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Beitragsaufrechnung nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG und Beitragshaftung nach § 67 Abs 10 ASVG

CHRISTOPHKIETAIBL (WIEN)
§§ 34, 58 Abs 5, 67 Abs 10, 103 Abs 1 Z 1; 111 ASVG § 69 IO
  1. Vom Arbeits- und Sozialgericht kann über die Aufrechnung von geschuldeten Beiträgen auf die vom Versicherungsträger zu erbringenden Leistungen gem § 103 Abs 1 Z 1 ASVG nur dann entschieden werden, wenn die Beitragsschuld entweder unbestritten ist oder rechtskräftig festgestellt wurde.

  2. Die Aufrechnung nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG ist nicht nur gegenüber dem primären Beitragsschuldner möglich, sondern auch gegenüber nach § 67 Abs 10 ASVG mithaftenden Vertretern juristischer Personen.

  3. Eine Aufrechnung ist nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG nur zulässig, wenn mit Beitragsforderungen aufgerechnet wird, die infolge der Verletzung einer spezifischen, im Sozialversicherungsrecht begründeten Verpflichtung unberichtigt geblieben sind, also gegenüber vertretungsbefugten Organen nur mit Beitragsforderungen, die auf der Verletzung einer der in den von § 67 Abs 10 ASVG sanktionierten Pflichtenkreis fallenden Verpflichtung beruhen. Hingegen ist nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG keine Aufrechnung mit Beiträgen möglich, die ein vertretungsbefugtes Organ auf Grund schadenersatzrechtlicher Haftung schuldet.

Der Kl [...] war Geschäftsführer einer GmbH. Gegenüber dieser Gesellschaft steht der Wiener Gebietskrankenkasse (im Folgenden: „WGKK“) für den Zeitraum Dezember 2001 bis Mai 2003 eine Forderung von 13.897,10 € (zuzüglich Zinsen und Nebengebühren) an unbeglichenen Sozialversicherungsbeiträgen zu. Mit Beschluss des Handelsgerichts Wien [...] wurde der Konkursantrag der WGKK mangels kostendeckenden Vermögens abgewiesen. Derzeit bezieht der Kl von der Bekl eine monatliche Pension von 2.479,47 € brutto. [...] Mit Bescheid vom 14.7.2010 sprach die Bekl aus, dass auf den Leistungsanspruch des Kl mit der offenen Forderung der WGKK an Beiträgen zur SV in Höhe von 13.897,10 € zuzüglich Verzugszinsen389ab 1.7.2010 aufgerechnet werde. Der Aufrechnung liegt das rechtskräftige und vollstreckbare Urteil des LG Korneuburg vom 15.7.2009 [...] zugrunde [...], mit dem der Geschäftsführer wegen schuldhafter Verletzung von Gläubigerschutzbestimmungen schuldig erkannt wurde, der WGKK 13.897,10 € samt 4 % Zinsen ab 1.5.2004 zu bezahlen. [...] Aus der Begründung dieses Urteils ergibt sich, dass der Geschäftsführer den Forderungsausfall der WGKK durch Verletzung von Schutznormen iSd § 1311 ABGB, insb seiner Konkursantragstellungspflicht gem § 69 KO sowie durch kridamäßiges Verhalten iSd § 159 Abs 5 StGB verursacht habe. [... ] In jedem Monat des Fortbetriebs seien neue Verbindlichkeiten angefallen, die nicht bedient haben werden können. Da den Trägern der SV haftungsrechtlich der Status von Neugläubigern zukomme, haben sie Anspruch auf Ersatz jener uneinbringlicher Sozialversicherungsbeiträge, die nicht entstanden wären, wenn der Geschäftsführer der GmbH rechtzeitig seiner Konkursantragstellungspflicht nachgekommen wäre. [...]

Mit der vorliegenden Klage wendet sich der Kl gegen den von der Bekl erlassenen Aufrechnungsbescheid und begehrt die Feststellung, dass die Bekl nicht berechtigt sei, mit [...] Beiträgen zur SV [...] gegen seinen Leistungsanspruch auf die ihm zustehende Pension aufzurechnen. Eine Aufrechnung nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG sei mangels Vorliegens der Aufrechnungsvoraussetzungen nicht zulässig. Die Bekl [...] macht im Wesentlichen geltend, [...] die Aufrechnung werde [...] auf das rechtskräftige und vollstreckbare Urteil des LG Korneuburg gestützt. Da sich aus dem Urteil des LG Korneuburg eine gesetzliche Haftung des Kl für die Beitragsschulden ergebe, sei die Aufrechnung zulässig.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl Folge. [...] Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil höchstgerichtliche Rsp zur Zulässigkeit der Aufrechnung fehle, wenn ein nach § 67 Abs 10 ASVG Mithaftender ausschließlich aufgrund eines Urteils wegen Insolvenzverschleppung in Anspruch genommen werde. [...] Gegen diese E richtet sich die Revision der Bekl. [...]

1. Nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG dürfen die Versicherungsträger auf die von ihnen zu erbringenden Geldleistungen vom Anspruchsberechtigten einem Versicherungsträger nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz geschuldete fällige Beiträge (§ 58 Abs 6 ASVG), soweit das Recht auf Einforderung nicht verjährt ist, aufrechnen. Vom Arbeits- und Sozialgericht kann über die Aufrechnung von geschuldeten Beiträgen auf die vom Versicherungsträger zu erbringenden Leistungen gem § 103 Abs 1 Z 1 ASVG nur dann entschieden werden, wenn die Beitragsschuld entweder unbestritten ist oder rechtskräftig festgestellt wurde (RIS-Justiz RS0121466; RS0118869). Eine Beitragsschuld ist dann rechtskräftig festgestellt, wenn die der Rechtskraft fähige Entscheidung im administrativen Instanzenzug unanfechtbar ist (10 ObS 164/06z, SSV-NF 20/76). [...] Seit dem Inkrafttreten des Steuerreformgesetzes 2000, BGBl I 1999/106 mit 1.10.1999 ist eine Aufrechnung aber auch „trägerübergreifend“ zulässig (RIS-Justiz RS0115709).

2.1. Nach § 67 Abs 10 ASVG haften die zur Vertretung juristischer Personen berufenen Personen im Rahmen ihrer Vertretungsmacht neben den durch sie vertretenen Beitragsschuldnern für die von diesen zu entrichtenden Beiträge insoweit, als die Beiträge infolge schuldhafter Verletzung der den Vertretern auferlegten Pflichten nicht eingebracht werden können. Das vertretungsbefugte Organ haftet damit unter bestimmten Voraussetzungen subsidiär für die Beitragsschulden juristischer Personen und wird selbst zum Beitragsschuldner. Die Aufrechnungsbestimmung des § 103 Abs 1 Z 1 ASVG bezieht sich somit nicht nur auf die GmbH als Beitragsschuldner, sondern auch auf deren Geschäftsführer als nach der gesetzlichen Anordnung des § 67 Abs 10 ASVG Beitragsmithaftende. [...]

2.2. Inhaltlich handelt es sich bei den Pflichten nach § 67 Abs 10 ASVG, deren Verletzung eine der Voraussetzungen für die Haftung des Geschäftsführers ist, um spezifische sozialversicherungsbeitragsrechtliche Verpflichtungen. [...] Die Haftung gem § 67 Abs 10 ASVG beruht somit auf der Verletzung von in den Sozialversicherungsgesetzen selbst enthaltenen, beitragsrechtlichen Verpflichtungen und sanktioniert die nicht ordnungsgemäße Befriedigung bereits entstandener Beitragsschulden.

2.3. Davon zu unterscheiden ist eine allfällige sonstige, im Zivilrechtsweg geltend zu machende Haftung, die den Geschäftsführer einer GmbH zB deshalb treffen kann, weil er durch die Verzögerung der Antragstellung auf Insolvenzeröffnung iSd § 69 IO [...] die Gläubiger durch das Entstehen zusätzlicher Verbindlichkeiten geschädigt hat. Die Pflicht, die Entstehung von Beitragsforderungen bei der Gesellschaft durch Betriebseinstellung bzw durch rechtzeitige Beantragung der Insolvenzeröffnung iSd § 69 IO zu vermeiden, fällt demnach nicht in den in § 67 Abs 10 ASVG sanktionierten Pflichtenkreis (VwGH

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1991
, 90/08/0045). Auch der OGH hat bereits ausgesprochen, dass die Fälle der Geschäftsführerhaftung für Kridadelikte durch § 67 Abs 10 ASVG nicht erfasst werden sollen (5 Ob 522/94 = RIS-Justiz RS0083937). Weder die Herbeiführung der Zahlungsunfähigkeit einer GmbH noch die Verschleppung deren Insolvenz verletze eine beitragsrechtliche Pflicht, die in den Sozialversicherungsgesetzen selbst normiert wäre (1 Ob 50/99f, SZ 72/76).

3. Zur Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen infolge Verletzung von Schutzgesetzen iSd § 1311 ABGB steht dem Sozialversicherungsträger – wie auch den anderen Gläubigern – der Zivilrechtsweg offen (1 Ob 50/99f, SZ 72/76; Derntl in

Sonntag
, ASVG2 § 67 Rz 80d). [...] Die Geltendmachung von Schadenersatzforderungen wegen Verletzung von Gläubigerschutzbestimmungen ist aber auch dann im ordentlichen Rechtsweg zulässig, wenn der Sozialversicherungsträger mittels Erlassung eines Haftungsbescheids ebenso die öffentlich-rechtliche Ausfallhaftung nach § 67 Abs 10 ASVG für dieselben Beitragsschulden hätte realisieren können, weil der Geschäftsführer nach Eintritt der Fälligkeit von Sozialversicherungsbeiträgen zugleich eine der durch § 67 Abs 10 ASVG sanktionierten spezifischen Handlungspflichten missachtet hat (RIS-Justiz RS0111939).390

4. Für den vorliegenden Fall ergibt sich aus diesen Grundsätzen:

[...] Ob eine Aufrechnung nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG zulässig ist, hängt davon ab, ob mit fälligen Beitragsforderungen aufgerechnet wird, die infolge Verletzung einer spezifischen, im Sozialversicherungsrecht begründeten Verpflichtung unberichtigt geblieben sind, also infolge Verletzung einer der in den von § 67 Abs 10 ASVG sanktionierten Pflichtenkreis fallenden Verpflichtung [...].

Soweit die Revisionswerberin demgegenüber die Ansicht vertritt, die Aufrechnung nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG sei auch mit Beiträgen, die aufgrund von Schadenersatzforderungen geschuldet werden, zulässig (vgl in diesem Sinne auch Derntl, Die Aufrechnung mit Beiträgen gemäß § 103 ASVG, SozSi 2003/188 ff und 308 ff [309 f]), ist dieser Ansicht entgegenzuhalten, dass die Versicherungsträger nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG auf die von ihnen zu erbringenden Geldleistungen (nur) vom Anspruchsberechtigten einem Versicherungsträger nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz geschuldete fällige Beiträge (§ 58 Abs 6 ASVG), soweit das Recht auf Einforderung nicht verjährt ist, aufrechnen dürfen. Dabei kann es sich nach Ansicht des erkennenden Senats nur um solche Beiträge handeln, die der Anspruchsberechtigte nach den beitragsrechtlichen Bestimmungen des Sozialversicherungsrechts schuldet. Dies ergibt sich zunächst daraus, dass die im ersten Halbsatz des § 103 Abs 1 Z 1 ASVG zitierte Bestimmung des § 58 Abs 6 ASVG auf die Fälligkeit der Beiträge nach dem ASVG abstellt. Dafür spricht aber auch, die im zweiten Halbsatz des § 103 Abs 1 Z 1 ASVG enthaltene Beschränkung der Aufrechnungsberechtigung auf Beiträge, hinsichtlich der das Recht auf Einforderung nicht verjährt ist. Damit wird nämlich auf die im § 68 Abs 2 ASVG geregelte Verjährung des Rechts auf Einforderung festgestellter Beitragsschulden und auf das in § 64 ASVG geregelte Verfahren zur Eintreibung der Beiträge Bezug genommen. Eine solche Eintreibung ist aber nur gegen Personen zulässig, die nach dem ASVG (oder nach einem anderen Sozialversicherungsgesetz) zur Beitragszahlung verpflichtet sind, nicht aber gegen Personen, gegen die der Versicherungsträger seine bestrittenen Forderungen nur vor den ordentlichen Gerichten geltend machen und aufgrund eines gesetzlichen Exekutionstitels eintreiben kann (vgl 10 ObS 338/89, SSV-NF 4/162 mwN). [...]

Anmerkung

1. Die E des OGH ist nicht überraschend. Der Gerichtshof hat bereits in der Vergangenheit wiederholt ausgesprochen, dass eine Aufrechnung nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG nur mit solchen Beiträgen möglich ist, die der Aufrechnungsgegner auf Grund sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften schuldet, nicht aber mit Beitragsschulden, die auf privatrechtlichem Verpflichtungsgrund beruhen (OGH 18.12.1990, 10 ObS 338/89; OGH 10.12.2002, 10 ObS 380/02h; OGH 12.2.2002, 10 ObS 10/02x). Diese Entscheidungen betrafen zwar Fälle, in denen die Beitragsschuld auf rechtsgeschäftlicher Bürgschaftserklärung beruhte, wohingegen im vorliegenden Fall die Beitragsschuld des Geschäftsführers auf dessen zivilrechtlicher Haftung wegen Insolvenzverschleppung beruhte, also auf einem gesetzlichen Schuldverhältnis. Beide Male beruht die Beitragsschuld aber nicht auf sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften, sodass die Nichtzulassung der Aufrechnung im vorliegenden Fall eine konsequente Fortsetzung der bisherigen Judikatur ist.

2. Die in dieser E vom OGH beibehaltene Auslegung, wonach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG ausschließlich die Aufrechnung mit Beitragsschulden auf Grund sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften erlaubt, ist gut vertretbar. Der Gesetzeswortlaut verlangt eine solche Auslegung aber nicht zwingend. Das Gesetz spricht bloß von „nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz geschuldete fällige Beiträge (§ 58 Abs 6)“, was auch die Erfassung von Beitragsschulden decken würde, welche (wie jene im vorliegenden Fall) auf schadenersatzrechtlichen Regelungen beruhen (vgl bereits treffend Derntl, SozSi 2003, 308). Bis zur Novelle BGBl 1999/106 enthielt das Gesetz überhaupt nur die Wendung „geschuldete fällige Beiträge (§ 58 Abs 6)“, was sogar die Erfassung auch von Beitragsschulden auf Grund rechtsgeschäftlicher Verpflichtung erlaubt hätte.

Dennoch deutet aber einiges darauf hin, dass § 103 Abs 1 Z 1 ASVG zumindest in der geltenden Fassung nur die Aufrechnung mit unmittelbar auf sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen beruhenden Beitragsforderungen vor Augen hat. In diesem Zusammenhang ist zunächst der Klammerverweis auf § 58 Abs 6 ASVG zu nennen, der sich nur auf die sozialversicherungsrechtliche Beitragspflicht bezieht. Ferner musste dem Gesetzgeber bei der Neufassung des § 103 Abs 1 Z 1 ASVG durch die Novelle BGBl 1999/106 bekannt sein, dass der OGH diese Bestimmung restriktiv auslegt und darunter nur unmittelbar auf dem ASVG beruhende Beitragsforderungen subsumiert (vgl OGH

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1990
, 10 ObS 338/89). Dennoch ist die Novelle BGBl 1999/106 dieser Judikatur nicht entgegengetreten, sondern hat der Gesetzgeber die restriktive Auslegung des OGH durch die Einfügung des Klammerverweises auf § 58 Abs 6 ASVG noch bestärkt. Eine Ausweitung hat der Gesetzgeber bloß durch Einfügung der (wenn auch unklaren) Wendung „nach diesem oder einem anderen Bundesgesetz“ vorgenommen. Allerdings sollte nach den Materialien damit bloß eine Ausweitung dahin erreicht werden, dass die Aufrechnung nunmehr auch trägerübergreifend möglich ist, und zwar auch in Bezug auf nach unterschiedlichen Versicherungsgesetzen (ASVG, GSVG, ...) geschuldete Beiträge (1766 BlgNR 20. GP 84). Hingegen findet sich in den Materialien kein Hinweis darauf, dass damit auch eine Ausweitung der Aufrechnungsbefugnis im Vergleich zur bisherigen Judikatur in dem Sinne erreicht werden sollte, dass auch mit nicht auf Sozialversicherungsgesetzen beruhenden Beitragsforderungen aufgerechnet werden darf. All dies lässt die restriktive Auslegung des OGH vertretbar erscheinen.

3. Fraglich ist dann noch, ob die Aufrechnungsregelung in § 103 Abs 1 Z 1 ASVG abschließend ist, oder ob die Versicherungsträger mit nicht von § 103 Abs 1 Z 1 ASVG erfassten Beitragsforderungen nach Maßgabe der allgemeinen Aufrechnungsregeln der391 §§ 1438 ff ABGB aufrechnen dürfen. Der OGH hat dazu in der vorliegenden E nichts gesagt, in einer älteren E hat er diese Frage ausdrücklich offen gelassen (vgl OGH 18.12.1990, 10 ObS 338/89). Das Schrifttum scheint dies wohl abzulehnen, wenn und weil es § 103 ASVG als „Aufrechnungsbeschränkung“ bezeichnet und dafür den Zweck der Sicherung von Leistungsansprüchen ins Treffen führt (so zB Tomandl, Sozialrecht6 [2009] 83; vgl auch Dullinger, Handbuch der Aufrechnung [1995] 130 f). Auch Formulierung und Aufbau des § 103 Abs 1 ASVG sprechen dagegen, dass außerhalb der Zulässigkeitsgrenzen des Abs 1 Z 1 bis Z 4 leg cit eine Aufrechnung gegen Leistungsansprüche nach allgemeinem Zivilrecht möglich sein soll.

4. Folgt man der restriktiven Auslegung des OGH zu § 103 Abs 1 Z 1 ASVG, so ist konsequenterweise eine Aufrechnung mit Beitragsschulden einer juristischen Person gegen deren vertretungsbefugte Organe nur insoweit möglich, als der Vertreter für die Beitragsschulden nach § 67 Abs 10 ASVG und damit auf Grundlage einer sozialversicherungsrechtlichen Vorschrift haftet, wobei hier zu bedenken ist, dass nach der Rsp die Beitragshaftung nach § 67 Abs 10 ASVG selbst wiederum voraussetzt, dass der Vertreter spezifisch sozialversicherungsrechtliche Bestimmungen verletzt hat, wohingegen die Beitragshaftung wegen Insolvenzverschleppung nur im Zivilrechtsweg geltend gemacht werden kann (VwGH

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2000
, 98/08/0191; OGH
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1999
, 1 Ob 50/99f
).

Fraglich ist allerdings, ob der Versicherungsträger im konkreten Fall die im Zivilrechtsweg erreichte (und deshalb nicht aufrechenbare) Beitragsforderung dennoch auch auf § 67 Abs 10 ASVG hätte stützen (und damit auch deren Aufrechenbarkeit hätte erreichen) können. Aus den Sachverhaltsfeststellungen der vorliegenden E ergibt sich, dass der jetzt gegen die Aufrechnung klagende Geschäftsführer zuvor im Zivilrechtsweg zum Ersatz des „negativen Interesses“ verurteilt wurde, also zur Begleichung jener Beitragsforderungen, welche nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit aufgelaufen sind und bei rechtzeitiger Insolvenzantragstellung nicht entstanden wären. Für diese Beitragsschulden besteht nach der Judikatur zwar grundsätzlich keine Haftung nach § 67 Abs 10 ASVG; dies deshalb, weil einerseits die Verletzung ausdrücklich im ASVG genannter (und deshalb nach § 67 Abs 10 ASVG haftungsbegründender) Meldepflichten in statu cridae für diese Beitragsschulden idR nicht kausal ist, und weil andererseits die (für diese Beitragsschulden) kausale Verletzung der Insolvenzantragspflicht keine Verletzung einer spezifisch sozialversicherungsrechtlichen Pflicht iSd § 67 Abs 10 ASVG ist, sondern bloß zur deliktischen Schadenersatzhaftung führt (VwGH

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2000
, 98/08/0191; OGH
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1999
, 1 Ob 50/99f
). Allerdings sprechen gute Gründe dafür, dass den DG aus dem Sozialversicherungsverhältnis gegenüber der GKK eine spezifisch sozialversicherungsrechtliche Meldepflicht über die Zahlungsunfähigkeit trifft (dazu und zum Folgenden eingehend Kietaibl, DRdA 2012, 417 ff). Der Wortlaut des § 34 ASVG, wonach der DG während aufrechter Pflichtversicherung jede für die Versicherung bedeutsame Änderung zu melden hat, würde durchaus auch die Qualifikation der Zahlungsunfähigkeit als meldepflichtigen Umstand iSd § 34 leg cit decken. Für diese Sichtweise sprechen auch die allgemeinen Grundsätze von Treu und Glauben sowie gegenseitiger Rücksichtnahme, die jedem (auch öffentlich-rechtlichen) Schuldverhältnis innewohnen. Die Zahlungsunfähigkeit betrifft nicht bloß unmittelbar die Erfüllung der Beitragspflicht, sondern sie ist überdies ein Umstand, über den der Versicherungsträger aus dem Blickwinkel von Treu und Glauben berechtigterweise Aufklärung erwarten darf.

Bejaht man deshalb eine sozialversicherungsrechtliche Meldepflicht über die Zahlungsunfähigkeit, so käme bei Nichtmeldung eine Haftung nach § 67 Abs 10 ASVG in Betracht, welche dann nach allgemeinen Grundsätzen das (im vorliegenden Fall im Zivilrechtsweg erstrittene) negative Interesse umfassen würde, also die wegen verspäteter Insolvenzantragstellung aufgelaufenen Beitragsschulden abzüglich der tatsächlich erlangten Insolvenzquote. Wäre die Zahlungsunfähigkeit der GKK gemeldet worden, so hätte die Kasse unverzüglich einen Insolvenzantrag gestellt und so das Auflaufen weiterer Beitragsschulden verhindert. Bejaht man deshalb eine Haftung nach § 67 Abs 10 ASVG, so wäre auch eine Aufrechnung nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG möglich.

Im entscheidungsgegenständlichen Beitragszeitraum Dezember 2001 bis Mai 2003 wäre allerdings auch bei Bejahung einer sozialversicherungsrechtlichen Meldepflicht des DG über die Zahlungsunfähigkeit wohl eher keine Haftung des Kl nach § 67 Abs 10 ASVG in Betracht gekommen (und deshalb auch keine Aufrechnung nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG). Dies deshalb, weil die Haftung nach § 67 Abs 10 ASVG die Verletzung spezifisch das Vertretungsorgan treffende Pflichten voraussetzt, und weil das ASVG erst seit BGBl 2010/62 (mit Wirkung für Zeiträume ab 1.8.2010) in § 58 Abs 5 ASVG die sozialversicherungsrechtlichen DG-Pflichten (und damit auch die hier erwogene Meldepflicht über die Zahlungsunfähigkeit) bei juristischen Personen auf deren VertreterInnen überbindet. Vor dieser Novelle hat die Rsp hingegen eine Vertreterhaftung nach § 67 Abs 10 ASVG nur in Bezug auf die nach § 111 ASVG verwaltungsstrafrechtlich sanktionierten und deshalb nach § 9 VStG auch den Vertreter treffenden DG-Pflichten angenommen (VwGH

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2000
, 98/08/0191). Eine verwaltungsstrafrechtliche Verantwortlichkeit bei Verstoß gegen die hier erwogene Meldepflicht über die Zahlungsunfähigkeit scheidet aus rechtsstaatlichen Gründen aber wohl eher aus, weil eine solche Pflicht im Gesetz nicht ausdrücklich angeordnet ist und auch von der Judikatur bislang nicht vertreten wurde.

Hingegen kommt für Zeiträume ab 1.8.2010 eine Vertreterhaftung nach § 67 Abs 10 ASVG bei Verletzung der hier erwogenen Meldepflicht über die Zahlungsunfähigkeit unabhängig von der Strafbarkeit des Meldeverstoßes in Betracht, weil wegen § 58 Abs 5 ASVG die Einbeziehung des Vertreters in das sozialversicherungsrechtliche Schuldverhältnis keinen Rückgriff auf § 9 VStG mehr verlangt. Folgt man dem, so könnte mit diesen Beitragsschulden auch nach § 103 Abs 1 Z 1 ASVG aufgerechnet werden.392