 % erhielten unmittelbar vor ihrem Pensionsantritt Leistungen aus der AlV und lediglich 26,4 % sind von einer Pflichtversicherung (inkl Altersteilzeit) direkt in die Pension übergetreten. Im Vergleich dazu gingen bei Alterspensionen fast 70 % der Männer direkt aus der Pflichtversicherung in die Pension. Bei Frauen bezogen 32,6 % vor Antritt einer IP Krankengeld. 38,6 % erhielten Leistungen der AlV und 21 % kamen aus der Pflichtversicherung (inkl Altersteilzeit). Ähnlich wie bei Männern gingen Frauen zu zwei Drittel aus einem aufrechten Dienstverhältnis in die Alterspension.
Aus dem Bericht geht hervor, dass 25,3 % aller männlichen und 22,2 % aller weiblichen InvaliditätspensionsbezieherInnen aus der Langzeitarbeitslosigkeit (Notstandshilfe) kommen. Diese Personen müssen – zumeist nach mehreren Versuchen, die Pension zu erhalten – im Durchschnitt fünf Jahre warten (Alter bei letzter Erwerbstätigkeit bis zum Alter beim Pensionsbeginn), bis sie endlich die IP bekommen.
Hinsichtlich der medizinischen Ursachen für Invalidität stellt eine vom BMASK durchgeführte Untersuchung* fest, dass im Jahr 2011 Neuzuerkennungen von Invaliditätspensionen in 31 % aller Fälle wegen Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes, in 32,1 % wegen psychiatrischer Erkrankungen, in 10,6 % wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und in 8,5 % wegen Krebs ausgesprochen wurden. Während bei Frauen psychiatrische Erkrankungen mit einem Anteil von 42,8 % Spitzenreiter waren, lag bei Männern mit 34,4 % die Zuerkennung einer Pension wegen Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes an erster Stelle.
Der Vergleich über den Zeitraum von 1995 bis 2011 lässt eine exorbitante Steigerung im Bereich der psychiatrischen Erkrankungen erkennen. Ihr Anteil hat um 22 %-Punkte zugenommen, wobei bei Frauen eine Steigerung von 29 %-Punkten zu beobachten ist. Die Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben indes im Beobachtungszeitraum anteilsmäßig um 3,9 %-Punkte abgenommen, der Anteil an Krebserkrankungen hat leicht zugenommen, während Erkrankungen der Muskeln, des Skeletts und des Bindegewebes stark zurückgegangen sind (16,2 %-Punkte).
Aus den Daten sticht besonders hervor, dass der überwiegende Teil der PensionswerberInnen zum Zeitpunkt der Antragstellung in keinem Beschäftigungsverhältnis steht, stattdessen Leistungen aus der AlV bezieht und/oder massive gesundheitliche Probleme hat, die seit einigen Jahren eben verstärkt durch psychische Erkrankungen verursacht werden.
Nachweislich besteht ein enger Zusammenhang zwischen Krankheit und nachfolgender Arbeitslosigkeit, jedoch auch umgekehrt zwischen Arbeitslosigkeit und späterer psychischer Erkrankung.* Viele Invaliden haben schon geraume Zeit vor dem Eintritt in die Pension aus gesundheitlichen Gründen mit Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt zu kämpfen.* Oft werden die Gesundheitsprobleme durch die Arbeitslosigkeit noch verstärkt. Zwar stellen behinderte Personen in jedem Land auf dem Arbeitsmarkt eine Problemgruppe dar, weisen aber in Österreich im OECD-Vergleich eine besonders niedrige Beschäftigungs- bzw umgekehrt eine besonders hohe Arbeitslosenquote in Relation zur Gesamtbevölkerung im erwerbsfähigen Alter auf.*
Eine Analyse der Beschäftigungssituation von Personen in der Altersgruppe 50 bis 59 zeigt, dass bei121 männlichen Arbeitern die Zahl der Beschäftigten um die Hälfte (bei Angestellten um 25 %) sinkt. Einer Studie von AMS und WIFO* ist zu entnehmen, dass Österreich einen unter 10 % liegenden Anteil von beschäftigten Personen mit andauernder gesundheitlicher Beeinträchtigung aufweist (Finnland 27 %, Schweden über 20 %). Zu denken geben sollte, dass die Wahrscheinlichkeit, in Österreich mit gesundheitlichen Einschränkungen mehr als zwei Jahre beschäftigt zu sein, bei 50 % (in Nordeuropa 85 %, in Deutschland, Holland und der Schweiz bei 75 %)* liegt.
Diese Kausalitäten, oft auch die Koinzidenz der beiden sozialen Risiken, erfordern ohne Zweifel einen multidimensionalen präventiven Ansatz. Nicht zuletzt auch aus finanziellen (Kosten-Nutzen-)Erwägungen ist die Primär- und Tertiärprävention zu forcieren,* zugleich sind aber gegen die geringen Beschäftigungschancen kranker Menschen wirksame Rezepte (bis hin zu einem flexiblen Wiedereinstieg in den Beruf) zu entwickeln. Insb bei Jüngeren (rund ein Drittel der Invaliditätspensionen entfallen auf unter 50-Jährige, davon geht mehr als die Hälfte auf psychische Erkrankungen zurück; 85 % der Pensionen sind befristet) werden Prävention (ua AN-Schutz* und „gesunde Arbeitswege“, Betriebliche Gesundheitsförderung) und medizinische und berufliche Rehabilitation bald auf fruchtbaren Boden fallen.
Krankenstände sind ein wichtiges Warnsignal (Vorlaufindikator) für ein erhöhtes Invaliditätsrisiko. Bei sehr langen Krankenständen (200 Tage) in den letzten acht Jahren vor der Pension steigt die Wahrscheinlichkeit einer Invalidisierung um 30 bis 40 %, bei psychischen Erkrankungen ist das Invaliditätsrisiko sogar drei Mal so hoch wie bei der Referenzgruppe (ohne langen Krankenständen).* Gesundheitspolitisch ist ohne Zweifel hier der Hebel anzusetzen, zumal durch einen etwaigen krankheitsbedingten Verlust des Arbeitsplatzes die subjektive Belastungssituation noch weiter verschärft wird.*
Bezüglich der Präventionsausgaben in Prozent der öffentlichen Gesundheitsausgaben ist Österreich mit 1,9 % im europäischen Vergleich nur „Nachzügler“. Kein Wunder also, dass die Gesundheitserwartung (Jahre in guter Gesundheit) in Österreich vergleichsweise niedrig ist. Je geringer die Prävalenz von Erkrankungen insb in jungen Jahren ist, desto geringer sind auch die Folgekosten von Krankheit und Invalidität und letztlich auch die Zahl der Pensionsverfahren. Eine solche Strategie führt bei einer geringeren Zahl an Pensionsanträgen und in weiterer Folge auch zu weniger Klagen. Im nächs ten Kapitel wird daher untersucht, welche Handlungsmöglichkeiten vorliegen, diese beiden Zielsetzungen im pensionsrechtlichen Verfahren zu erreichen.
Im Vordergrund der Analyse steht das pensionsrechtliche Invaliditätsverfahren im Bereich des ASVG. Bei diesen Leistungen (Invaliditätspensionen bei ArbeiterInnen, Berufsunfähigkeitspensionen für Angestellte, im Folgenden: IP) orientiert sich der Gesetzgeber an einem berufsständischen System, das aber auch innerhalb der Berufsgruppe der Unselbständigen nach beruflicher Qualifikation stratifiziert ist. Im Bereich der PV der ArbeiterInnen wird FacharbeiterInnen Berufsschutz gewährt, während HilfsarbeiterInnen der allgemeine Arbeitsmarkt als Verweisungsfeld offen steht. Im Bereich der PV der Angestellten ist eine Verweisung überhaupt nur innerhalb jener Grenzen möglich, die noch keinen unzumutbaren sozialen Abstieg bedeuten. Ausgangspunkt ist dabei die bisherige kollektivvertraglichen Einstufung; zulässig ist eine Verweisung auf Tätigkeiten, die maximal eine Kollektivvertragsstufe unter der zuletzt ausgeübten Beschäftigung liegen. Eine Querverweisung auf unqualifizierte Tätigkeiten scheidet bei qualifizierten ArbeiterInnen ebenso aus wie die Verweisung von Angestellten auf Tätigkeiten außerhalb ihres bisherigen Berufsfeldes. Ein erleichterter Zugang zu einer Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit ist für Personen ab dem 57. Lebensjahr vorgesehen. Dieser ab diesem Alter zum Tragen kommende Tätigkeitsschutz ist vor allem für jene Personen von großer Bedeutung, die keinen Berufsschutz haben, weil mit Erreichen dieses Alters eine Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist. Dieser begünstigte Zugang zur Pension im Bereich der geminderten Arbeitsfähigkeit wird jedoch im 2. Stabilitätsgesetz 2012 bis zum Jahr 2017 auf das 60. Lebensjahr erhöht.
Was in der nachstehenden Übersicht auffällt, ist die gemessen an den Zuerkennungen hohe Zahl an Pensionsneuanträgen. Die Zuerkennungsquote liegt bei 35 %.* (Um die Gesamtzahl der Zuerkennungen pro Jahr zu erhalten, müssen noch 23.619 Weitergewährungsanträge dazugezählt werden, bei denen die Zuerkennungsquote bei 85 % liegt.)
IP/BUP: Anträge und Klagen (PVA 2011)
Anträge | davon Zuerkennungen absolut | in Prozent der Anträge |
66.934 | 23.325 | 35 % |
Klagen | davon positiv für Versicherte | in Prozent der Klagen |
24.067 | 4.995 | 21 % |
Eine entscheidende Ursache dieser Diskrepanz ist wohl darin zu sehen, dass für viele arbeitslose und122 kranke Menschen die IP in Ermangelung von realen Alternativen zum Fluchtpunkt ihrer künftigen Lebensplanung wird. In dieser Haltung werden sie zumeist noch von Beratungsorganisationen, Krankenkassen, AMS und ÄrztInnen bestärkt. Diesen „Pensionsneurosen“ entgegen zu wirken und dennoch jenen, deren Arbeitskraft nicht zur Gänze unverwertbar geworden ist, medizinische und nicht zuletzt berufliche Perspektiven anzubieten und am erfolgreichen Ende schließlich auch einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen, das ist mit Sicherheit eine der neuen sozialpolitischen Herausforderungen unserer Zeit.
Vor diesem Hintergrund wurde mit der „Gesundheitsstraße“ von Pensionsversicherungsanstalt (PVA) und AMS ein durchaus wirksames Steuerungsinstrument geschaffen, das in Verbindung mit der Neuregelung des Pensionsvorschusses im Jahr 2011 zu einer signifikanten Dezimierung von Anträgen gegenüber 2010 (bis 2500) geführt hat. Auf der Grundlage des SRÄG 2012 wird ab 1.1.2014 in Fortführung dieses Projekts für arbeitslose Personen ein Kompetenzzentrum Begutachtung in der PVA eingerichtet. Der Wert dieser gemeinsamen Begutachtungsstellen von PVA und AMS besteht darin, den gesundheitlichen Status von Arbeitslosen in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit nach § 8 AlVG festzustellen.* Dort erhalten sie dezidiert Klarheit darüber, ob Arbeitsunfähigkeit (Invalidität) vorliegt. Die Feststellung der Arbeitsfähigkeit hält zunehmend mehr Versicherte davon ab, einen Pensionsantrag zu stellen und sich einem langwierigen, letztlich doch erfolglosen Pensionsverfahren zu unterziehen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die weitere Betreuung von (zumeist unqualifizierten) Personen, die zwar gesundheitlich beeinträchtigt, aber noch nicht invalid sind.
Um Ähnliches geht es auch in den folgenden Überlegungen zu einer Verminderung der Zahl der Klagen beim ASG. Das wäre durchaus möglich, wenn Versicherte und BeraterInnen anhand des Pensionsbescheides die Erfolgsaussichten von Klagen besser beurteilen könnten als heute. Zu diesem Zweck sind auch innovative Modelle der Interaktion zwischen Versicherungsträgern und Versicherten zu entwickeln. Im Unterschied zum deutschen SGB* enthalten die österreichischen Sozialversicherungsgesetze keine elaborierten Aufklärungsund Informationspflichten der Versicherungsträger.
Ob aber der Schritt zur Klage gegen abweisende Pensionsbescheide letztlich aussichtsreich ist, dh ob die wesentlichen Entscheidungsgrundlagen vom Versicherungsträger ausreichend berücksichtigt wurden, kann infolge der derzeitigen Ausgestaltung der Bescheide der PVA im Vorhinein nicht ausreichend beurteilt werden. Selbst die in der AK von PensionsexpertInnen angebotene Beratung steht oftmals vor dem Problem, Ratsuchenden keine eindeutige Auskunft darüber geben zu können, ob die Einbringung einer Klage gegen einen negativen Bescheid der PVA sinnvoll ist oder nicht.
Es besteht offenbar das Problem, dass der Bescheid in der derzeitigen Form lediglich den Gesetzestext und medizinische Diagnosen wiedergibt. Allenfalls wird darin noch mitgeteilt, dass Berufsschutz besteht bzw von welcher Tätigkeit bei der Verweisung von Angestellten ausgegangen wird. Wurde noch kein Verfahren vor dem ASG geführt, anhand dessen aufgrund bereits vorliegender gerichtlicher Gutachten etwas genauere Aussagen über den etwaigen Ausgang eines neuerlichen Verfahrens gemacht werden können, wird man von der Klage kaum abraten können.
So landen in Österreich rund 25.000 Klagen auf dem Richtertisch, um das Vorliegen einer Invalidität bzw Berufsunfähigkeit iSd ASVG zu überprüfen. Die Anzahl der Gerichtsverfahren hat über die Jahre eine steigende Tendenz.* Waren es im Jahr 2004 21.884 Verfahren österreichweit, so wurden im Jahr 2010 25.068 Verfahren geführt. Allein in Wien ist die Zahl der Verfahren von 7.106 im Jahr 2004 auf 10.482 im Jahr 2010 gestiegen.* Besonders im ASG Wien sind Abweisungen von Klagen (für Invaliditätspensionen) in den Jahren 2004 bis 2010 stark gestiegen. Wurden 2004 lediglich 10.895 Verfahren für Kl negativ beendet, waren es im Jahr 2010 bereits 18.311!
Auch wenn in Sozialrechtsverfahren vor dem ASG für Kl keine Kosten entstehen, stellen diese Verfahren doch eine erhebliche psychische Belastung dar, zumal sie regelmäßig große Hoffnungen erwecken, die jedoch zu einem Großteil am Ende des Verfahrens enttäuscht werden. Daher sollten unnötige Verfahren unterlassen werden. Ein sinnvoller Zugang dazu wäre, die Beratung bezüglich einer Klage insofern zu erleichtern, als schon im Bescheid präzise Aussagen zu treffen sind, welches medizinische Leistungskalkül (Restleistungsfähigkeit) PensionswerberInnen aufweisen. Absolut unverzichtbar ist in diesem Zusammenhang eine ausführliche Begründung abweisender Bescheide des Pensionsversicherungsträgers. Aus einem diagnosebezogenen Leistungskalkül muss hervorgehen, welche medizinischen Probleme zum Ausschluss welcher körperlichen Belastungen führen. Vielfach fehlen in den Bescheiden auch Angaben über den Berufsschutz. Es sollten daher nicht nur Aussagen darüber aufgenommen werden, ob Berufsschutz besteht, sondern auch darüber, welcher Beruf in welcher Qualifikation im Beobachtungszeitraum tatsächlich ausgeübt worden ist.
Im Bereich der Angestelltenversicherung wäre es notwendig, detaillierte Angaben über die der Entscheidung zugrunde gelegten kollektivvertraglichen Einstufung zu machen. Wird vom/von der Versicherten im Antragsformular behauptet, er/sie habe einen Beruf angelernt, sollte die PVA im Bescheid festhalten,123 welche Erhebungen zur Feststellung der Anlernung unternommen worden sind (zB ob Rücksprache mit dem Betrieb des Versicherten gehalten oder Einsicht in Dienstzeugnisse und Arbeitsbestätigungen genommen wurde). Hat der/die Versicherte einen Beruf im Ausland erlernt, sollte geprüft werden, ob in Österreich ein Gleichhaltungsbescheid existiert bzw gegebenenfalls im Bescheid darauf hingewiesen werde, dass eine solche Möglichkeit besteht. Dies würde in einem anschließenden gerichtlichen Verfahren insofern Zeit sparen, als der/die Versicherte gleichzeitig mit der Einbringung der Klage auch schon im zuständigen Ministerium einen Antrag auf Prüfung einer Gleichhaltung stellen könnte.
In Deutschland ist das trägerinterne Widerspruchsverfahren gegen ablehnende Bescheide eines Rentenversicherungsträgers ein wichtiger Bestandteil des Rentenverfahrens.* Bekommt der/die AntragstellerIn einen negativen Bescheid, erhält er/sie zugleich auch die Möglichkeit, direkt beim Versicherungsträger einen Widerspruch zu deponieren, in welchem er/sie zB nochmals untersucht wird. Danach hat eine im Rahmen der Selbstverwaltung eingerichtete Widerspruchsstelle neuerlich zu entscheiden. Erst danach erhält der/die Versicherte einen klagsfähigen Bescheid. Die deutsche Praxis zeigt, dass sich dadurch rund ein Drittel der Verfahren vor einem ordentlichen Gericht erübrigt. In etwas abgewandelter Form ist diese Prozedur auch in Österreich beispielsweise im Bereich des Behinderteneinstellungsgesetzes bekannt. Im Rahmen der Prüfung der Zugehörigkeit zum Kreis der nach diesem Gesetz begünstigten Behinderten wird AntragstellerInnen bereits vor Erlassung eines Bescheides das Zwischenergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens mitgeteilt und ihnen hierauf die Möglichkeit zur Stellungnahme eröffnet. Eine ähnliche Konstruktion ist übrigens zur Überprüfung der Kontoerstgutschrift ab dem 1.1.2014 geplant.*
§ 366 Abs 4 ASVG idF des SRÄG 2012 bestimmt, dass der Pensionsversicherungsträger zur Klärung der Frage, ob berufliche Maßnahmen der Rehabilitation zumutbar sind, unter persönlicher Mitwirkung der antragstellenden Person eine berufskundliche Begutachtung durchzuführen und diese zu den Feststellungen anzuhören hat. Obwohl diese Rechtspflicht des Versicherungsträgers nur auf die berufliche Rehabilitation eingeschränkt ist, erfährt die antragstellende Partei dadurch insofern eine positionelle Verbesserung, als sie Gelegenheit bekommt, ihre Interessen darlegen zu können, die eine Entscheidung positiv beeinflussen können. Dadurch könnten zahlreiche Klagen verhindert werden, zumal der/die AntragstellerIn seine/ihre ihm/ihr wesentlich erscheinenden Argumente nach dem Ermittlungsverfahren des Versicherungsträgers, aber noch vor Erlassung des Bescheides, vorbringen kann. In Wahrheit stellt sich die viel grundsätzlichere Frage, warum § 45 Abs 3 AVG im Anstaltsverfahren nicht allgemein zur Anwendung kommen soll. Derzeit fehlt dieses Parteienrecht in § 357 ASVG. Der Vorschlag versteht sich komplementär zum Widerspruchsverfahren. Die Verletzung des Anhörungsrechts von Parteien kann allerdings unter dem Regime der sukzessiven Kompetenz keinen Rechtsmittelgrund generieren.
Nach § 357 ASVG sind große Teile des AVG in Anstaltsverfahren nicht anzuwenden, darunter auch § 45 AVG, weil es sich nach gängiger Argumentation um „Massenverfahren“ handelt. Berücksichtigt man jedoch, um welche Streitwerte es sich in Pensionsverfahren handelt, verwundert diese Einstufung als „Störung“ eines zügigen Verfahrensablaufs doch einigermaßen. An dieser Stelle wird daher die Übernahme des gesamten AVG in das pensionsrechtliche Verfahren zur Diskussion gestellt.
Zu überlegen ist auch, die Sach- und Rechtslage mit dem/der Kl im Rahmen einer „vorbereitenden Tagsatzung“ gem § 239 ZPO iVm § 440 ZPO zu erörtern und das Prozessprogramm festzulegen. Dort könnte vorweg festgelegt werden, welche Untersuchungen notwendig und sinnvoll sind. Haben bereits mehrere Verfahren in derselben Angelegenheit stattgefunden, könnte abgehandelt werden, ob und in welchem Umfang sich der Gesundheitszustand gegenüber dem letzten Verfahren verändert hat, um unnötige Untersuchungen zu vermeiden.
Darüber hinaus hätte das Gericht auch die Sicherheit, alle aktuellen gesundheitlichen Probleme erfasst zu haben und nicht in der ersten mündlichen Verhandlung mit Befunden konfrontiert zu werden, die eine Untersuchung durch eine/n neue/n Sachverständige/n erforderlich macht, weil Kl anhand der übermittelten Gutachten den negativen Ausgang des Verfahrens erkennen können und rasch noch andere nicht im Vordergrund stehende gesundheitliche Probleme in die Verhandlung einbringen wollen. Sinnvollerweise könnte in dieser vorbereitenden Tagsatzung auch gleich ein behaupteter Berufsschutz thematisiert bzw das Vorliegen eines Gleichhaltungsbescheides geprüft werden. Die derzeit sehr oft zu beobachtende Praxis, dass in jedem Fall zuerst eine Qualifikationsprüfung durchgeführt wird, ist überflüssig.
Das SRÄG 2012* sieht für bestimmte Versicherte (sogenannte Berufsschutzfälle), die zwar invalid sind, denen aber noch Maßnahmen der beruflichen Rehabi124litation zumutbar sind, die Gewährung eines Umschulungsgeldes durch das AMS vor. Aus politischen Gründen wird die Vollziehung der beruflichen Rehabilitation in der PV zwischen PVA und AMS gleichsam geteilt. Folgt man dem Gesetzestext, so hat die PVA die Aufgabe, auf der Grundlage der Ergebnisse des Kompetenzzentrums Begutachtung die berufliche Rehabilitationsfähigkeit festzustellen und sodann ein Berufsbild aus den noch in Betracht kommenden zumutbaren Rehabilitationsberufen zu bestimmen. Das AMS hat den konkreten Rehabilitationsberuf festzulegen und während der Dauer der Maßnahme Umschulungsgeld zu zahlen.
Aus dieser neuen (abgestuften) Arbeitsteilung können sich erhebliche Rechtsschutzprobleme ergeben. Sie rühren daher, dass im pensionsrechtlichen Verfahren der Rechtsweg bekanntlich zu den Sozialgerichten führt, während bei Vorliegen eines Bescheides des AMS das Verfahren der AlV (ab 1.1.2014: Verwaltungsgerichtsbarkeit) zur Anwendung kommen würde. Dieser Verfahrenswechsel hat erhebliche Auswirkungen auf den Rechtsschutz: Erhebt nämlich ein/e PensionswerberIn, dem/der von der PVA mit Bescheid mitgeteilt wurde, dass ihm/ihr keine Pension gebührt, weil eine Maßnahme der beruflichen Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar ist (§ 254 Abs 1 ASVG neu), eine Klage beim ASG, so muss er/sie sich jedenfalls in die berufliche Rehabilitation einlassen, will er/sie nicht auf das Umschulungsgeld verzichten. Eine aufschiebende Wirkung hat die Klage nicht, der Pensionsvorschuss (§ 23 AlVG) steht ihm/ihr nur drei Monate zu, danach muss er/sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Es kann also passieren, dass Versicherte bis zum OGH ihre Rehabilitationsfähigkeit dem Grunde nach und bezüglich des von der PVA festgestellten Berufsfeldes bestreiten und von diesem schließlich sogar Recht bekommen, bereits die berufliche Rehabilitation begonnen und möglicherweise sogar abgeschlossen haben, zu der sie eigentlich rechtlich gar niemals verpflichtet waren – eine Situation, die sich daraus ergeben kann, dass die Berechtigung zur Leistung nicht „von einer Hand“, sondern von zwei Behörden beurteilt wird.
Eine weitere negative Konsequenz der Neuregelung könnte eintreten, wenn sich Betroffene in Zukunft an Verwaltungsgerichte wenden, weil sie mit dem konkreten Rehabilitationsberuf nicht einverstanden sind. Es ist zu befürchten, dass der VwGH eine eigene Judikatur zur Frage des konkreten beruflichen Rehabilitationsfeldes entwickeln wird, die jener des OGH widerspricht. Beide Probleme könnten durch die Anerkennung des Umschulungsgeldes als Sozialrechtssache nach dem ASGG gelöst werden. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass der Rehabilitationsberuf im Rahmen einer Berufsfindung weiterhin von der PVA bestimmt wird; in diesen Fällen muss zwingend eine Expertise des AMS über die Vermittelbarkeit vorliegen. AMS-Verfahren würden dann de facto kaum mehr stattfinden. Verfahrensrechtlich problematisch ist die Bindung des AMS an Bescheide der PVA in § 39b AlVG; eine solche Wirkung ist für Gerichtsentscheidungen im Gesetz nicht vorgesehen.
Im Jahr 2011 wurden allein in der PVA 100.000 Anträge auf Pensionen aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit gezählt (davon rund ein Viertel Anträge auf Weitergewährung von befristeten Pensionen). Im gleichen Jahr wurden 99.000 Gutachten erstellt. Rechnet man noch die Gutachten der Sonderversicherungsträger und rund 80.000 Gutachten der Sozialgerichte dazu (also rund drei Gutachten pro Klage!), sind es insgesamt 200.000 Gutachten, die für Zwecke der Neuzuerkennung oder Weitergewährung von IP erstellt wurden.
Jedes davon kann von existenzieller Bedeutung für LeistungsweberInnen sein. Umso notwendiger ist es daher, die Begutachtungsqualität zu verbessern und zu erhalten. Eine hohe Qualität ist einerseits durch Aus- und Weiterbildung (Strukturqualität) und andererseits durch Befolgung von Begutachtungsstandards auf beiden Ebenen des pensionsrechtlichen Verfahrens (Anstaltsverfahren, Sozialgerichtsverfahren) zu erreichen (Prozessqualität). Im SRÄG 2012 wird die Begutachtung in der PVA erstmals gesetzlich geregelt. Der neue § 307g ASVG sieht ua die Einrichtung eines Kompetenzzentrums Begutachtung in der PVA und eine gemeinsame Begutachtungsakademie (in der Rechtsform eines gemeinnützigen Vereins) der Versicherungsträger vor. Im Mittelpunkt stehen jedoch Begutachtungsstandards der medizinischen Fachgesellschaften, die der PVA bis Ende 2013 zur Verfügung gestellt und von dieser publiziert werden müssen.
Die Beachtung der Standards der medizinischen Fachgesellschaften ist in § 307g Abs 2 ASVG verankert. Die rechtliche Verpflichtung der PVA zur Beachtung der Standards sollte mehr als die von der Lehre und Rsp fachgesellschaftlichen Konsenspapiere oder Behandlungsleitlinien im Beweisverfahren üblicherweise zugeordnete Indizwirkung der fachlichen Richtigkeit sein, die sich aus der berufsrechtlichen Verpflichtung zu einer Berufsausübung „state of the art“ ergibt. Da sich die Bestimmung explizit an die PVA wendet, soll damit offenbar eine Haftung der PVA begründet werden. Diese Verpflichtung könnte mit noch schwerwiegenderen Rechtsfolgen versehen werden, etwa nach dem Vorbild des AIDS-Gesetzes oder des Gesundheitsqualitäts-Gesetzes, dessen Nichtbefolgung Verwaltungsstrafen nach sich zieht. Auf der Ebene der PVA entwickelte Begutachtungsstandards werden mittelbar über die Indizwirkung der Richtigkeit auch im sozialgerichtlichen Verfahren Anwendung finden.*
Die von den medizinischen Fachgesellschaften geforderten Standards betreffen vor allem die materiellen Standards. Zu fragen ist: Womit wird gemessen (Indikator) und welche Messwerte schließen die Leistungsfähigkeit aus oder verringern sie so signifikant, dass (bestimmte) Tätigkeiten nicht mehr ausgeübt werden können. Die formalen Standards (Minimalerfordernisse eines Gutachtens) sind insb bei der psychiatrischen Begutachtung von Bedeutung. Methodische Schwierigkeiten bereitet die Messung im Bereich der psychischen Erkrankungen. Um die Streuung der Ergebnisse möglichst gering zu halten, sollte der Begutachtung ein Leitfaden zur psychiatrischen Begutachtung zu Grunde liegen. Darin ist indi125kationsspezifisch auch die Begutachtungsmethode zu standardisieren. Es ist zu prüfen, ob und in welcher Weise – von der jeweiligen Diagnose ausgehend – psychometrische Verfahren herangezogen werden (müssen), um psychiatrische Sachverständige bei der Bestimmung der Leistungsfähigkeit zu unterstützen. Ohne diese Fragen einer Lösung zugeführt zu haben, wird die Begutachtung auch in Zukunft mangelhaft bleiben. GutachterInnen, die wiederholt gegen Standards verstoßen, sind – um eine präventive Wirkung zu erzeugen – von der Sachverständigenliste zu streichen. Ein entsprechendes meldepflichtiges Register ist anzulegen. Alle GutachterInnen im Anstaltsverfahren (also auch externe GutachterInnen der PVA) sollen ihre Tätigkeit erst aufnehmen können, wenn sie die Lehrgänge der Akademie absolviert haben. Das sollte auch für die Sachverständigen der Sozialgerichte gelten.
Im Kompetenzzentrum Begutachtung sollen erstmals auch berufskundliche GutachterInnen tätig werden. Das Gesetz sieht jedoch diesbezüglich keine Begutachtungsstandards vor. Ursprünglich war eine RL des Hauptverbandes geplant. Probleme ergeben sich vor allem durch das Fehlen einer bundesweit einheitlichen Nomenklatur (zB „schwer“, „mittelschwer“, „besonderer Zeitdruck“). Da die Restleistungsfähigkeit von medizinischen GutachterInnen erhoben wird und fachlich nur diese solche Aussagen darüber treffen können, ist diese Nomenklatur von ÄrztInnen zu implementieren und von BerufskundlerInnen zu übernehmen. Darüber hinaus ist sicherzustellen, dass berufskundliche GutachterInnen tunlichst einheitliche Vorstellungen über die Anforderungsprofile der einzelnen Verweisungsberufe haben.
Die in diesem Beitrag aufgenommenen Vorschläge zu Reformen im pensionsrechtlichen Verfahren begründen sich nicht zuletzt auch aus Erkenntnissen, die aus dem Berateralltag gewonnen wurden. Sie folgen der Überlegung, dass auch kleinere Schritte wie eine ausführliche Begründung von Pensionsbescheiden oder ein Widerspruchsverfahren dazu beitragen würden, dass so manches Verfahren vor dem Arbeits- und Sozialgericht vermieden werden könnte. Es könnte einerseits der Vertretungsaufwand für den Versicherungsträger verringert werden, sodass die Sozialgerichte mehr Zeit für die übrigen Verfahren hätten, andererseits könnten die Versicherten vor mühsamen, aber schon im Vorhinein sinnlosen Verfahren bewahrt werden.