Reiter-Zatloukal/Rothländer/Schölnberger (Hrsg)Österreich 1933 – 1938

Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2012
400 Seiten, gebunden, € 39,–

JOSEFCERNY (WIEN)

Obwohl das politische System der Jahre 1933 bis 1938 in Österreich Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen war, ist die Bewertung dieser Periode der österreichischen Zeitgeschichte sowohl in der Wissenschaft als auch in der politischen Diskussion nach wie vor umstritten.

Das vorliegende Buch bietet den aktuellen Forschungsstand sowie neue Perspektiven der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu diesem Thema. Es beruht auf einem von den Herausgeberinnen von 24. bis 26.1.2011 am Wiener Juridicum organisierten und von der Wiener Rechtswissenschaftlichen Fakultät veranstalteten Symposium. Das Besondere daran ist der interdisziplinäre Zugang, der auch im Untertitel des Buches zum Ausdruck kommt: „Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime“. Ziel des Symposiums und auch des Buches war es, den Dialog und die Diskussion zwischen den juristischen bzw rechtshistorischen Wissenschaften und den geschichtswissenschaftlichen, politologischen bzw staatswissenschaftlichen Disziplinen voran zutreiben, um der Komplexität der damaligen politischen, ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse gerecht zu werden.

Der interdisziplinäre Ansatz spiegelt sich sowohl in der fachlichen Kompetenz der Herausgeberinnen und der AutorInnen als auch in der Breite der Themenschwerpunkte wider: Ilse Reiter-Zatloukal ist ao Universitätsprofessorin am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien; Christiane Rothländer ist Historikerin und Lektorin am gleichen Institut, und Pia Schönberger ist Historikerin und Provenienzforscherin an der Albertina Wien.

Das Buch gliedert sich in acht Themenschwerpunkte, zu denen insgesamt 26 Autorinnen und Autoren Beiträge verfasst haben.

Im Kapitel „Verfassung und Konkordat“ schreibt Helmut Wohnout über „Die Verfassung 1934 im Widerstreit der unterschiedlichen Kräfte im Regierungslager“. Ewald Wiederins Beitrag trägt den Titel „Christliche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grundlage: Eine Strukturanalyse der Verfassung 1934“, und Stefan Schima geht der Frage nach „Überschätzt von Freund und Feind? Das österreichische Konkordat 1933/34“.

Der Themenschwerpunkt „Oppositionsbekämpfung“ wird von den Herausgeberinnen als Autorinnen behandelt. Ilse Reiter-Zatloukal untersucht „Repressivpolitik und Vermögenskonfiskation 1933 – 1938“, Christine Rothländer „Die Durchführungspraxis des politisch motivierten Vermögensentzugs in Wien 1933 – 1938“, und der Beitrag von Pia Schönberger trägt den Titel „Ein Leben ohne Freiheit ist kein Leben. Das ‚Anhaltelager‘ Wöllersdorf 1933–1938“.

„Politische Gewalt und Justiz“ ist der nächste Themenschwerpunkt. Der Historiker Winfried R. Gascha setzt sich unter dem Titel „Opferzahlen als Tabu. Totengedenken und Propaganda nach Februaraufstand und Juliputsch 1934“ mit der Frage auseinander, wer zu den Opfern des 12.2.1934 gezählt wurde. Der Strafrechtler Frank Höpfel prüft die Berechtigung, die Februarkämpfe mithilfe heute international gültiger Definitionskriterien als Bürgerkrieg oder bewaffneten nationalen Konflikt zu definieren: „Gewaltexzesse im Bürgerkrieg: Zur juristischen Aufarbeitung von Verbrechen während eines nichtinternationalen bewaffneten Konflikts“. Ebenfalls aus strafrechtlicher Perspektive bemüht sich Karin Bruckmüller um die „Legistische und judizielle Aufarbeitung des Juliputsches“.

Der Abschnitt „Wirtschaft und Arbeit“ wird durch den Beitrag des Rechtsvergleichers Alessandro Simma „Der Faschismus und die Große Transformation. Modernisierung und soziale Befriedung in den europäischen Diktaturen“ eingeleitet. Der Politikwissenschaftler Emmerich Talos analysiert die Situation der AN während der austrofaschistischen Diktatur: „Austrofaschismus und Arbeiterschaft“, und der Arbeits- und Sozialrechtswissenschaftler Walter Schrammel betitelt seinen Beitrag mit „Arbeits- und sozialrechtliche Reformen im Austrofaschismus“.353

Das nächste Kapitel ist der austrofaschistischen Geschlechterpolitik gewidmet. Die Rechtswissenschaftlerin Neda Bei weist in ihrem Beitrag nach, dass die aus heutiger Sicht nahezu skurril erscheinende Regelung der „Doppelverdienerverordnung“ über den Abbau verheirateter weiblicher Personen und andere dienstrechtliche Maßnahmen die verfassungsrechtlich festgeschriebene Geschlechtergleichheit aufgehoben und zu einer Verdrängung der Frauen aus der österreichischen Beamtenschaft geführt hat. Biografien einzelner Frauen, die Widerstand gegen den Austrofaschismus geleistet haben, stehen im Mittelpunkt des Beitrags der Historikerin Katrin Nusko, und der Historiker Ernst Hanisch untersucht „Traditionelle Männlichkeitsrollen im ‚Austrofaschismus‘“.

Der Abschnitt „Wissenschaftsgeschichte“ wird durch einen Beitrag von Thomas Olechowski und Kamila Staudigl-Ciechowicz über „Die Staatsrechtslehre an der Universität Wien 1933 – 1938“ eingeleitet. Dabei ist vor allem die Darstellung der unterschiedlichen Reaktionen der beiden – auch in der Zweiten Republik noch als „Ikonen“ ihres Faches verehrten – Ordinarien für Staatsrecht Adolf Merkl und Ludwig Adamovich auf die Neuerungen der „Maiverfassung“ interessant. Während Merkl an den Normen betreffend die Grundrechte, insb an den Bestimmungen über die Degradierung der Meinungs- und Pressefreiheit zu einem „biegsamen Grundrecht“ scharfe Kritik übte, war eine solche bei Adamovich, der von Schuschnigg im Februar 1938 als Justizminister in die Regierung berufen wurde, nicht einmal im Ansatz zu erkennen.

Die Historikerin und Germanistin Lucile Dreidemy nennt ihren Beitrag „Dollfuß – biografisch. Eine Längsschnittanalyse des biografischen Diskurses über Engelbert Dollfuß“, und der Zeitgeschichtler Florian Wenninger behandelt das Problem der Äquidistanz der Forschung am Beispiel des Austrofaschismus.

Im vorletzten Themenschwerpunkt, dem Umgang mit dem Austrofaschismus in der Kriegs- und Nachkriegszeit, stellt der Zeithistoriker und Jurist Oliver Rathkolb unter dem Titel „Elimination of Austro-Fascists from Post of Influence“ die Nachkriegsplanungen der USA für eine umfassende Entfaschisierung Österreichs noch vor Kriegsende dar. Die Zeithistorikerin Brigitte Bailer schreibt über die „Abgeltung von Verfolgungsschäden der Jahre 1933 bis 1938 vor dem Hintergrund von Parteienauseinandersetzungen, Rückstellungsgesetzen und ahistorischer Gleichsetzung“, und der Zivilrechtler Georg Graf liefert eine kritische Analyse der Rückgabegesetze. Der letzte Beitrag in diesem Kapitel stammt von der Historikerin Maria Mesner zum Thema „Rückgabe. Nicht Restitution. Am Beispiel der SPÖ“.

Der abschließende Themenschwerpunkt ist der Frage der Rehabilitierung im Zusammenhang mit im Austrofaschismus verfolgten und verurteilten Personen gewidmet. Anhand der Darstellung der Rehabilitierung der jahrzehntelang umstrittenen Gruppe der Wehrmachtsdeserteure zeigen die Politikwissenschaftler Walter Manoschek und Thomas Geldmacher den schwierigen Weg einer letztlich erfolgreichen Rehabilitierung auf, die nun auch für die Opfer des Austrofaschismus und deren Angehörige Realität geworden ist. Der Sammelband endet mit einer Darstellung der Entstehungsgeschichte und des Inhalts des Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetzes 2011 von Ilse Reiter-Zatloukal.

Für LeserInnen dieser Zeitschrift von besonderem Interesse sind wohl die Beiträge von Talos und Schrammel. Sie unterscheiden sich sowohl in der wissenschaftlichen Methodik als auch im Ergebnis: Während Talos nach einer sorgfältigen Analyse der sozialen und materiellen Situation der Arbeiterschaft, der politischen Veränderungen der Rahmenbedingungen der Interessenvertretung sowie der Ausrichtung und Realisierung der Politik des Austrofaschismus zu einer eindeutig negativen sozialpolitischen Bewertung kommt, ist Schrammel sichtlich um eine differenzierte, möglichst „wertfreie“ Darstellung arbeits- und sozialrechtlicher Maßnahmen (im Titel seines Beitrags nennt er sie euphemistisch „Reformen“) im Zeitraum vom 4.3.1933 bis zum 12.3.1938 bemüht. Zur „Systematisierung des Themas“ versucht er, zwischen „nicht politischen“ und „politischen Regelungen“ zu unterscheiden – ein Versuch, der schon im Ansatz scheitert, weil auch bei jenen Regelungen, die Schrammel als „nicht politisch“ bezeichnet, die politischen Implikationen unübersehbar sind. Dessen ist sich offenbar auch der Autor selbst bewusst, indem er einräumt, dass die Grenzziehung „allerdings fließend“ sei. So bleibt Schrammels Beitrag im Wesentlichen deskriptiv, ohne die ökonomischen, sozialen und politischen Konsequenzen der beschriebenen Maßnahmen näher zu untersuchen.

Talos nimmt schon in der Einleitung seines Beitrags das Ergebnis seiner Analyse vorweg: Entgegen dem Selbstbild und den propagandistischen Ankündigungen des austrofaschistischen Regimes sei die politische und soziale Realität nicht von der Mitbestimmung sowie der Aufrechterhaltung der sozialen Rechte der Arbeiterschaft, sondern von Ausgrenzung und Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen geprägt gewesen. Massenarbeitslosigkeit, Verelendung, Ausschaltung einer freien und eigenständigen Interessenvertretung der Arbeiterschaft, finanzpolitischer Dogmatismus statt Arbeitsbeschaffung sowie Kürzungen der Leistungen und Verschlechterungen auf allen Ebenen sozialstaatlicher Sicherung hätten zu einer „Schieflage zulasten der Arbeiterschaft“ geführt.

„Trotz Beibehaltung von Elementen der sozialpolitischen Tradition vor 1933 und selektiver Gegenwehr durch den Einheitsgewerkschaftsbund realisierte der Austrofaschismus mit den Änderungen im Bereich des Arbeitsrechtes und der Sozialversicherung eine Abbaupolitik, wie wir sie in diesem Ausmaß für keine andere Phase der Entwicklung der österreichischen Sozialpolitik – mit Ausnahme der Jahre 1938 bis 1945 – konstatieren konnten.“

Die Problematik des methodischen Zugangs im Beitrag von Schrammel wird schon im ersten Abschnitt deutlich: Wenn unter dem Titel „Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes“ durch Regierungs-Verordnung massiv in die Arbeitsverträge von Bankangestellten und Bediensteten der ÖBB eingegriffen wurde, durch die schon erwähnte „Doppelverdienerverordnung“ Frauen aus dem öffentlichen Dienst verdrängt, und „um die Beschäftigung anzukurbeln“ arbeitsrechtliche Schutzvorschriften zurückgenommen wurden, kann man wohl kaum von „nicht politischen“ Regelungen sprechen. Die Beseitigung der Selbstverwaltung bei den Arbeiterkammern, das Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die Auflösung sozialdemokratischer Organisationen und der bestehenden Gewerkschaften und die Errichtung eines Einheitsgewerkschaftsbundes werden zwar von Schrammel zu Recht als „politische Regelungen“ eingestuft, ohne jedoch zu erwähnen, dass durch diese autoritären Maßnahmen die Grundlagen des demokratischen Sozialstaates zerstört wurden. Völlig unverständlich ist in diesem Zusammenhang, dass im Beitrag von Schrammel mit keinem Wort auf die Streikverordnung vom 21.4.1933 eingegangen wird, die die Möglichkeiten des „legalen“ Streiks eng begrenzte und vor allem politische Streiks kriminalisierte. Keinerlei Verständnis kann ich auch dafür aufbringen, dass Schrammel zum Entzug und zur zwangsweisen Übertragung des Vermögens der aufgelösten Gewerkschaften auf den Einheitsgewerkschaftsbund nur lapidar feststellt: „Der Gewerkschaftsbund erhielt dadurch eine entsprechende materielle Ausstattung.

Eine gründlichere Auseinandersetzung als sie im Rahmen einer Buchbesprechung möglich ist, erfordern Schram354mels Ausführungen zur Neuregelung des Betriebsräterechts im autoritären Ständestaat. Nach einer rechtstechnischen Beschreibung des „Übergangs“ vom Betriebsrätegesetz 1919 auf das am 1.8.1934 in Kraft getretenen Gesetz über die Errichtung von Werksgemeinschaften (WGG) stellt Schrammel die These auf, dieses Gesetz, das in Wahrheit einen totalen Bruch mit den Grundsätzen einer demokratischen Betriebsverfassung bedeutete, hätte „materiell ... zu keinen Änderungen der zuvor bestehenden Rechtslage geführt“. Abgesehen von der grundlegend anderen ideologischen Ausrichtung, nach der die Werksgemeinschaften „als Zellen des berufsständischen Aufbaues gedacht“ (Zitat bei Filla, Zwischen Integration und Klassenkampf 121) waren, wurden auch die Rechte der Vertrauensmänner gegenüber den Befugnissen der Betriebsräte in wesentlichen Punkten eingeschränkt, wobei das Vetorecht des Betriebsinhabers bei allen in den Aufgabenbereich der Werksgemeinschaft fallenden Befugnissen zusätzlich ins Gewicht fällt (Näheres bei Filla 124). Schließlich stellt Schrammel selbst fest, dass das WGG gegenüber dem BRG 1919 eine „beachtliche Einschränkung der Interessenvertretungsaufgabe“ hinsichtlich der Mitwirkungsbefugnisse in wirtschaftlichen Angelegenheiten gebracht hat. Schrammels These, dass sich die Rechtslage gegenüber dem BRG materiell nicht geändert habe, ist somit nicht haltbar.

Talos bringt es auf den Punkt:

„Durch die Bindung ihres Tätigkeitsbereiches an die Werksgemeinschaft war die Eigenständigkeit dieser neu geschaffenen betrieblichen Repräsentanten der Arbeiterschaft aufgehoben.“

Trotz der kritischen Anmerkungen zum Beitrag von Schrammel bleibt als Resumé:

Ein wichtiges Buch, das mehr Licht in ein dunkles Kapitel der österreichischen Geschichte bringt. Ein Buch, das Pflichtlektüre für Studierende, aber auch für jene sein sollte, die ein politisches Mandat ausüben oder ein solches anstreben und bereit sind, aus der Geschichte zu lernen.