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Keine Härtefallregelung für Angestellte mit Berufsschutz

JASMINPACIC (WIEN)
  1. Genießt eine versicherte Person Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG, kann sich die Frage einer „entsprechenden Geltung“ (§ 273 Abs 3 ASVG) des § 255 Abs 3a und 3b ASVG gar nicht stellen.

  2. Bei Angestellten kann die Verweisungsbeschränkung des § 255 Abs 3a, 3b ASVG (Härtefallregelung) nur dann bedeutsam werden, wenn die Voraussetzungen des § 273 Abs 1 ASVG gerade nicht vorliegen.

Der am 10.6.1958 geborene Kl war zuletzt von April 1982 bis Juni 2007 als Kundendiensttechniker bei H im Außendienst in ganz Österreich tätig. Er war in die Verwendungsgruppe 4 des KollV für Handelsangestellte eingestuft. Zu seinen Hauptaufgaben zählte die Installation von Hardware und Betriebssoftware im Server- und Storage-Bereich. Er installierte Großrechner bei Unternehmen, hatte die Kunden einzuschulen und die Wartungen der Produkte durchzuführen. Er war für die Reparatur und Behebung von Störungen der Hardware, der Software und des Betriebssystems zuständig. Als Accounttechniker war er für die ihm zugeteilten Kunden verantwortlich. Für die schwere manuelle Arbeit wurden Helfer zum Einsatz gebracht. Aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen ist der Kl nur noch in der Lage, leichte Arbeiten in vorwiegend sitzender Position zu verrichten. [...] Auf Basis seines medizinischen und psychologischen Leistungskalküls kann der Kl die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Kundendiensttechniker nicht mehr verrichten; ebenso nicht eine andere Außendiensttätigkeit. Es sind ihm jedoch noch Tätigkeiten der Verwendungs-/Beschäftigungsgruppe III/3 im Innendienst zumutbar. Nach einigen Monaten innerbetrieblicher Einarbeitung könnte der Kl noch die Tätigkeit eines Operators, eines Datenprüfers, eines Arbeitsvorbereiters oder eines Programmierers verrichten. Arbeitsplätze der genannten Art gibt es in nennenswerter Anzahl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Mit Bescheid vom 30.6.2010 wies die Bekl den Antrag des Kl vom 28.4.2010 auf Gewährung der Berufsunfähigkeitspension ab. Gegen diesen Bescheid erhob der Kl fristgerecht die auf Zuspruch der Berufsunfähigkeitspension ab 1.5.2010 gerichtete Klage. Er brachte vor, sämtliche Voraussetzungen des § 255 Abs 3a und 3b ASVG (der sogenannten Härtefallregelung) zu erfüllen.131

[...] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Rechtlich ging es davon aus, der Kl sei nicht berufsunfähig iSd § 273 Abs 1 ASVG, weil er – ausgehend von seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Angestellter in der Beschäftigungsgruppe 4 – noch Verweisungstätigkeiten der Beschäftigungsgruppe 3 im Bereich der Datenverarbeitung verrichten könne. Die am 1.1.2011 in Kraft getretene, gem § 273 Abs 2 ASVG analog anzuwendende sogenannte Härtefallregelung des § 255 Abs 3a und 3b ASVG komme dem Kl nicht zugute, weil diese nur für Versicherte der untersten Verwendungsgruppen in Frage komme.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. [...] Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil zur Frage des Anwendungsbereichs des § 273 Abs 2 iVm § 255 Abs 3a und 3b ASVG noch keine Rsp des OGH existiere.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist aber nicht berechtigt. Der Revisionswerber macht zusammengefasst geltend, § 273 Abs 2 ASVG besage nach seinem Wortlaut eindeutig, dass § 255 Abs 3a und 3b sowie Abs 4 bis 7 ASVG für Angestellte entsprechend gelte, ohne dass ein Ausschluss einzelner Gruppen von Angestellten normiert werde. Das Wort „entsprechend“ bedeute lediglich, dass die auf Arbeiter ausgelegte Härtefallregelung auf Angestellte „umgelegt“ werden soll. Hinweise dafür, dass die Härtefallregelung lediglich für die untersten Verwendungsgruppen gelten solle, ergäben sich weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus den Gesetzesmaterialien.

Dazu ist auszuführen:

I.1. Da der Kl (unbestritten) zuletzt eine Angestelltentätigkeit iSd § 1 Abs 1 AngG ausgeübt hat, ist der in § 273 Abs 1 ASVG definierte Begriff der Berufsunfähigkeit maßgeblich.

I.2. Zu dem durch den Antrag vom 28.4.2010 ausgelösten Stichtag stand § 273 Abs 1 ASVG idF des 2. SVÄG 2003 BGBl I 2003/145 in Kraft. Es galt der Versicherte als berufsunfähig, dessen Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist.

I.3. Ab 1.1.2011 trat eine Änderung der Rechtslage durch das BudgetbegleitG 2011 BGBl I 2010/111 ein. Nach § 273 Abs 1 ASVG idF des BudgetbegleitG 2011 gilt die versicherte Person als berufsunfähig, deren Arbeitsfähigkeit infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustands auf weniger als die Hälfte derjenigen einer körperlich und geistig gesunden versicherten Person von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit als Angestellte/r oder nach § 255 Abs 1 ausgeübt wurde. [...] Die allgemeinen Verweisungsmöglichkeiten bleiben davon unberührt, dh, dass bei Angestellten bei der Prüfung der Verweisungsmöglichkeiten wie bisher von der zuletzt nicht nur vorübergehend ausgeübten Tätigkeit auszugehen ist (RV 981 BlgNR 24. GP 205). § 273 Abs 2 idF des Budgetbetrag 2011 ordnet an, dass § 255 Abs 3a und 3b sowie Abs 4 bis 7 „entsprechend“ gelten solle. Mit § 273 Abs 2 ASVG wurde somit die mit dem BudgetbegleitG 2011 BGBl I 2010/111 geschaffene sogenannte Härtefallregelung (§ 255 Abs 3a und 3b ASVG) auch für Angestellte eingeführt.

I.4. Durch das am 27.12.2011 kundgemachte SRÄG 2011, BGBl I 2011/122 erfuhr § 273 Abs 2 ASVG (neuerlich) eine Änderung. Diese Bestimmung lautet nun dahin, dass die versicherte Person im Falle des Nichtvorliegens der Voraussetzungen nach Abs 1 auch dann als berufsunfähig gilt, wenn sie infolge ihres körperlichen oder geistigen Zustands nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet und die ihr unter billiger Berücksichtigung der von ihr ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das eine körperlich und geistig gesunde versicherte Person regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Der zuvor in § 273 Abs 2 ASVG (idF des BudgetbegleitG 2011) enthaltene Regelungsinhalt findet sich seit dem SRÄG 2011 gleichlautend in § 273 Abs 3 ASVG. Gemäß der Schlussbestimmung des § 663 Abs 1 Z 3 ASVG idF des SRÄG 2011 traten § 273 Abs 2 und 3 ASVG rückwirkend mit 1.1.2011 in Kraft.

II. Diese Änderungen lassen sich – soweit sie für den vorliegenden Fall von Interesse sind – wie folgt zusammenfassen:

II.1. Zum Begriff der Berufsunfähigkeit:

Nach den Gesetzesmaterialien (RV 1512 BlgNR 24. GP 11) soll mit der Neuregelung des § 273 Abs 2 ASVG im Hinblick darauf, dass der Berufsschutz im Rahmen des BudgetbegleitG 2011 neu geregelt wurde und für ArbeiterInnen und Angestellte grundsätzlich nur noch dann Platz greift, wenn für eine bestimmte Zeit eine qualifizierte Berufstätigkeit ausgeübt wurde, auch für Angestellte im Wege der Verweisung auf den Invaliditätsbegriff nach § 255 Abs 3 ASVG Vorsorge für den Fall getroffen werden, dass die Kriterien für den Berufsschutz nicht erfüllt werden. Es wird somit klargestellt, dass diesfalls die Bestimmungen für Personen, die nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig waren, entsprechend zur Anwendung kommen; Berufsunfähigkeit liegt in diesen Fällen nur dann vor, wenn der Gesundheitszustand der betroffenen Person so beeinträchtigt ist, dass sie keine Tätigkeit mehr ausüben kann, die am Arbeitsmarkt angeboten wird und ihr auch zumutbar ist („weites Verweisungsfeld“).

II.2. Eine weitere Änderung besteht darin, dass die durch das BudgetbegleitG 2011 neu geschaffene und in § 255 Abs 3a und 3b ASVG verankerte sogenannte Härtefallregelung auch für Angestellte entsprechend zur Anwendung gelangen soll.

II.2.1. Nach § 255 Abs 3a ASVG gilt eine versicherte Person auch dann als invalid, wenn sie

  1. das 50. Lebensjahr vollendet hat,

  2. mindestens zwölf Monate unmittelbar vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) als arbeitslos iSd § 12 AlVG gemeldet war,

  3. mindestens 360 Versicherungsmonate, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversi-132cherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, erworben hat und

  4. nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, ausüben kann und zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann.

II.2.2. Unter den Tätigkeiten nach § 255 Abs 3a Z 4 ASVG sind nach der Legaldefinition des § 255 Abs 3b ASVG leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, zu verstehen.

II.2.3. Die Bestimmung des § 255 Abs 3a iVm Abs 3b ASVG trat gemäß der Schlussbestimmung des § 658 Abs 1 ASVG mit 1.1.2011 in Kraft und wird mit Ablauf des 31.12.2015 wieder außer Kraft treten (§ 658 Abs 2 ASVG).

II.2.4. Nach den Gesetzesmaterialien (RV 981 BlgNR 24. GP 205) soll mit dieser neuen Härtefallregelung für stark leistungseingeschränkte ungelernte AN und für bestimmte selbstständig Erwerbstätige (nämlich Bäuerinnen und Bauern), die das 50. Lebensjahr erreicht bzw überschritten, aber das 57. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder die die Voraussetzungen für den besonderen Berufsschutz etwa nach § 255 Abs 4 ASVG nicht erfüllen, ein spezieller Verweisungsschutz die derzeit judizierte weite Verweisung auf dem gesamten Arbeitsmarkt zu einer Verweisbarkeit in einem engen Segment einschränken und so diesen Menschen einen Zugang zu einer Invaliditäts- oder Erwerbsunfähigkeitspension bzw zu einer entsprechenden Rehabilitation öffnen. Ziel der vorgeschlagenen Regelung ist es also, jene Berufsverweisungen, die bisher zu Härtefällen geführt haben, zu vermeiden. Unter Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil sind leichte (körperliche) Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck zu verstehen, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss. Die neue Härtefallregelung wird in der Praxis für Bäuerinnen und Bauern sowie ungelernte ArbeiterInnen, die ein sehr stark medizinisch eingeschränktes Leistungskalkül haben (dh nur mehr leichte Tätigkeiten im Sitzen oder in einem nicht kontinuierlichen Arbeitsablauf ausüben können), relevant werden und soll auf eine sehr kleine Zahl von Härtefällen beschränkt bleiben.

II.2.5. [...] Um den Anpruchsvoraussetzungen der Härtefallregelung zu genügen, darf der Pensionswerber nur mehr in der Lage sein, die in § 255 Abs 3b ASVG umschriebenen Tätigkeiten – und keine anderen – auszuüben (10 ObS 113/11g).

II.2.6. Auf die Berufsgruppe der Angestellten nehmen die Gesetzesmaterialien nicht gesondert Bezug. Ivansits/Weissensteiner (Die Härtefallregelung – Zugangserleichterungen in die Invaliditätspension für Versicherte ab 50, DRdA 2011, 175 ff [176]) führen aus, dass es in den politischen Verhandlungen zwar primär um unqualifizierte AN und um Bauern gegangen sei, die Härtefallregelung jedoch alle versicherten Berufsgruppen erfasse. [...] Die genannten Autoren vertreten die Meinung, der Anwendungsbereich der Härtefallregelung für Angestellte und Versicherte nach dem GSVG sei sehr eng. Da es sich bei Angestellten um eine Berufsgruppenversicherung mit einem breiten Schutz vor Querverweisungen handle, werde bei der Anwendung der Härtefallregelung nach spezifischen Angestelltentätigkeiten gefragt werden müssen, die noch unter „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ fallen. Für Angestellte werde die Härtefallregelung nur für Versicherte der untersten Verwendungsgruppen in Frage kommen. Resch, Sozialrecht5, 119 meint, dass es zwar eine dem § 255 Abs 3a und 3b ASVG entsprechende Bestimmung für Angestellte gebe (§ 273 Abs 2 ASVG), diese Bestimmung aber bedingt durch den ohnedies bestehenden Berufsschutz vermutlich ohne praktische Bedeutung bleiben werde.

III. Für den vorliegenden Fall ergibt sich:

III.1. Die Frage, ob der Kl als berufsunfähig anzusehen ist, ist an Hand der Rechtslage zu dem durch die Antragstellung ausgelösten Stichtag 1.5.2010 zu beurteilen, somit nach § 273 Abs 1 ASVG idF des 2. SVÄG BGBl I 2003/145 (§ 223 Abs 2 ASVG; RIS-Justiz RS0115809 [T1]).

III.2. Infolge der vor Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz im Mai 2011 eingetretenen Gesetzesänderung durch das BudgetbegleitG 2011 ist aber für den Zeitraum ab 1.1.2011 die Frage der Verweisbarkeit auch nach der zum (neuen) Stichtag 1.1.2011 geltenden Rechtslage gem § 273 Abs 2 bzw Abs 3 ASVG (in der nunmehr geltenden Fassung des SRÄG 2011) iVm § 255 Abs 3a und 3b ASVG zu prüfen. [...]

Zu III.1. Dass der Anspruch auf Berufsunfähigkeitspension für den Zeitraum vom Stichtag 1.5.2010 bis 31.12.2010 nicht besteht, entspricht der ständigen Judikatur (RIS-Justiz RS0084956).

Zu III.2. Wenngleich der Kl aufgrund seines medizinischen Leistungskalküls seine der Beschäftigungsgruppe 4 des KollV der Handelsangestellten entsprechende, zuletzt ausgeübte Außendiensttätigkeit nicht mehr verrichten kann, kann er auf Beschäftigungen der Beschäftigungsgruppe III/3 des KollV der Handelsangestellten im Innendienst (Operator, Datenprüfer, Arbeitsvorbereiter oder Programmierer) verwiesen werden, die von Angestellten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten ausgeübt werden (vgl RIS-Justiz RS0084890 [T10]). Dieses Ergebnis zieht der Kl in seiner Revision nicht in Zweifel. [...] Im vorliegenden Fall stellt sich jedoch vorrangig die Frage, ob eine Anwendung der Härtefallregelung auf den Kl, der zuletzt über einen Zeitraum von 25 Jahren eine qualifizierte Angestelltentätigkeit der Beschäftigungsgruppe 4 des KollV für die Handelsangestellten ausgeübt hat, überhaupt in Betracht kommt.

Nach den bereits zitierten Gesetzesmaterialien (RV 981 BlgNR 24. GP 205 f) soll durch die Härtefallregelung für stark leistungseingeschränkte ungelernte ArbeiterInnen und für bestimmte selbstständig Erwerbstätige (nämlich Bäuerinnen und Bauern) bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen ein spezieller Verweisungsschutz die derzeit judizierte weite Verweisung auf den gesamten Arbeitsmarkt zu einer Verweis-133barkeit in einem engen Segment einschränken und so diesen Menschen einen Zugang zu einer Invaliditäts- oder Erwerbsunfähigkeitspension öffnen. Ziel der vorgeschlagenen Regelung ist es also, jene Berufsverweisungen, die bisher zu Härtefällen geführt haben, zu vermeiden. Die neue Härtefallregelung wird in der Praxis für Bäuerinnen und Bauern sowie ungelernte ArbeiterInnen, die ein sehr stark eingeschränktes Leistungskalkühl haben, relevant werden und soll auf eine sehr kleine Zahl von Härtefällen beschränkt bleiben (RV 981 BlgNR 24. GP 205 f). Die Härtefallregelung sieht somit vor, dass auch Versicherte, die noch in der Lage sind, am allgemeinen Arbeitsmarkt Verweisungstätigkeiten, von diesen jedoch nur mehr die besonders leichten (Tätigkeiten mit dem „geringsten Anforderungsprofil“) zu verrichten, künftig als invalid (erwerbsunfähig) gelten. Diese Tätigkeiten und die sich daraus ergebende faktische Unvermittelbarkeit konstituieren somit den Härtefall, der Zugangserleichterungen in die Invaliditätspension (Erwerbsunfähigkeitspension) sachlich rechtfertigt (vgl Ivansits/Weissensteiner, Die Härtefallregelung – Zugangserleichterungen in die Invaliditätspension für Versicherte ab 50, DRdA 2011, 175 ff [176]).

Bei der Härtefallregelung im ASVG handelt es sich somit nach der erklärten Absicht des Gesetzgebers um einen speziellen Verweisungsschutz für ungelernte AN. Dies zeigt sich auch darin, dass die Härtefallregelung des § 255 Abs 3a ASVG ua nur dann zur Anwendung kommt, wenn die versicherte Person nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG tätig war und daher keinen Berufsschutz genießt. Bei Vorliegen eines Berufsschutzes iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG entspricht nämlich das Verweisungsfeld im Wesentlichen dem ausgeübten (erlernten oder angelernten) Beruf und es kommt daher eine Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ohnedies nicht in Betracht. Nichts anderes kann aber für Angestellte gelten, die für eine bestimmte Zeit eine qualifizierte Berufstätigkeit ausgeübt haben und daher Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG genießen. Bei Angestellten ist zwar nach stRsp eine Verweisung auf Tätigkeiten, die einer Beschäftigungsgruppe unmittelbar nachgeordnet sind (im konkreten Fall die Verweisung des Kl auf eine Tätgkeit der Beschäftigungsgruppe 3 des KollV für Handelsangestellte), zulässig, eine Verweisung auf ungelernte Arbeitertätigkeiten – damit auch auf Tätigkeiten mit „geringstem Anforderungsprofil“ – ist jedoch unzulässig, weil der Versicherte nicht auf Tätigkeiten verwiesen werden darf, durch deren Ausübung der Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG verloren gehen würde (Sonntag in Sonntag, ASVG2 § 273 Rz 14 und 18 mwN). Zusammenfassend ergibt sich somit, dass die Härtefallregelung des § 273 Abs 3 iVm § 255 Abs 3a und 3b ASVG auf Versicherte, denen – wie dem Kl – Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG zukommt, nicht anzuwenden ist. Die Härtefallregelung findet im Bereich der Angestellten vielmehr nur auf Versicherte Anwendung, die keinen Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG genießen und deren Berufsunfähigkeit daher nach § 273 Abs 2 ASVG idF BGBl I 2011/122 zu beurteilen ist. Der Kl ist daher auch nach der seit 1.1.2011 geltenden Rechtslage nicht berufsunfähig iSd § 273 ASVG, weshalb seiner Revision ein Erfolg versagt bleiben musste. [...]

Anmerkung

Um Härtefälle zu vermeiden, hat der Gesetzgeber mit dem BudgetbegleitG 2011 einen speziellen Verweisungsschutz eingeführt, den er allerdings restriktiv gehandhabt haben will: Er soll nur auf eine kleine Zahl von Härtefällen beschränkt bleiben und in der Praxis für ungelernte ArbeiterInnen sowie Bäuerinnen und Bauern relevant werden, die ein sehr stark eingeschränktes medizinisches Leistungskalkül haben (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 206). Auch wenn Angestellte in der rechtspolitische Diskussion ausgeblendet worden zu sein scheinen (vgl Ivansits/Weißensteiner, Die Härtefallregelung – Zugangserleichterung in die Invaliditätspension für Versicherte ab 50, DRdA 2011, 175 [176]), spielt die neue Härtefallregelung auch für sie eine Rolle, weil § 273 Abs 3 ASVG eine entsprechende Geltung der Abs 3a und 3b des § 255 ASVG (Härtefallregelung für ArbeiterInnen) normiert.

Im vorliegenden Fall hatte der OGH die Frage zu klären, wann sich ein/e Angestellte/r auf die Härtefallregelung berufen kann. Das Höchstgericht kam dabei zum Schluss, dass die Härtefallregelung für jene Angestellten, die Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG genießen, jedenfalls nicht gilt.

1
Zum Inhalt der Härtefallregelung

Nach § 255 Abs 3a ASVG gilt eine nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen tätig gewesene versicherte Person auch dann als invalid, wenn sie das 50. Lebensjahr vollendet hat, mindestens zwölf Monate unmittelbar vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2 ASVG) als arbeitslos iSd § 12 AlVG gemeldet war, mindestens 360 Versicherungsmonate, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit, erworben hat und nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, ausüben kann und zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann. Nach Abs 3b leg cit sind Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen, wobei die Wortfolge „und/oder“ teleologisch auf „und“ zu reduzieren ist (Resch, Die neue Härtefallregelung der geminderten Arbeitsfähigkeit, SozSi 2012, 405 [412]).

2
Zur Rolle des Berufsschutzes

Wie der OGH richtig ausführt, kommt die Härtefallregelung nach § 255 Abs 3a ASVG nur dann zur Anwendung, wenn die versicherte Person nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG tätig war und daher keinen Berufsschutz genießt. Wenn § 255 Abs 3a ASVG für Angestellte „entsprechend“ gelten soll, dann kann dies134 nur so verstanden werden, dass die Härtefallregelung nur dann in Betracht kommt, wenn kein Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG besteht und die Verweisbarkeit nach § 273 Abs 2 ASVG zu prüfen ist. Dieses Auslegungsergebnis stützt der OGH mit historischteleologischen Überlegungen unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 205 f), denen man entnehmen kann, dass die Härtefallregelung den Sinn hat, jene Berufsverweisungen zu vermeiden, die bisher – wohl aufgrund faktischer Unvermittelbarkeit – zu Härtefällen infolge der Verweisung auf den gesamten Arbeitsmarkt geführt haben.

Bei Vorliegen eines Berufsschutzes kommt eine Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt nicht in Betracht, weswegen es nicht zu jenen Härtefällen kommen kann, die der Gesetzgeber verhindern wollte. Daran anknüpfend ist übrigens auch die in § 133 Abs 2a GSVG geregelte Härtefallregelung mit Resch (Die neue Härtefallregelung der geminderten Arbeitsfähigkeit, SozSi 2012, 405 [407]) teleologisch so zu verstehen, dass sie nicht gilt, wenn (ab dem 50. Lebensjahr bei persönlicher Mitarbeit im Betrieb) ein erleichterter Zugang zur Erwerbsunfähigkeitspension nach § 133 Abs 2 ASVG besteht.

3
Zur Verfassungskonformität

Etwaige verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Härtefallregelung für Angestellte hat der OGH in einer Folgeentscheidung (5.6.2012, 10 ObS 71/12g) ausgeräumt. Einer Angestellten mit Berufsschutz, die einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz darin erblickte, dass sie nicht in den Genuss der Härtefallregelung komme, obwohl der Berufsschutz bei ihr „nur in sehr geringem Umfang greife“ und sie nur mehr auf „einfache“ Berufstätigkeiten verwiesen werden könne, entgegnete der OGH, dass Differenzierungen erlaubt seien, die nach objektiven Unterscheidungsmerkmalen erfolgen. So wie es sachlich begründet sei, nach der Art der ausgeübten Tätigkeit zwischen erlernten und ungelernten Berufen zu unterscheiden, liege es ebenso im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, für die Anwendbarkeit der Härtefallregelung das Nichtvorliegen von Berufsschutz vorauszusetzen.

Der Gleichheitsgrundsatz setzt dem Gesetzgeber insofern inhaltliche Schranken, als er ihm verbietet, sachlich nicht begründbare Regelungen zu treffen (vgl zB VfGH 2.3.1995, VfSlg 14.039; 14.12.2001, VfSlg 16.407). Innerhalb dieser Schranken ist es dem Gesetzgeber nach der Rsp des VfGH jedoch nicht verwehrt, seine politischen Zielvorstellungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verfolgen (VfGH 12.6.2001, VfSlg 16.176; 10.6.2002, VfSlg 16.504). Der Gesetzgeber kann von einer Durchschnittsbetrachtung ausgehen und auf den Regelfall abstellen (vgl VfGH 12.6.1997, VfSlg 14.841; 9.3.2001, VfSlg 16.124 und 12.12.2002, VfSlg 16.771); dass dabei Härtefälle entstehen, macht das Gesetz nicht gleichheitswidrig (zB VfGH 26.2.1988, VfSlg 11.615; 12.6.1997, VfSlg 14.841). Ebenso wenig können nach Auffassung des VfGH Einzelfälle einer Begünstigung die am Durchschnitt orientierte Regelung unsachlich machen (26.6.1980, VfSlg 8871). Auch die hier in Rede stehende Härtefallregelung orientiert sich an einer Durchschnittsbetrachtung, denn der Gesetzgeber scheint davon auszugehen, dass es bei Personen, die keinen Berufsschutz genießen, zu häufigeren oder zu gravierenderen Härtefällen kommt, weswegen in den Materialien (ErläutRV 981 BlgNR 24. GP 206) festgehalten wird, dass die Härtefallregelung „in der Praxis für Bäuerinnen und Bauern sowie ungelernte ArbeiterInnen, die ein sehr stark medizinisch eingeschränktes Leistungskalkül haben, [...] relevant werden“ würde. Ein Gesetz ist jedenfalls nicht schon dann gleichheitswidrig, wenn sein Ergebnis nicht in allen Fällen als befriedigend angesehen wird. Das muss mE selbst dann gelten, wenn es speziell auf Härtefälle zugeschnitten ist, denn dem Gesetzgeber muss es (stets) gestattet sein, eine einfache und leicht handhabbare Regelung zu treffen (vgl VfGH 26.2.1988, VfSlg 11.616; 5.12.1996, VfSlg 14.694; 27.11.2001, VfSlg 16.361; 30.9.2002, VfSlg 16.641).

4
Fazit

Der OGH hat nach historisch- und systematisch-teleologischen Erwägungen folgerichtig geschlossen, dass die Härtefallregelung nicht zur Anwendung gelangen kann, wenn die versicherte Person Berufsschutz genießt (vgl auch Resch, Die neue Härtefallregelung der geminderten Arbeitsfähigkeit, SozSi 2012, 405 [407]). Ist die Härtefallregelung anwendbar, so hat die Prüfung mE bei Angestellten und bei ArbeiterInnen nach denselben Maßstäben zu erfolgen; etwas anderes lässt sich weder dem Gesetzestext noch den Gesetzesmaterialien entnehmen. Der OGH hat dazu jedoch bislang noch nicht Stellung genommen.135