21Fenstersturz aus ungeklärter Ursache als Arbeitsunfall
Fenstersturz aus ungeklärter Ursache als Arbeitsunfall
Verunglückt ein Versicherter unter ungeklärten Umständen an seinem Arbeitsplatz, an dem er zuletzt betriebliche Arbeit verrichtet hatte, so entfällt der Versicherungsschutz nur dann, wenn bewiesen wird, dass er die versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigenwirtschaftliche Verrichtung unterbrochen oder beendet hatte.
Der Unfallversicherungsträger trägt die Beweislast dafür, dass durch die Vorgangsweise des Versicherten eine Lösung vom Betrieb eingetreten ist. Wenn unklar bleibt, ob eine dem betrieblichen oder eine dem privaten Bereich zuzurechnende Handlung zu dem Sturz des Kl, der zuletzt eine betriebliche Tätigkeit verrichtet hatte, geführt hat, so geht dies zulasten des Unfallversicherungsträgers.
Mit Bescheid vom 24.6.2003 lehnte die Bekl die Anerkennung des Unfalls des Kl vom 30.8.2002 als Arbeitsunfall ab und sprach aus, dass kein Anspruch auf Leistungen gem § 173 ASVG bestehe. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage blieb erfolglos (5 Cgs 194/03a des Erstgerichts; siehe 10 ObS 125/04m).
Mit Wiederaufnahmsklage begehrte der Kl, die Bekl sei schuldig, seinen Unfall vom 30.8.2002 als Arbeitsunfall anzuerkennen und ihm ab dem Anfallstag eine Versehrtenrente im Ausmaß einer Vollrente samt Zusatzrente zu gewähren. Er habe um den 20.10.2004 das Erinnerungsvermögen wieder erlangt und könne sich nunmehr an die Geschehnisse des Unfalltages erinnern. Er habe ein Lager räumen müssen und am Unfalltag deshalb bis tief in die Nacht gearbeitet. Da ihm bei der Arbeit heiß gewesen sei, habe er das Fenster geöffnet. Danach reiße sein Erinnerungsvermögen ab. Es sei geplant gewesen, in dem Haus Büroräumlichkeiten einzurichten. Er sei selbständiges Arbeiten gewohnt gewesen, das wegen der Übersiedlung am Unfalltag auch noch spät in der Nacht und gerade in jenem Raum, aus dessen Fenster er gestürzt sei, notwendig gewesen sei. [...]
[Nach Bewilligung der ...] Wiederaufnahme des Verfahrens wies das Erstgericht [nach Aufhebung des Ersturteils durch das OLG] ... im zweiten Rechtsgang das Klagebegehren ab. Es traf folgende Feststellungen:
Der 1968 geborene Kl war Geschäftsführer der 1996 gegründeten C GmbH mit dem Sitz in Wien. Im September 2001 übernahm die Mutter des Kl die Geschäftsführung. Nach Konkurseröffnung am 24.10.2001 wurde der Kl von der Masseverwalterin mit 1.12.2001 entlassen. Nach Aufhebung des Konkursverfahrens nahm ihn seine Mutter mit 1.3.2002 als Angestellten der GmbH auf, wobei geplant war, dass er wieder die Geschäftsführung übernimmt. Beabsichtigt war, dass in einem vom Kl neu erworbenen Eigenheim [in] Wien ein Büro und ein Schauraum sowie ein Lager errichtet werden. Die privaten Räumlichkeiten sollten im Erdgeschoss etabliert werden, im ersten Stock die Büroräumlichkeiten und im Dachgeschoss ein Schauraum mit Sitzgruppe sowie Rollschränke für Buchhaltungs- und Bürounterlagen. Die C GmbH unterhielt ein Lager im Palais H, das bis zum 31.8.2002 geräumt237 zu übergeben war. Am 28.8.2002 wurde dem Kl der Auftrag erteilt, das Lager zu räumen. Am 29.8.2002 war er bis 17:00 Uhr im Geschäft [gemeint: im Palais H] im Verkauf tätig. Danach fuhr er zu seiner Mutter in die Modecenterstraße und von dort zum Haus am F-platz. In der Zeit bis 20:00 Uhr brachte er gemeinsam mit einem Helfer Aktenordner und auch Schreibtische in das Haus. Einen Schreibtisch trug er bis in das Dachgeschoss. Von 20:00 bis 22:00 Uhr war er gemeinsam mit seinem Helfer in einem Cafe essen. Danach kehrte er in das Haus zurück. Er lud Sachen aus dem Auto aus, die er in den zweiten Stock brachte. Gegen 23:00 Uhr fuhr er nochmals zu dem rund 10 Fahrminuten entfernten Cafe, um Zigaretten zu holen. Von dort zurückgekehrt, trug er zweimal je einen ca 20 kg schweren Karton mit Buchhaltungsunterlagen in den zweiten Stock. Da es ein heißer Tag und im Haus warm war, wurde ihm dabei heiß. Er wollte ein Fenster aufmachen, ging zum Fenster im zweiten Stock und öffnete es. In der Folge stürzte er aus dem Fenster, dessen Unterkante 94 cm über dem Boden war, auf die Straße. Er hatte die Absicht, noch weitere Kartons in den zweiten Stock zu tragen. Am 30.8.2002 fand man ihn gegen 8:00 Uhr bewusstlos vor dem Haus. Zum Unfallzeitpunkt befanden sich im Dachgeschossraum ein Ledersessel und eine Lederbank in Nähe des Doppelfensters, ein weiteres Sitz-/Liegemöbel in der Mitte des Raumes, sowie ein einfacher, eher alter Schreibtisch ohne Sessel, auf dem Schreibtisch ein PC-Bildschirm, eine Tastatur und ein Kopiergerät, ein Computer unter dem Schreibtisch und rechts von diesen drei Kartons. Welche äußere oder innere Ursache zum Sturz aus dem Fenster geführt hat, kann nicht festgestellt werden. Der Kl erlitt durch den Sturz schwere (insb Kopf-)Verletzungen, die zu einer dauernden Minderung der Erwerbsfähigkeit von 100 % führten.
In der Beweiswürdigung hielt das Erstgericht fest, das den Sturz auslösende Moment habe nicht festgestellt werden können. Ein Stolpern über einen Gegenstand könne ausgeschlossen werden, ebenso ein Besteigen einer Leiter oder eines Stockerls zur Durchführung einer Tätigkeit im oberen Bereich des Fensters. Ein Krampfanfall als Ursache des Hinausfallens sei vom Sachverständigen als unwahrscheinlich eingeschätzt worden. Aus diesen Ausführungen sei auch zu folgern, dass ein plötzlich auftretender Schwindel oder eine plötzlich auftretende Bewusstlosigkeit als Ursache für den Sturz anzunehmen sei.
Rechtlich führte das Erstgericht aus, die Ursache des Unfalls habe nicht festgestellt werden können. Denkmöglich sei, dass die beruflichen Tätigkeiten des Kl vor dem Ereignis am Unfallstag ab 17:00 Uhr bei bestehender Hitze aufgrund der gegebenen körperlichen Verhältnisse zu einer Kreislauflage führten, die im Zusammenspiel mit weiteren außergewöhnlichen Umständen zum Sturz geführt hätten. Daraus sei für den Kl aber nichts zu gewinnen, weil dies zur gleichen Zeit auch bei Übersiedlungstätigkeiten im privaten Wohnbereich des Hauses hätte auftreten können. Die berufliche Tätigkeit sei daher nur als Gelegenheitsursache anzusehen.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge. [...] Der Anscheinsbeweis sei nur dann zulässig, wenn eine typische formelhafte Verknüpfung der bewiesenen Tatsache und dem gesetzlich geforderten Tatbestandselement bestehe. Er dürfe daher nicht dazu dienen, Lücken der Beweisführung durch bloße Vermutungen auszufüllen. So sei der Anscheinsbeweis dort ausgeschlossen, wo der Kausalablauf durch den individuellen Willensentschluss eines Menschen bestimmt werden könne. Der bloße Verdacht eines bestimmten Ablaufs, der auch andere Verursachungsmöglichkeiten offen lasse, gebe für den Beweis des ersten Anscheins keinen Raum. Im Anlassfall könne kein Tatbestand mit einem typischen formelhaften Geschehensablauf angenommen werden. Nach wie vor habe nicht festgestellt werden können, welche äußere oder innere Ursache zum Sturz aus dem Fenster geführt habe.
Das Berufungsgericht sprach aus, die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil eine iSd § 502 Abs 1 ZPO erhebliche Rechtsfrage nicht vorliege.
Die [...] Revision des Kl ist zulässig. Sie ist iSd Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen auch berechtigt.
1. Gem § 175 Abs 1 ASVG sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignen. Entgegen der Beurteilung der Vorinstanzen ist ein Arbeitsunfall des Kl zu bejahen.
2. Unfälle iS dieser Bestimmung sind zeitlich begrenzte Ereignisse, die zu einer Körperschädigung führen (stRsp RIS-Justiz RS0084348). Dass der folgenschwere Sturz des Kl als Unfall anzusehen ist, ist zu Recht nicht strittig. Im Aufprall auf die Straße ist ein zeitlich begrenztes, (von außen) auf den Körper einwirkendes Ereignis zu sehen.
3. Für die Qualifikation eines Unfalls als Arbeitsunfall ist in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten Ereignis (Unfallereignis) geführt hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen – wie im Anlassfall festgestellt – Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (vgl 10 ObS 134/08s, SSV-NF 22/79).
4. Bei der Feststellung einer inneren (oder: sachlichen) Verknüpfung zwischen einem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit geht es um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen UV reicht. Im Vordergrund stehen Verhaltensweisen, die einem vernünftigen Menschen als Ausübung der geschützten Tätigkeit erscheinen (objektive Bedingung) und vom Handelnden auch in dieser Intention entfaltet wurden (subjektive Bedingung; 10 ObS 238/00y, SSV-NF 14/110 mwN). Die Feststellung eines inneren Zusammenhangs ist eine Wertentscheidung. Sie erfordert, sämtliche Gesichtspunkte und Überlegungen mit einzubeziehen und sie sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit zu werten; erst daraus folgt entweder das Vorhandensein eines versicherten Verhaltens oder das Vorliegen privatwirtschaftlicher Verrichtungen. Entscheidend ist, ob die Gesamtumstände dafür oder dagegen sprechen, das unfallbringende Verhalten dem geschützten Bereich oder der Privatsphäre238 des Versicherten zuzurechnen. Die subjektive Meinung, betriebsdienlich tätig zu sein, ist unfallversicherungsrechtlich dann relevant, wenn diese Meinung in den objektiven Verhältnissen eine ausreichende Stütze findet (10 ObS 269/95, SSV-NF 10/7; RIS-Justiz RS0084490).
Private (eigenwirtschaftliche) Verhaltensweisen des Versicherten – zB Essen, Trinken, Körperpflege, Schlafen – stehen grundsätzlich nicht unter Versicherungsschutz. Kommen jedoch besondere wesentlich durch die betriebliche Tätigkeit bedingte Umstände hinzu, wird der Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit noch nicht unterbrochen, denn die gesetzliche UV erstreckt sich auf alle jene Gefahren, denen der Versicherte infolge seiner Betriebstätigkeit ausgesetzt ist. Wird das schädigende Ereignis wesentlich durch die Zugehörigkeit zum Betrieb mitbedingt, haben also betriebliche Einrichtungen bei der Entstehung des Unfalls wesentlich mitgewirkt und wurde der Unfall daher wesentlich durch die Umstände an der Arbeitsstätte oder die Arbeitstätigkeit selbst verursacht – etwa weil sie unter erhöhtem Gefahrenrisiko selbst verursacht wurde und dieses erhöhte Risiko auch tatsächlich zum Unfall geführt hat –, liegt ein Arbeitsunfall vor (10 ObS 165/88, SSV-NF 2/76 mwN; vgl Tomandl in
Ist eine private (eigenwirtschaftliche) Tätigkeit nach ihrer Art und Dauer bei natürlicher Betrachtungsweise so, dass sie nur zu einer zeitlich und räumlich geringfügigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit führt und noch ein innerer Zusammenhang zwischen dem Unfallgeschehen und der betrieblichen Tätigkeit besteht, entfällt der Versicherungsschutz noch nicht (10 ObS 165/88, SSV-NF 2/76; RIS-Justiz RS0084686; vgl 10 ObS 30/08x, SSV-NF 22/22 hinsichtlich eines Wegunfalls; Krasney in
Ein innerer Zusammenhang des Fensteröffnens durch den Kl mit seiner versicherten Tätigkeit ist – im Gegensatz – aufgrund neuer Sachverhaltsgrundlage – zum Vorprozess (siehe 10 ObS 125/04m) – zu bejahen:
Nach den Feststellungen führte der Kl, unmittelbar bevor er das Fenster öffnete, im Rahmen seines die Versicherung begründenden Arbeitsverhältnisses Umzugsarbeiten aus, die er nach dem Öffnen des Fensters fortsetzen wollte. Das Öffnen des Fensters war zwar keine Arbeitstätigkeit ieS, aber von der Intention des Kl getragen, die Temperaturbedingungen im Raum, wo die Umzugsarbeiten auch auszuführen waren, für die beabsichtigte Weiterarbeit zu verbessern. Sie führte auch nur zu einer geringfügigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit, hielt sich doch der Kl schon im Raum auf und nimmt das Öffnen eines Fensters sehr wenig Zeit in Anspruch. Nach den Feststellungen ist davon auszugehen, dass der Kl im unmittelbaren Anschluss an das Öffnen des Fensters aus dem Fenster stürzte. Das Fensteröffnen führte nur zu einer geringfügigen, den Versicherungsschutz nicht aufhebenden Unterbrechung. Diese Verrichtung ist der versicherten Tätigkeit zuzurechnen.
5. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen schadet dem Kl nicht, dass nicht festgestellt werden konnte, welche „äußere oder innere Ursache zum Sturz aus dem Fenster geführt hat“.
Nach den auch in Sozialrechtssachen geltenden Grundsätzen trifft den Versicherten die Beweislast für die rechtsbegründenden Tatsachen. Er hat daher nach der E 10 ObS 30/91 (SSV-NF 5/10) den kausalen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem zur Verletzung führenden Unfall nachzuweisen. Die Entscheidung weist aber dem Unfallversicherungsträger die Beweislast dafür zu, dass durch die Vorgangsweise des Versicherten eine Lösung vom Betrieb eingetreten ist.
Das (deutsche) Bundessozialgericht hat ausgesprochen, verunglückt ein Versicherter unter ungeklärten Umständen an seinem Arbeitsplatz, an dem er zuletzt betriebliche Arbeit verrichtet hatte, so entfällt der Versicherungsschutz nur dann, wenn bewiesen wird, dass er die versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigenwirtschaftliche Verrichtung unterbrochen oder beendet hatte (BSG B 2 U 24/03 R, BSGE 93/34; BSG B 2 U 28/06 R, SGb 2007, 672; zust Schwerdtfeger in
Diese Auffassung steht im Einklang mit der Rsp des OGH, wonach der Unfallversicherungsträger die Beweislast dafür trägt, dass durch die Vorgangsweise des Versicherten eine Lösung vom Betrieb eingetreten ist, und wird vom erkennenden Senat geteilt. Dass unklar geblieben ist, ob eine dem betrieblichen oder eine dem privaten Bereich zuzurechnende Handlung zu dem Sturz des Kl, der zuletzt eine betriebliche Tätigkeit verrichtet hatte, geführt hat, belastet also die Bekl, weil der Beweis, dass der Kl die versicherte Tätigkeit an seinem Arbeitsplatz für eine private Tätigkeit unterbrochen oder beendet hatte, nicht erbracht wurde.
Dass eine bestimmte Ursache des Sturzes nicht festgestellt werden konnte, steht der Annahme eines Arbeitsunfalls nicht entgegen. Der ungeklärte Unfallverlauf belastet den Kl nach der Lage des Falls nicht. Auszugehen ist davon, dass – wie dargelegt – der Kl im Unfallzeitpunkt eine versicherte Tätigkeit verrichtete. Es steht aufgrund der negativen, den OGH bindenden Feststellung des Erstgerichts nicht fest, dass außer der versicherungsrechtlich geschützten Tätigkeit auch außerbetriebliche Umstände als Ursachen in Betracht kommen. Dass ein plötzlicher, nicht betriebsbedingter Schwindelanfall oder eine plötzliche, nicht betriebsbedingte Bewusstlosigkeit als allein wesentliche Ursachen möglich sind, reicht zur Verneinung der Unfallkausalität der versicherten Tätigkeit nicht aus. Kann nämlich nicht festgestellt werden, dass ein Schwindelanfall oder eine Bewusstlosigkeit zum Sturz führten, so scheiden sie schon im naturwis239senschaftlich-philosophischen Sinn als Ursache aus (vgl Krasney in SGB VII-Komm, § 8 Rz 335 mwN; Keller in
6. Der Anspruch des Kl, dessen Erwerbsfähigkeit durch die Gesundheitsstörungen des Arbeitsunfalls zur Gänze gemindert ist, auf eine Versehrtenrente im Ausmaß von 100 vH der Vollrente (§§ 203 Abs 1, 205 ASVG) und eine Zusatzrente für Schwerversehrte im Ausmaß von 50 % seiner Versehrtenrente (§§ 205 Abs 4, 205a Abs 1 Z 2 ASVG), ist zu bejahen. Zur Aufhebung muss es aber kommen, weil die Feststellungen der Vorinstanzen die abschließende Beurteilung des Anfalls der Leistungen (§ 204 ASVG) nicht erlauben. In diesem Punkt wird das Verfahren zu ergänzen und sodann neuerlich zu entscheiden sein.
Der Sachverhalt ist verwirrend und die Begründung des OGH trägt mit ihrer Aneinanderreihung von abstrakten Rechtssätzen, von denen man nicht erfährt, welche Rolle sie dann tatsächlich für die Entscheidung spielen, wenig zur Aufhellung bei.
Aber versuchen wir die Klärung der Reihe nach.
Das Unternehmen einer GesmbH übersiedelt an einem warmen Sommertag von einer noblen Innenstadtadresse an die Peripherie der Stadt, und zwar in das Wohnhaus des Kl (des ehemaligen Geschäftsführers, derzeitigen Angestellten und auch künftigen Geschäftsführers des Unternehmens). An diesem Abend transportiert der Kl Kisten und Schachteln vom alten an den künftigen Firmensitz in seinem Wohnhaus in den Büroräumen im Obergeschoss. Auch wenn man davon ausgeht, dass der Kl als ehemaliger und künftiger Geschäftsführer und derzeit (Noch-)Angestellter ein DN war, dem eine weitreichende eigene Dispositionsbefugnis über die Gestaltung seiner Arbeitstätigkeit zukam, besteht kein Zweifel, dass seine Mithilfe bei der Übersiedlung eines Unternehmens auch dann Teil der versicherten Tätigkeit ist, wenn er sich aufgrund der Gegebenheiten selbst dazu abgeordnet haben sollte und auch selbst über seine zeitliche Inanspruchnahme (es war nach dem festgestellten Sachverhalt zum Unfallzeitpunkt jedenfalls nach 23 Uhr) disponieren konnte (zu den Maßstäben für den Versicherungsschutz von Versicherten mit weiten Entscheidungsspielräumen siehe R. Müller, SV-Komm, § 175 Rz 31–34). Auch die Mischnutzung (vgl dazu R. Müller, SV-Komm § 175 Rz 106 ff) des Hauses als Wohnhaus (des Kl) und Bürohaus (der GmbH) spielt für unseren Fall keine Rolle, weil sich das Drama unstrittig in einem künftigen Büroraum und in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit ereignet hat.
Innerhalb dieses rechtlich maßgeblichen Grundgerüstes ereignete sich der Unfall (Fenstersturz). Es steht nicht fest, dass der Sturz durch die versicherte Tätigkeit verursacht wurde. Der Kl ist weder aufgrund eines Gleichgewichtsverlustes infolge des Gewichts einer Kiste beim Tragen aus dem Fenster gestürzt, noch bei einer anderen betrieblichen Tätigkeit. Wie und wodurch sich der Sturz ereignet hat, ist und bleibt vielmehr ungeklärt.
Auf dem Boden der Sachverhaltsgrundlage des OGH (in unmittelbarem Anschluss an das Öffnen des Fensters erfolgte der Sturz aus dem Fenster) ist die Rechtsfrage wenig überzeugend gelöst. Der OGH verschränkt zwei Rechtsprechungslinien, nämlich jene zum Versicherungsschutz während kurzfristiger Unterbrechungen der versicherten Tätigkeit (2.1.) mit jenem zur Beweiserleichterung durch prima facie-Beweis (2.2.). Beide Ansätze treffen mE nicht die Sache.
2.1.1. Tätigkeiten, wie sie im Alltag des Privatlebens vorkommen, sind nach der Rsp des OGH an sich nicht versichert. Die Verrichtung von Alltagstätigkeiten unterbricht daher für deren Dauer grundsätzlich den Versicherungsschutz nach § 175 Abs 1 ASVG, und zwar auch den Schutz auf Arbeitswegen; dies selbst dann, wenn sich die versicherte Person während der privaten Tätigkeit in einer Rufbereitschaft befindet (OGH10 ObS 264/95SSV-NF 10/2 mwN; OGH10 ObS 55/04tSSV-NF 18/49; OGH10 ObS 133/10xSV-NF 24/67).
Nach der jüngeren Rsp bleibt allerdings der Versicherungsschutz bei kurzen Unterbrechungen der versicherten Tätigkeit unter der Voraussetzung aufrecht, dass eine private Besorgung hinsichtlich ihrer Dauer und Art in die geschützte Tätigkeit nur „eingeschoben“ ist und diese nur geringfügig unterbricht, wenn also die (an sich zur unversicherten Sphäre gehörige) private Verrichtung unbedeutend ist und „quasi im Vorübergehen“ und „ganz nebenher“ erfolgt. Dies gilt für unbedeutende Abweichungen am Arbeitsweg (OGH10 ObS 267/91SSV-NF 5/116; OGH10 ObS 30/08xSSV-NF 22/22 – Abweichen um wenige Schritte, um Schistock zu holen) und mittlerweile auch für kurze Unterbrechungen der versicherten Tätigkeit selbst: Für den OGH maßgeblich ist dabei der zeitliche und räumliche Bewegungsaufwand für die private Verrichtung im Einzelfall. Insgesamt müsse diese private Verrichtung als so unwesentlich in den Hintergrund treten, dass die geschützte betriebliche Tätigkeit dadurch kaum tangiert werde, vor allem, wenn die private Verrichtung von der betrieblichen Tätigkeit nicht klar zu trennen sei (OGH10 ObS 98/09yDRdA 2011/19, 248 [zust R. Müller] – kurze Unterbrechung einer dienstlichen Besprechung im Cafe, um jemandem eine Uhr zur Reparatur auszuhändigen). Es besteht also der Versicherungsschutz bei derartigen kurzen Unterbrechungen der versicherten Tätigkeit nicht nur – wie nach der älteren Rsp – nach der Unterbrechung wieder fort, sondern er besteht auch während der Unterbrechung.
2.1.2. In diese zuletzt genannte Kategorie hat der OGH zwar nicht den Fenstersturz, aber das ihm vorangegangene Öffnen des Fensters eingefügt. Der OGH scheint sich aber selbst nicht sicher gewesen zu240 sein, weil er die Intention des Kl betont, die „Temperaturbedingungen ... für die beabsichtigte Weiterarbeit zu verbessern“. Letztlich scheint dem OGH aber diese Handlungstendenz für eine Zurechnung zur versicherten Tätigkeit selbst nicht auszureichen, weil anders die folgende Argumentation mit der kurzfristigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit nicht verständlich wäre. Es läuft aber im Ergebnis auf dasselbe hinaus, nämlich, dass der Kl beim Öffnen des Fensters nach Auffassung des OGH unter Versicherungsschutz stand.
2.1.3. Wenn jemand sommers in einem Büro seine versicherte Tätigkeit verrichtet, vermag mE der Vorgang des Öffnens des Fensters zum Lüften des Zimmers den Versicherungsschutz an sich nicht zu unterbrechen. Diese Handlungsweise ist eine der Lebenserfahrung entsprechende alltägliche Begleiterscheinung der Büroarbeit und nicht eine von dieser zu trennenden Tätigkeit im Privatinteresse. Fällt bei dieser Gelegenheit zB eine Glasscheibe heraus und verletzt den DN, dann läge mE zweifelsfrei ein Arbeitsunfall vor. Es hätte daher des Rückgriffs auf die Rsp zur Fortdauer des Versicherungsschutzes trotz Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit durch eigenwirtschaftliche Handlungen überhaupt nicht bedurft.
Das Bestehen des Versicherungsschutzes während des Öffnens des Fensters konnte dem Kl aber nur dann nützen, wenn sich der Fenstersturz unmittelbar bei und infolge dieser Tätigkeit ereignet hätte. Gerade das steht aber nicht fest und der OGH geht auch nicht davon aus, da ja sonst der den Versicherungsschutz begründende Kausalzusammenhang mit der (noch) geschützten Tätigkeit des Fensteröffnens und dem Unfall offen zutage läge und es weiterer Erörterungen zur Beweislage nicht bedurft hätte.
Bei der vom OGH angenommenen Sach- und Rechtslage (Fortdauer des Versicherungsschutzes beim Öffnen des Fensters, zeitlich „im unmittelbaren Anschluss“ Sturz aus dem Fenster aus ungeklärter Ursache) „rettet“ der OGH vielmehr den Klagsanspruch in einem zweiten, noch problematischeren Schritt mit der „Keule“ des prima facie-Beweises.
2.2.1. Der prima facie-Beweis verteilt die Beweislast: er verschiebt sie von dem einen Anspruch Behauptenden auf den diesen Anspruch Bestreitenden. Steht ein typischer Geschehensablauf fest, der nach der Lebenserfahrung auf einen bestimmten Kausalzusammenhang (oder ein Verschulden) hinweist, so gelten nämlich die jeweils erforderlichen Tatbestandsvoraussetzungen auch im Einzelfall aufgrund ersten Anscheins als erwiesen. Diese „Anscheinsbeweis“ oder „prima facie-Beweis“ genannte Methode der indirekten Beweisführung entspringt richterlicher Rechtsfortbildung im Rahmen der freien Beweiswürdigung iSd § 272 ZPO zur Bewältigung von Beweisnotständen vorwiegend in Schadenersatzprozessen (Rechberger in
2.2.2. Für den Sozialversicherungsbereich ist diese letzte Frage gelöst. Denn im Leistungsstreitverfahren der SV wird der Anscheinsbeweis in zweifacher Hinsicht modifiziert angewendet: Er wird erst dann als entkräftet erachtet, wenn der alternativen Möglichkeit zumindest die gleiche Wahrscheinlichkeit wie dem anscheinsweise bestehenden Kausalzusammenhang mit dem Arbeitsunfall zukommt (vgl OGH10 ObS 5/93SSV-NF 7/10 mwN; OGH10 ObS 50/94SSV-NF 8/26). Die zweite Modifizierung besteht im Amtswegigkeitsprinzip des sozialgerichtlichen Verfahrens (§ 87 Abs 1 ASGG – vgl dazu und zum Folgenden R. Müller in SV-Komm, Vor §§ 174–177 ASVG, Rz 51 ff [58]).
2.2.3. Ein typischer Kausalverlauf liegt allerdings nicht vor, wenn für bestimmte Beschwerden von vornherein mehrere Ursachen in gleicher Weise in Betracht kommen (OGH10 ObS 31/01hSSV-NF 15/33; OGH10 ObS 391/02aSVSlg 50.067 – zwei gleichwertige mögliche Ursachen für Hepatitis C; OGH10 ObS 146/07dSSV-NF 22/1 = DRdA 2009/15, 232 [Schrammel] – Oberarmbruch als strittige Unfallfolge), wenn feststeht, dass der Leidenszustand durch jederzeit leicht auslösbare Folgen eines Vorschadens entstanden ist (OGH10 ObS 54/02tSVSlg 48.394 – Bindegewebsschwäche) oder wenn der Unfall schlicht nicht im Schutzbereich lag (OGH10 ObS 343/02tSVSlg 48.381 = SVSlg 50.066 – Unfall abseits des möglichen Arbeitsweges; OGH 18.3.2003, 10 ObS 70/03x – Freizeitunfall eines Jägers mit ungesicherter Schusswaffe).
2.3.1. Bedenkt man, dass dem bekl Versicherungsträger gegen den prima facie-Beweis in einem amtswegigen Verfahren nur mehr das Gelingen einer probatio diabolica, also in Wahrheit nahezu nichts mehr hilft, dann sollte man erwarten, dass der OGH das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung des prima facie-Beweises besonders genau und nachvollziehbar prüft. Dies ist hier aber nicht geschehen: Die zulässigen und in der Rsp gezogenen Grenzen des Anscheinsbeweises wurden vielmehr aus den Augen verloren.
2.3.2. Man sollte sich zunächst vergegenwärtigen, was die E des OGH in diesem Punkt bedeutet: Es steht zwar nicht fest, welche Handlung des Kl zum Fenstersturz geführt hat, da er aber davor eine betriebliche Tätigkeit verrichtet hat (Transport und Auspacken von Kartons mit Bürounterlagen), wird vermutet, dass auch der Fenstersturz vom Versicherungsschutz umfasst ist.241
Dagegen lässt sich Mehreres einwenden:
Erstens ist es nicht schlüssig, wenn zwar bei gleicher Wahrscheinlichkeit einer versicherten und einer nicht versicherten Ursache eines Arbeitsunfalls der prima facie-Beweis versagt, aber dann, wenn die Ursache überhaupt nicht feststellbar ist (also bei Fehlen des Gegenstandes einer Wahrscheinlichkeitsbeurteilung) plötzlich greifen soll. Zum Zweiten ist nicht zu erkennen, dass ein für den Unfallhergang typischer Kausalverlauf oder – wie der OGH noch im Ausgangsprozess des Kl sagte – „eine typische formelhafte Verknüpfung der bewiesenen Tatsache und dem gesetzlich geforderten Tatbestandselement“ (OGH 14.9.2004, 10 ObS 125/04m) im Hintergrund stünde und in welcher Hinsicht der OGH von einem solchen ausgeht.
Jene Fälle des Bundessozialgerichts, deren Rechtssatz der OGH im oben wiedergegebenen Leitsatz 1 übernommen hat, waren völlig anders gelagert: In einem Fall ging es um einen Sturz von einer Kranplattform (B 2 U 28/06 R) und im zweiten Fall um den Sturz von einem Dach (B 2 U 24/03 R), von exponierten Orten also, auf denen die jeweils Betroffenen die versicherte Tätigkeit zu verrichten hatten. Im erstgenannten Fall bestand als potentielle (unversicherte) Alternativursache der Verdacht eines Suizides und im zweiten Fall kam in Betracht, dass sich der Versicherte zwecks Erleichterung des Kirschenpflückens während einer Arbeitsunterbrechung auf einen ungesicherten Teil des Daches begeben hatte. In diesen Konstellationen (Sturz von einem exponierten Arbeitsort bei einschlägiger Gefährdungslage) entspricht es durchaus dem Normzweck der UV, Hinterbliebene nur wegen der bloßen Möglichkeit einer unversicherten Ursache nicht mit dem kaum zu erbringenden Negativbeweis zu belasten, dass der Sturz nicht Folge eines Suizidversuchs bzw nicht des Versuchs des Kirschenpflückens war, sondern vielmehr bis zum Beweis des Gegenteils von einer Verwirklichung der versicherten Gefährdungslage auszugehen.
Unser Fall ist damit nicht vergleichbar: Beim Auspacken von Buchhaltungsunterlagen und anderer Büromaterialien aus Transportschachteln in einem Büroraum (wie sie der Kl nach den Feststellungen im Anschluss an das Öffnen des Fensters vor hatte) fällt man nicht typischerweise aus dem geöffneten Fenster. Bei Stürzen von Büroangestellten aus Bürofenstern besteht typischerweise vielmehr gerade kein Kausalzusammenhang mit der Bürotätigkeit. Und vor allem: Wenn man nicht weiß, wie der Unfall passiert ist, und auch keine typische Gefährdungslage bestanden hat, gibt es keine konkreten alternativen Kausalverläufe, hinsichtlich derer der erste Anschein die Beweislast verteilen könnte.
2.3.3. Der OGH lässt diesen Unfall also im Ergebnis als Arbeitsunfall gelten, obwohl er sich nur im nahen zeitlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit ereignete. Der nicht weiter feststellbare innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit soll dann offenbar prima facie (und de facto unwiderleglich!) vermutet werden können. Damit wird der prima facie-Beweis weit entfernt von einer Anknüpfung an typische Kausalverläufe und ohne Bestehen einer einschlägigen Gefährdungslage kommentarlos auf die Wertungsfrage der Zurechnung des Unfallgeschehens zum Schutzbereich (die an sich nach dem Grundsatz der wesentlichen Bedingung erfolgt – vgl dazu mwN R. Müller in SV-Komm, Vor §§ 174–177 Rz 36 ff) übertragen. Wenn aber nach den Tatsachenfeststellungen nicht einmal die Ursache des Fenstersturzes (iSd naturwissenschaftlichen Kausalzusammenhanges) feststellbar ist, fehlt es am Objekt der möglichen Zurechnung. Weil eben nur ein zeitlicher und sonst kein anderer Zusammenhang mit dem Schutzbereich des § 175 ASVG besteht. War die versicherte Beschäftigung „Schauplatz, nicht aber Ursache des Verletzungsereignisses“ (Tomandl in
Der OGH überspielt die Nichtfeststellbarkeit der Ursachen eines Arbeitsunfalls durch einen verfehlten prima facie-Beweis bei der Zurechnung: Die Ursache des Fenstersturzes (ausgenommen das offene Fenster) ist zwar nicht bekannt, dieser wird aber dem Schutzbereich des § 175 zugerechnet, weil unmittelbar vorher Versicherungsschutz bestanden hat. In der Paraphrasierung eines berühmten Kabarett-Songs: Man weiß zwar nicht genau wie der OGH zum Versicherungsschutz kommt, aber dafür ist er rascher dort. Bei aller menschlichen Tragik des Falles – mE eine Fehlentscheidung.242