11Eingeschränkte Geltung der Hälfteregelung beim Berufsschutz
Eingeschränkte Geltung der Hälfteregelung beim Berufsschutz
Der Gesetzgeber geht für den Regelfall davon aus, dass erst bei Vorliegen von einer Mindestversicherungszeit von 90 Pflichtversicherungsmonaten einer qualifizierten Erwerbstätigkeit im Rahmenzeitraum von einer „überwiegenden“ Ausübung der qualifizierten Tätigkeit im Rahmenzeitraum ausgegangen werden kann.
Der Gesetzgeber hat in § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG idF des BudgetbegleitG für Fälle, in denen der maßgebende Rahmenzeitraum der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag als Beobachtungszeitraum nicht in Betracht kommt, weil zwischen dem Ende der Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen, eine spezielle Regelung dahingehend geschaffen, dass für die Erlangung des Berufsschutzes zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate, eine (qualifizierte) Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellte/r vorliegen muss („Hälfteregelung“).
Bei der Auslegung der Bestimmung des § 255 Abs 2 dritter Satz ASVG ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber auch bei dieser Bestimmung vom Regelfall des Abschlusses einer Lehrausbildung mit ca 18 Jahren und dem anschließenden Eintritt des Versicherten in das Berufsleben ausgegangen ist, wobei zwischen diesem Zeitraum und dem Stichtag für die begehrte Pensionsleistung ein Zeitraum von weniger als 15 Beobachtungsjahren liegt.
Mit Bescheid vom 26.11.2010 lehnte die bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA) (in der Folge: Bekl) den Antrag der am 20.12.1960 geborenen Kl vom 21.9.2010 auf Gewährung einer Invaliditätspension ab. Die Kl sei nicht invalide iSd § 255 Abs 3 ASVG.
Die Kl lebt seit 1989 in Österreich. Sie hat in Österreich seit Juli 1990 insgesamt 164 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit und 52 Monate einer Ersatzzeit erworben. Sie war von Juli 1990 bis April 1992 und vom März 1995 bis Februar 1996 als Geschirrabräumerin und Salatanrichterin und ab Juni 1998 als Küchengehilfin im Betrieb einer Autobahnraststation beschäftigt. Im Juni 2005 legte sie die Lehrabschlussprüfung als Köchin mit Erfolg ab. Anschließend war sie bei ihrem AG bis Juni 2010 durchgehend als Köchin beschäftigt. Sie kann aufgrund ihrer näher festgestellten medizinischen Einschränkungen ihren erlernten Beruf als Köchin jedenfalls bis Jahresende 2011 nicht ausüben.
Das Erstgericht wies das von der Kl dagegen erhobene und zuletzt auf die Gewährung einer Invaliditätspension ab 1.1.2011 gerichtete Klagebegehren ab. Es beurteilte den Sachverhalt dahin, dass die Frage der Invalidität der Kl nach der Bestimmung des § 255 ASVG idF vor der Änderung durch das BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) zu beurteilen sei. Danach habe die Kl in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend unqualifizierte Tätigkeiten (vor der Ablegung der Lehrabschlussprüfung im Juni 2005) ausgeübt, weshalb sie keinen Berufsschutz nach § 255 Abs 2 ASVG idF vor der Änderung durch das BudgetbegleitG 2011 genieße. Die Kl könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch verschiedene Verweisungstätigkeiten wie etwa Büroaufräumerin, Verpackerin oder einfache Tätigkeiten in Kantinen und Firmenküchen verrichten und sei daher iSd § 255 Abs 3 ASVG nicht invalide.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl teilweise Folge und sprach aus, dass das auf Gewährung der Invaliditätspension gerichtete Klagebegehren dem Grunde nach für den Zeitraum vom 1.1.2011 bis 31.12.2012 zu Recht bestehe. Durch das BudgetbegleitG 2011 sei eine Änderung der Rechtslage eingetreten, welche im vorliegenden Fall bereits zu berücksichtigen sei. Nach § 255 Abs 2 ASVG idF BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) liege eine überwiegende (erlernte) Tätigkeit iSd Abs 1 vor, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellter ausgeübt wurde. Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung (Abs 2a) und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so müsse in zumindest der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate, eine Erwerbstätigkeit nach Abs 1 vorliegen. Nach § 255 Abs 2a ASVG gelte als Ende der Ausbildung der Abschluss eines Lehrberufs, der Abschluss einer mittleren oder höheren Schulausbildung oder Hochschulausbildung sowie der Abschluss einer dem Schul- oder Lehrabschluss vergleichbaren Ausbildung, jedenfalls aber der Beginn einer Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellter. Im vorliegenden Fall führe die Anwendung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG idF BudgetbegleitG 2011 zu einer Verkürzung des maßgeblichen Beobachtungszeitraumes von 15 Jahren auf 5 1/2 Jahre bzw auf 66 Monate, da die Kl ihre erste berufsschutzbegründende (inländische) Ausbildung durch erfolgreiche Ablegung der Lehrabschlussprüfung als Köchin im Juni 2005 abgeschlossen habe und vorher nur als ungelernte Arbeiterin ohne abgeschlossene Berufsausbildung erwerbstätig gewesen sei. Da zwischen dem Ende der Ausbildung der Kl und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen, komme die „Hälfteregel“ zur Anwendung, welche die Kl ebenso wie die Mindestdauer von 12 Monaten erfülle. Sie erfülle damit aufgrund des eindeutigen Gesetzeswortlautes die Anspruchsvoraussetzung nach § 255 Abs 2 idF BudgetbegleitG 2011, auch wenn die Gesetzesänderung entgegen der erklärten Absicht des Gesetzgebers im vorliegenden Fall zu einer Erleichterung bei der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen führt.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil zu der über den Einzelfall hinaus bedeutsamen Rechtsfrage der Auslegung des § 255 Abs 2 iVm Abs 2a ASVG idF des BudegtbegleitG 2011 noch keine Rsp des OGH vorliege. Der OGH erachtete die Revision als berechtigt.136
Das Revisionsvorbringen der Bekl lässt sich dahin zusammenfassen, dass der Mindestbeobachtungszeitraum von 15 Jahren vor dem Stichtag und die Mindestversicherungszeit von 90 Pflichtversicherungsmonaten einer qualifizierten Erwerbstätigkeit die „Grundnorm“ und den Beurteilungsmaßstab darstellten, von dem dann abgegangen werden könne, wenn die Möglichkeit diese Zeiten zu erwerben, aufgrund eines jungen Jahrgangs gar nicht bestanden habe. Konkret bedeute dies, dass bei nachträglichem Abschluss einer Lehre bei bereits vorhandenen unqualifizierten Versicherungszeiten diese nicht ausgeblendet werden können, um damit eine sachlich nicht gerechtfertigte Verkürzung des Beobachtungszeitraumes zu erzielen.
Der OGH ist dieser Argumentation gefolgt und hat in Stattgebung der Revision der Bekl das zur Gänze klagsabweisende Ersturteil im Ergebnis wiederhergestellt.
Einleitend legt der OGH die Prinzipien der Gesetzesauslegung anhand von zwei Rechtssätzen dar. Der eine Rechtssatz argumentiert auf Basis der OGH-E zur Härtefallregelung (20.12.2011, 10 ObS 105/11f) zugunsten einer Rangordnung der Auslegungsmethoden. Zuerst Erforschung des Wortsinnes, nur wenn Unklarheiten bleiben, müsse der/die RechtsanwenderIn versuchen, aus dem Bedeutungszusammenhang ein eindeutiges Auslegungsergebnis zu erzielen (systematisch logische Auslegung). Bleibt die Ausdrucksweise zweifelhaft und unklar, solle auf die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes und die Absicht des Gesetzgebers zurückgegriffen werden. Anhaltspunkte für den Willen des Gesetzgebers fänden sich in Regierungsvorlagen oder Ausschussberichten. Erläuternde Bemerkungen (EB) könnten das Verständnis einer unklaren Gesetzesstelle fördern, weshalb sie zur Auslegung heranzuziehen wären, sofern sie nicht eindeutig im Widerspruch zum Gesetz stünden. Die zweite Rechtssatzlinie (RS0009099) spricht sich eher gegen eine Rangordnung der Auslegungsmethoden aus und folgt den Ausführungen (Bydlinski in Rummel zu § 6 ABGB), dass Wertungswidersprüche in der Rechtsordnung jedenfalls störend wären, sodass in solchen Fällen die fragliche Vorschrift sogar gegen ihren Wortsinn verstanden werden kann. Der OGH zitiert die Passage: „Wenn aber die unzweifelhafte „Ausdrucksweise“ des Gesetzes in seinem wörtlichen (nächstliegenden) Verständnis keine offenbaren Wertungswidersprüche provoziert, mit bestehendem Wertungskonsens innerhalb der Rechtsgemeinschaft nicht unvereinbar ist und auch der ‚Natur der Sache‘ nicht zuwiderläuft, sei es nicht Aufgabe der Gerichte, durch weitherzige Interpretationen rechtspolitische oder wirtschaftliche Aspekte zu berücksichtigen, die den Gesetzgeber (bewußt oder unbewußt) nicht veranlasst haben, Gesetzesänderungen vorzunehmen; allenfalls als unbefriedigend erachtete Gesetzesbestimmungen zu ändern oder zu beseitigen sei nicht Aufgabe der Rechtssprechung.
“
Der OGH zitiert jedoch nicht die weiteren Ausführungen von Bydlinski in Rummel (aaO). Im Einzelnen sei zu unterscheiden: Bei einem Redaktionsversehen sei es zulässig, die fragliche Vorschrift im Ganzen gegen ihren eindeutigen Wortsinn zu verstehen, wenn der „wahre Wille des Gesetzgebers“ mit Sicherheit nachweisbar ist. Praktisch bedeutsamer seien aber näher umschreibbare Fallgruppen, die dem Gesetzeswortlaut sehr wahrscheinlich unterfallen, doch im Hinblick auf die „Absicht des Gesetzgebers“ herausgenommen werden. Dies sei zu bejahen, je weiter am Rande des Normbereichs die betreffende Fallgruppe liegt, je klarer die für die Ausnahme sprechende „Absicht des Gesetzgebers“ schon aus dem historischen Material nachweisbar ist und je stärkere „objektiv-teleologische“ Gründe in dieselbe Richtung deuten. Soweit allerdings auch der mögliche Wortsinn dabei vernachlässigt werde, handle es sich methodisch nicht mehr um Auslegung ieS, sondern um „teleologische Reduktion“. Die teleologische Reduktion verschaffe der ratio legis nicht gegen einen zu engen sondern gegen einen überschießend weiten Gesetzeswortlaut Durchsetzung. Vorausgesetzt sei stets der Nachweis, dass eine umschreibbare Fallgruppe von den Grundwertungen oder Zwecken des Gesetzes entgegen seinem Wortlaut gar nicht getroffen wird und dass sie sich von den „eigentlich gemeinten“ Fallgruppen soweit unterscheidet, dass die Gleichbehandlung sachlich ungerechtfertigt unwillkürlich wäre. Wenn verschiedene Auslegungsmethoden in verschiedene Richtungen deuten (der eindeutige Wortlaut in Richtung Berufsschutz, eine teleologische Betrachtung gegen den Berufsschutz) ist eine Gesamtwürdigung iSd beweglichen Systems unumgänglich. Wobei zu beachten ist, dass der Vorrang der objektiven Auslegung nach dem Wortlaut des Gesetzes in seinem Zusammenhang vor einer aus sonstigem historischem Material nachweisbaren abweichenden Absicht des Gesetzgebers sachgerecht und auch weithin anerkannt ist (aaO Rz 25).
Im Ergebnis hat der OGH eine teleologische Reduktion vorgenommen, weil er offenbar der Ansicht ist, dass die unzweifelhafte Ausdrucksweise des Gesetzes in seinem wörtlichen (nächstliegenden) Verständnis offenbare Wertungswidersprüche provoziert und/oder mit dem bestehenden Wertungskonsens unvereinbar ist und/oder der Natur der Sache zuwiderläuft und dass diese Wertungswidersprüche so klar und so gewichtig sind, dass sie in einer Gesamtwürdigung den eindeutigen Wortlaut verdrängen.
Unter Heranziehung der zitierten Auslegungsgrundsätze ist zunächst auf den völlig eindeutigen Wortlaut des § 255 Abs 2 dritter Satz iVm Abs 2a zu verweisen und dann der Wille des Gesetzgebers zu erörtern.
„§ 255 Abs 1: War der Versicherte überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig, gilt er als invalid, wenn seine Arbeitsfähigkeit ....§ 255 Abs 2 zweiter Satz: Eine überwiegende Tätigkeit im Sinne des Abs 1 liegt vor, wenn innerhalb137 der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2) in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellter ausgeübt wurde. Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung (Abs 2a) und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so muss zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate eine Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellter vorliegen ....§ 255 Abs 2a: Als Ende der Ausbildung nach Abs 2 gelten der Abschluss eines Lehrberufes, der Abschluss einer mittleren oder höheren Schulausbildung oder Hochschulausbildung sowie der Abschluss einer dem Schul- oder Lehrabschluss vergleichbaren Ausbildung, jedenfalls aber der Beginn einer Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellter.“
Der Wortlaut des Gesetzes besagt, dass immer dann, wenn zwischen dem Ende der Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen, die Hälfteregelung zur Anwendung kommt. Als Ende der Ausbildung gilt entweder der formale Abschluss oder der Beginn einer qualifizierten Tätigkeit als ArbeiterIn (ohne formalen Abschluss kann nur mit einer angelernten Qualifikation eine Tätigkeit nach § 255 Abs 1 begonnen werden) oder der Beginn einer Angestelltentätigkeit. Nachdem der Gesetzestext kein Mindestalter, kein typisches Alter, kein frühestmögliches Alter und auch sonst keine Begrenzung für die Beendigung einer Ausbildung festgelegt hat, gilt die Hälfteregelung unabhängig vom Alter, in dem eine Ausbildung abgeschlossen wird. Dh, der Anwendungsbereich der Hälfteregelung sind alle Personen für die gilt, dass zwischen dem Ende der Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen.
Der OGH schränkt nun im Wege der teleologischen Reduktion den Anwendungsbereich der Hälfteregel auf Personen ein, für die gilt, dass zwischen dem Regelfall des Endes einer Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen, sodass der „Erwerb der Mindestversicherungszeit von 90 Pflichtversicherungsmonaten einer qualifizierten Erwerbstätigkeit von vorneherein nicht möglich war
“. Den Abschluss einer Lehrausbildung setzt der OGH ausdrücklich mit „ca 18 Jahren“ an, abgesehen von der Problematik einer „Zirkaangabe“, steckt hinter dem Konzept des Regelfalls wohl die Vorstellung von Mindestausbildungsdauern (Lehre 2 bis 4 Jahre, Matura 4 bis 5 Jahre, Studium 4 bis 6 Jahre etc), kombiniert mit dem frühestmöglichen Beginn der jeweiligen Ausbildung (Lehre mit 15, AHS-Oberstufe, HAK, HTL etc mit 14, Studium je nach vorangegangenem Schultyp mit 18 oder 19 Jahren usw). Für angelernte Tätigkeiten versagt eine derartige Gruppenabgrenzung, weil insb kein frühestmöglicher Beginn einer Anlernzeit als Regelfall feststellbar sein wird. Schon in dieser frühen Phase der Erörterung drängt sich die Frage auf, ob der Gesetzgeber, wenn er das gewollt hätte, § 255 Abs 2 iVm 2a nicht anders formuliert hätte.
Das Berufungsgericht führt aus, dass die Anspruchsvoraussetzungen nach § 255 Abs 2 erfüllt seien, auch wenn die Gesetzesänderung entgegen der erklärten Absicht des Gesetzgebers im vorliegenden Fall zu einer Erleichterung bei der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für eine Invaliditätspension nach dieser Gesetzesstelle gegenüber der früheren Rechtslage führe. Das Berufungsgericht vermeint zwar einen Wertungswiderspruch zu erkennen, gibt jedoch iSd Rangordnung der Auslegungsmethoden und Gewichtung der Argumente dem eindeutigen Wortlaut den Vorrang. Der OGH spricht in Pkt 4.4. von einer mit der Neuregelung des § 255 Abs 2 vom Gesetzgeber bezweckten Verschärfung der Anforderungen an die Erlangung des Berufsschutzes und kommt zum Schluss, dass im Fall der Kl kein Anlass für eine sachlich nicht gerechtfertigte Verkürzung des 15-jährigen Rahmenzeitraumes besteht. Insgesamt wird damit der aus den EB abgeleitete Wille des Gesetzgebers von beiden Gerichten dahingehend interpretiert, dass offenbar in jedem Anwendungsfall im Vergleich zur vorherigen Regelung eine Verschärfung der Wartezeit zur Erlangung des Berufsschutzes beabsichtigt war. Dieser umfassende Wille, die Anspruchsvoraussetzungen für die Erlangung des Berufsschutzes zu verschärfen, kann meiner Ansicht den EB nicht entnommen werden.
Im Allgemeinen Teil der EB sind folgende Hauptziele der Reform genannt: die Intensivierung und Modernisierung der beruflichen Rehabilitation zur Erhaltung und Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit, die Überlagerung des Berufsschutzes durch einen Rechtsanspruch auf eine zumutbare Rehabilitation, wobei der Berufsschutz an sich nicht in Frage gestellt wird und vor allem das Ziel, den Anspruch auf Rehabilitation vor der Frage des Anspruchs auf Pension anzusetzen. Im allgemeinen Teil der EB wird die Verschärfung des Berufsschutzes als Reformziel nicht genannt. Das Hauptanliegen, der Hauptwille des Gesetzgebers ist die berufliche Rehabilitation auf allen Ebenen der Vollziehung zu verstärken. Im Besonderen Teil der EB wird der Rechtsanspruch auf berufliche Rehabilitation mit dem Ziel, die Invalidität zu beseitigen und mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt auf Dauer sicherzustellen, breit dargestellt. Grundsätzlich soll es zu keiner beruflichen Rehabilitation nach unten kommen. Es wird ein unbedingter Vorrang der Rehabilitation verankert, indem jeder Antrag auf eine Invaliditätspension de lege vorrangig als Antrag auf Rehabilitation gilt, weiters wird die berufliche Rehabilitation als negative Anspruchsvoraussetzung für eine Invaliditätspension gesetzlich verankert; dh eine Pension soll nur noch gewährt werden, wenn eine Rehabilitation nicht zumutbar oder zweckmäßig ist. Der Rechtsanspruch auf berufliche Rehabilitation gem § 253e besteht auch dann, wenn die erforderlichen Pflichtversicherungsmonate nach § 255 Abs 2 nicht vorliegen, jedoch innerhalb der letzten 36 Monate mindestens zwölf Pflichtversicherungsmonate oder insgesamt mindestens 36 Pflichtversicherungsmonate einer Erwerbstätigkeit nach § 255 Abs 1. Dh für den Gesetzgeber hat die Erhaltung oder Wiedererlangung einer einmal erworbenen Qualifikation durch berufliche Rehabilitation hohe Priorität. Das steht erstens im Gesetz (§§ 253e, 254, 255) und wird zweitens in den EB breit erläutert.138
Zu § 255 Abs 2 wird ausgeführt, dass derzeit sehr wenige Monate einer qualifizierten Beschäftigung in den letzten 15 Jahren ausreichen, um einen Berufsschutz zu erlangen, wenn generell in den letzten 15 Jahren sehr wenige Beitragsmonate (zB wegen langer Arbeitslosigkeit) vorliegen. Daher sollen künftig in der Hälfte der letzten 15 Jahre qualifizierte Monate vorliegen.
Für den Fall, dass weniger als 15 Jahre vorliegen, führen die EB aus, dass zumindest in der Hälfte der vorliegenden Monate eine qualifizierte Tätigkeit ausgeübt worden sein muss und dass die Beobachtungsjahre bei ArbeiterInnen vom Stichtag zurück bis zum Abschluss der ersten berufsschutzbegründen Ausbildung (Anlernzeit) und bei Angestellten zurück bis zum Beginn der Angestelltentätigkeit (Ausnahme: Lehre) reichen. Zur weiteren Erläuterung sind zwei Beispiele angeführt, in denen die Lehre mit dem 18. Lebensjahr abgeschlossen wird: Das erste Beispiel zielt darauf ab, darzulegen, dass in den Beobachtungszeitraum die Ausbildungsphase nicht einbezogen wird. Das zweite Beispiel zeigt, dass bei einer Abfolge von mehreren Ausbildungen der Beobachtungszeitraum bis zum Abschluss der ersten Ausbildung zurückreicht.
Ausdrücklich zielen die EB bei der Wartezeit für einen Berufsschutz auf jenen Wertungswiderspruch ab, der nach der vorherigen RL darin bestand, dass es für die Erlangung des Berufsschutzes günstiger war, arbeitslos zu bleiben als eine unqualifizierte Beschäftigung anzunehmen. So musste Personen, die beispielsweise in den letzten 15 Jahren 14 Jahre arbeitslos waren und lediglich weit zurückliegend ein Jahr qualifizierter Beschäftigung vorweisen konnten, der Berufsschutz gewährt werden, jenen hingegen, die innerhalb der letzten 15 Jahre 7 Jahre qualifiziert und 8 Jahre unqualifiziert beschäftigt waren, wurde der Berufsschutz versagt, weil der Zeitraum der unqualifizierten Beschäftigung überwog. Dieser notorische Wertungswiderspruch hat immer wieder zur Diskussion geführt und für Unmut gesorgt, nicht zuletzt wegen des Negativanreizes zur Aufnahme einer unqualifizierten Beschäftigung. Diesen Wertungswiderspruch zwischen Beitragszeiten und Arbeitslosenzeiten, der auch in den EB genannt ist, hat der Gesetzgeber durch die Anforderung von mindestens 90 Monaten qualifizierter Beschäftigung in den letzten 15 Jahren – und wenn weniger vorliegen mit der Hälfteregelung – jedenfalls beseitigt. Abgesehen davon ist in den EB keine Absicht artikuliert und damit auch kein umfassender Verschärfungswille des Gesetzgebers entnehmbar, den man als Argument für einen gewichtigen Wertungswiderspruch im Fall der Kl heranziehen könnte. Die Hälfteregelung ist auch in den EB ausdrücklich auf den Abschluss der Ausbildung bezogen, ohne ein Mindestalter zu nennen oder einen frühestmöglichen Abschluss der Ausbildung auch nur anzudeuten. Der OGH verweist in seiner Argumentation auf die Beispiele der EB, in denen die Lehre mit 18 abgeschlossen wird. Aber ohne eigentlichen Hinweis auf einen frühestmöglichen Abschluss, ohne Erläuterung der Beispiele betreffend das Alter 18, ohne jede Andeutung dazu, nicht in den EB und schon gar nicht im Gesetz, kann der bloße Umstand, dass in den Beispielen der EB das Lehrende mit 18 Jahren angenommen wurde, wohl kaum als klarer Wille des Gesetzgebers interpretiert werden, dass grundsätzlich vom frühestmöglichen Ende einer Ausbildung auszugehen ist. Hinzu kommt, dass es für angelernte Qualifikationen kein Mindestalter gibt. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass den EB kein umfassender Verschärfungswille des Berufsschutzes entnehmbar ist, der darauf abzielt, die Hälfteregelung bei im Beobachtungszeitraum erworbenen Qualifikationen dann nicht auf das Ende der Ausbildung zu beziehen, wenn die Ausbildung nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt abgeschlossen wurde.
Weiters ist die Frage zu untersuchen, ob die Auslegung nach dem eindeutigen Wortlaut zu einem Wertungswiderspruch und zu einem unsachlichen Ergebnis führt. Im konkreten Fall der Kl ist klarzustellen, dass die Anerkennung des Berufsschutzes keinesfalls gleichzeitig zur Gewährung einer Pension geführt hätte. Denn vor einer Pensionsgewährung ist die Zumutbarkeit und Zweckmäßigkeit einer beruflichen Rehabilitation zu prüfen. Die Kl würde gesetzeskonform nur dann eine Pension erhalten, wenn ihr eine Rehabilitation nicht zumutbar ist, wofür es im Sachverhalt keine Anhaltspunkte gibt. Vielmehr zielt der Wille des Gesetzgebers, der aus dem Gesetz und den EB ableitbar ist, im Fall der Kl darauf ab, ihre Qualifikation bei Berücksichtigung klarer Mitwirkungspflichten zu erhalten, um sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Dauer wieder in Beschäftigung zu bringen. Im Ergebnis führte die Anerkennung des Berufsschutzes im Fall der Kl weder zu einem Wertungswiderspruch noch zu einem unsachlichen Ergebnis. Es ist nicht unsachlich, auch die später erworbene Ausbildung der Kl zur Köchin unter Berufsschutz zu stellen und es ist kein Wertungswiderspruch durch verpflichtende berufliche Rehabilitation auf Basis des Berufsschutzes als Köchin, die Wahrscheinlichkeit der Wiedereingliederung der Kl in den Arbeitsmarkt zu erhöhen.
Bei genauerer Betrachtung führt im Gegenteil die Auslegung des OGH zu einem Wertungswiderspruch und zu einem unsachlichen Ergebnis. Denn was ist die Folge der E des OGH? Die Kl ist gesundheitlich schwer beeinträchtigt und arbeitslos, kann aber auf gewisse Hilfstätigkeiten vermittelt werden. Die Chancen, dass sie als 53-jährige, nur eingeschränkt arbeitsfähige Frau eine der genannten Hilfsarbeitsstellen bekommt, geschweige denn auf Dauer ausüben kann, sind sehr gering. Wahrscheinlicher ist eine Abfolge von Phasen der Arbeitslosigkeit und weiteren Pensionsanträgen. Die E des OGH führt im Ergebnis zu einer Dequalifizierung der Kl und zu einer Verminderung ihrer Arbeitsmarktchancen. Gerade diese Negativspirale der jahrelangen Arbeitslosigkeit mit darauffolgender Pensionsgewährung wollte der Gesetzgeber verhindern. Die faktische Dequalifizierung der Kl stellt sowohl einen Wertungswiderspruch bezogen auf das Ziel des Gesetzgebers dar, erworbene Qualifikationen zu erhalten und es ist zudem unsachlich, die Kl allein deshalb beim Erwerb eines Berufsschutzes zu benachteiligen, weil sie die Qualifikation später erworben hat als im Regelfall.139
Die E des OGH vermag weder im Ergebnis noch in der Begründung zu überzeugen. Besonders bedauerlich ist, dass die berufliche Rehabilitation der Kl im Entscheidungsprozess keine Beachtung gefunden hat, ja nicht einmal vorkommt, obwohl die Verstärkung der beruflichen Rehabilitation das Hauptanliegen des Gesetzgebers im Pensionsbereich der letzten Jahre darstellt. Die teleologische Reduktion erscheint methodisch und inhaltlich in mehrfacher Hinsicht nicht gerechtfertigt. Die Fallgruppe, die der Gesetzgeber nach Meinung des OGH nicht gemeint haben kann, lässt sich nur sehr umständlich – und bezogen auf angelernte Tätigkeiten gar nicht – abgrenzen, der klare Willen des Gesetzgebers den Berufsschutz auch im Fall der Kl zu verschärfen, lässt sich den EB nicht entnehmen. Der Wertungswiderspruch, mit dem der OGH argumentiert, verkehrt sich unter Einbeziehung des eigentlichen Zieles des Gesetzgebers, der Erhaltung erworbener Qualifikationen zur bestmöglichen Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, ins Gegenteil und auch die Unsachlichkeit ist nicht zu erkennen, wenn auch eine später erworbene Qualifikation zu Berufsschutz und verpflichtender Rehabilitation führt. Insgesamt ist der OGH der eindimensionalen Argumentation der Bekl gefolgt, die immer noch – am Willen des Gesetzgebers vorbei – lieber einen Pensionsantrag mit viel Phantasie ablehnt als eine verpflichtende berufliche Rehabilitation zuzuerkennen. Es ist zu hoffen, dass es dem SRÄG 2012 gelingt, die Energie der Vollziehung auf die berufliche Rehabilitation zu lenken.