Die Novellierung der Härtefallregelung bei Invaliditätspensionen

WOLFGANGPANHÖLZL (WIEN)

Mit 1.7.2013 ist eine Novelle zur Härtefallregelung in Kraft getreten, die eine Klarstellung zur vieldiskutierten Definition von „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ beinhaltet. Der Beitrag beschränkt sich im Wesentlichen auf eine Erörterung des ursprünglichen sozialpolitischen Ziels des Gesetzgebers, der Darstellung der Zielverfehlung aufgrund der missglückten Erstfassung des „geringsten Anforderungsprofils“ und auf eine Analyse der Neufassung der Definition der Härtefalltätigkeiten. Eingehend behandelt wird die Rolle des berufskundlichen Gutachtens und die berufskundliche Praxis zur Härtefallregelung. Für weitere Fragestellungen darf auf die im Text zitierte – umfangreiche – Literatur zur Härtefallregelung hingewiesen werden.

1
Das sozialpolitische Problem

Mit 1.1.2011 wurde mit dem Budgetbegleitgesetz (BudgBeglG 2011), BGBl I 2010/111BGBl I 2010/111, die sogenannte Härtefallregelung eingeführt. Sie ist in § 255 Abs 3a und 3b ASVG geregelt und sieht vereinfacht gesagt vor, dass unqualifizierte AN mit erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen ab dem 50. Lebensjahr unter näher bezeichneten Umständen als invalid gelten und eine Pension beanspruchen können. Der Kern der Bestimmung liegt im Abgehen vom Prinzip der im Folgenden beschriebenen abstrakten Verweisung für die im Tatbestand umschriebene Personengruppe.

Es entspricht der stRsp des OGH, dass in keinem Fall der Verweisung zu berücksichtigen ist, ob der Versicherte im Verweisungsberuf auch tatsächlich einen Arbeitsplatz finden wird, weil für den Fall der Arbeitslosigkeit die Leistungszuständigkeit der Arbeitslosenversicherung besteht. Dabei ist auch nicht entscheidend, wie viele Arbeitsplätze konkret im näheren Umkreis des Wohnsitzes des Versicherten zur Verfügung stehen. Zur Verneinung des Vorliegens der Invalidität genügt nach stRsp grundsätzlich ein einziger nach dem medizinischen Leistungskalkül möglicher Verweisungsberuf. Es kommen als Verweisungsberufe nur solche Berufstätigkeiten in Betracht, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in ausreichender Anzahl vorhanden sind. Bezogen auf den gesamten österreichischen Arbeitsmarkt müssen gem stRsp zumindest 100 Arbeitsstellen besetzt oder unbesetzt vorhanden sein (vgl OGH

14
10
2008
, 10 ObS 130/08b, uva).

Dieses Prinzip der abstrakten Verweisung führt immer wieder dazu, dass Personen, die keinerlei konkrete Chancen auf Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt haben, über viele Jahre hindurch in der Arbeitslosigkeit verharren, bis sie eine (vorzeitige) Alterspension in Anspruch nehmen können. So beträgt bei Männern die durchschnittliche Übergangsdauer aus dem Notstandshilfebezug in eine vorzeitige Alterspension 10,7 Jahre und bei Frauen die durchschnittliche Übergangsdauer aus dem Notstandshilfebezug in eine Alterspension 7,2 Jahre (vgl Bericht 2012 über das Monitoring des effektiven Pensionsantrittsalters 2011, 194 f, BMASK).* Diese Durchschnittswerte indizieren, dass zahlreiche Personen auch bis zu 15 Jahre Notstandshilfe beziehen, bevor sie in eine vorzeitige Alterspension übertreten. Ein Grund für derart lange Verweildauern ist die Aussichtslosigkeit auf Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt aufgrund beträchtlicher gesundheitlicher Einschränkungen kombiniert mit fortgeschrittenem Alter und mangelnder Qualifikation. Das aussichtslose Verweilen im Notstandshilfebezug führt zu einem kontinuierlichen sozialen Abstieg, da die Notstandshilfe nicht valorisiert wird und es zum Teil zur Anrechnung des Partnereinkommens kommt. Aus der faktischen Unvermittelbarkeit resultiert eine fortgesetzte psychische Belastung, weil Vermittlungsversuche immer wieder scheitern oder gar nicht mehr unternommen werden.

Den Anstoß zur Härtefallregelung gab das Projekt „Invalidität im Wandel“, das von September 2007 bis Juli 2008, in drei Cluster organisiert, eine umfassende Analyse und zeitgemäße Lösungsvorschläge zum Thema Invalidität erarbeitete. Die Härtefallregelung sollte Versicherten ab 50 zu Gute kommen, die ein sehr stark medizinisch eingeschränktes Leistungskalkül haben. Nötig ist hier neben der prekären gesundheitlichen Situation eine schlechte Arbeitsmarktprognose im Hinblick auf eine zumutbare Beschäftigung (

BMASK
[Hrsg], Invalidität im Wandel [2009] 242).

2
Die Grundlagen der Erstfassung des Gesetzestextes

Auf Basis der Empfehlung des Projekts „Invalidität im Wandel“ wurde im BMASK eine Arbeitsgruppe unter Beiziehung der Sozialpartner zur Erarbeitung eines Gesetzesentwurfes eingerichtet. Dem skizzierten sozialpolitischen Anliegen entsprechend sollten von der Härtefallregelung Personen ab dem 50. Lebensjahr erfasst sein, die nur noch auf die Tätigkeit eines „Portiers“ verwiesen werden können. Der „Portier“ hatte sich in der Rsp als typische Verweisungstätigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt für unqualifizierte Personen mit stark eingeschränktem Leistungskalkül eingebürgert und wurde daher als leichteste Tätigkeit assoziiert. Damit sollten Personen in Pension gehen können, die nur noch leichte Tätigkeiten überwiegend im Sitzen ausüben können. Im Laufe der Diskussionen wurde eine zweite Gruppe von Personen ins Spiel gebracht, deren medizinisches Leistungskalkül noch stärker eingeschränkt war. Es handelt sich dabei um Personen, die grundsätzlich auch547 nur mehr leichte Tätigkeit im Sitzen ausüben können, die aber nicht durchgehend Sitzen können, sondern aus medizinischen Gründen immer wieder aufstehen müssen. Zum anderen wurde in der Arbeitsgruppe die Befürchtung geäußert, dass bei Abgrenzung der Härtefälle mit dem Anforderungsprofil eines Portiers die Zahl der Begünstigten zu hoch ausfallen könnte.

Wegen der genannten Schwierigkeiten wurde vereinbart, ein berufskundliches Gutachten in Auftrag zu geben, um jene Tätigkeiten erheben zu lassen, welche auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt das geringste Anforderungsprofil aufweisen. Das Gutachten wiederum sollte als Basis für einen von der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) durchzuführenden Feldversuch zur Abschätzung der Begünstigtenzahl dienen (vgl zur Entstehungsgeschichte der Härtefallregelung auch Resch, Die neue Härtefallregelung der geminderten Arbeitsfähigkeit, SozSi 2012, 405).

2.1
Das Gutachten zu Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil

Am 7.5.2009 wurde vom BMASK ein berufskundliches Gutachten zur „Definition von möglichen Verweisungsberufen, die von dem Begriff Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil erfasst sind“ in Auftrag gegeben. Grundlage des Gutachtens war ein in der BMASK-Arbeitsgruppe erstellter Formulierungsvorschlag, der die Wendung „Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil“ enthielt. Die Vorgabe für das Gutachten waren leichte Tätigkeiten, die überwiegend bzw vorwiegend im Sitzen ausgeübt werden und die auch einen Haltungswechsel ermöglichen.

Im Gutachten wurden schließlich 22 Berufsbezeichnungen aufgelistet, die den Vorgaben entsprachen, wobei im Gutachten ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird. Weiters wird darauf hingewiesen, dass es sich um die üblichen Berufsanforderungsprofile handelt, auf deren Basis mehr als 100 Arbeitsplätze in Österreich vorkommen. Die wesentlichen Merkmale wurden wie folgt abgegrenzt:

  • „leichte körperliche Tätigkeiten“: im Mittelwert Anheben von 10 kg und/oder Tragen von maximal 5 kg;

  • „überwiegend Sitzen“: mehr als halbzeitig, dh mehr als 4 Stunden pro Arbeitstag bei Normalarbeitszeit von 8 Stunden;

  • „vorwiegend Sitzen“: mehr als zweidrittelzeitig, dh mehr als 5,3 Stunden pro Arbeitstag bei Normalarbeitszeit von 8 Stunden pro Tag;

  • „Haltungswechsel“: iSd „Steh-Sitz-Dynamik“ zwei bis vier Haltungswechsel pro Stunde.

In der Auflistung des Gutachtes sind beispielsweise folgende Berufsbezeichnungen enthalten:

  • Adressen- und WerbemittelverlagsarbeiterIn: leicht, überwiegend Sitzen, Haltungswechsel frei wählbar, ungelernt, einfaches geistiges Anforderungsprofil ist ausreichend, fallweise besonderer Zeitdruck.

  • Eintrittskartenverkauf, MauteinheberIn: leicht, vorwiegend Sitzen, ungelernt, Haltungswechsel möglich, ungelernt, leichtes geistiges Anforderungsprofil ist ausreichend, bis drittelzeitig besonderer Zeitdruck.

  • KontrolleurIn, Elektroindustrie: leicht, überwiegend Sitzen, ungelernt, Haltungswechsel frei möglich, angelernt, leichtes geistiges Anforderungsprofil ist ausreichend, bis durchschnittlicher Zeitdruck.

  • Museumsaufsicht: leicht, überwiegend Sitzen, Haltungswechsel frei wählbar, ungelernt, leichtes geistiges Anforderungsprofil genügt, einfacher Zeitdruck.

  • NäherIn: leicht, vorwiegend Sitzen, ungelernt, Haltungswechsel möglich, leichtes geistiges Anforderungsprofil und durchschnittlicher Zeitdruck sind ausreichend.

  • ParkgaragenkassierIn: leicht, vorwiegend Sitzen, Haltungswechsel frei wählbar, ungelernt, einfaches geistiges Anforderungsprofil ist ausreichend, durchschnittlicher Zeitdruck;

  • PortierIn: leicht, überwiegend Sitzen, Haltungswechsel frei wählbar, ungelernt, einfaches geistiges Anforderungsprofil ist ausreichend, einfacher Zeitdruck.

Als Tätigkeiten mit dem geringsten Anforderungsprofil hinsichtlich der körperlichen Einschränkungen erwiesen sich die „Näherin“ und der „Parkgaragenkassier“, weil sie vorwiegendes (2/3) Sitzen erfordern und einen Haltungswechsel ermöglichen. Der Portier und der Museumsaufseher haben ein höheres Anforderungsprofil, weil diese Tätigkeiten nur überwiegendes (1/2) Sitzen ermöglichen. Betrachtet man isoliert den Aspekt des Zeitdruckes erfordert der Portier mit „einfachem Zeitdruck“ weniger als der Parkgaragenkassier bzw die Näherin mit „durchschnittlichem Zeitdruck“. Theoretisch würde die Kombination „vorwiegend Sitzen“ und „einfacher Zeitdruck“ ein geringeres Anforderungsprofil als das des Parkgaragenkassiers bzw der Näherin darstellen. Nur in der Praxis kommt diese Kombination laut Gutachten nicht vor. Insofern ist auch Kollenz nicht zu folgen, wenn er meint, „dass durchschnittlicher Zeitdruck offenbar von gesetzgeberischer Seite (entgegen dem bisherigen Verständnis in der Praxis!) als massive Einschränkung aufgefasst wird“ (Kollenz/Enzelsberger, Eine rechtlichberufskundliche Problemsondierung samt Lösungsansätzen, ZAS 2012, 36). An der Beurteilung des durchschnittlichen Zeitdrucks hat der Gesetzgeber nichts verändert. Tätigkeiten erfordern jedoch regelmäßig eine Kombination von Fähigkeiten. Ausgehend von den Grundanforderungen „leichte Tätigkeiten, die vorwiegend im Sitzen ausgeübt werden“, ergänzt der „durchschnittliche Zeitdruck“ das Anforderungsbündel einer Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil.

2.2
Der Feldversuch zur Härtefallregelung

Um die Zahl der Begünstigten der Härtefallregelung von vornherein zu begrenzen, wurde die PVA seitens des BMASK ersucht, die in Diskussion stehenden Varianten der Härtefallregelung einem Feldversuch zu unterziehen. Die PVA überprüfte daraufhin bei Anträgen gem § 255 Abs 3 die medizinischen Leistungskalküle insb hinsichtlich Sensitivität der Merkmale „überwiegend Sitzen“ und „vorwiegend Sitzen“. Zudem wurde eine statistische Auswertung der Versicherungskarrieren der betreffenden Personengruppe vorgenommen. Anhand des Feldversuches wurde die mögliche Anzahl der Härtefälle in einer Größenordnung548 von rund 1.000 Personen pro Jahr eingegrenzt. Dies wurde zum einen durch die Anspruchsvoraussetzung von 360 Versicherungsmonaten, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung erreicht, und zum anderen durch die Einschränkung der Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil auf jene, die vorwiegendes Sitzen ermöglichen bzw erfordern.

3
Die Erstfassung des Gesetzestextes

Gem § 255Abs 3a idF BGBl 2010/111BGBl 2010/111 gilt eine versicherte Person auch dann als invalid, wenn sie

  1. das 50. Lebensjahr vollendet;

  2. mindestens zwölf Monate vor dem Stichtag arbeitslos gemeldet war;

  3. mindestens 360 Versicherungsmonate, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung auf Grund einer Erwerbstätigkeit, erworben hat;

  4. nur mehr Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet sind, ausüben kann und zu erwarten ist, dass ein Arbeitsplatz in einer der physischen und psychischen Beeinträchtigung entsprechenden Entfernung von ihrem Wohnort innerhalb eines Jahres nicht erlangt werden kann.

Gem Abs 3b sind Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil leichte körperliche Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden und/oder mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglichen.

3.1
Die Erläuterungen zum Gesetzestext und zur Zahl der begünstigten Personen

Die EB des Ministerialentwurfes führen zum Gesetzestext aus:

„Die versicherte Person (...) darf zum anderen nur mehr in der Lage sein, Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil auszuüben. Unter Letzterem sind leichte Tätigkeiten vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck zu verstehen, wobei ein Haltungswechsel möglich sein muss.“„Die neue Härtefallregelung wird in der Praxis für Bäuerinnen und Bauern sowie ungelernte ArbeiterInnen, die ein sehr stark medizinisch eingeschränktes Leistungskalkül haben (das heißt nur mehr leichte Tätigkeiten im Sitzen oder in einem nichtkontinuierlichen Arbeitsablauf ausüben können), relevant werden und soll auf eine sehr kleine Zahl von Härtefällen beschränkt bleiben (232 der Beilagen der XXIV. GP).“

Die finanziellen Erläuterungen präzisieren, was unter einer „sehr kleinen Zahl“ von Härtefällen zu verstehen ist und dass die Härtefallregelung insgesamt zu Einsparungen führt: „Die Einführung einer Härtefallregelung für ungelernte ArbeiterInnen bedingt Mehraufwendungen beim Pensionsaufwand durch früheren Pensionsantritt und Einsparungen beim AMS durch kürzeren Leistungsbezug aus der Arbeitslosenversicherung. Der Saldo ergibt langfristig Einsparungen in Höhe von 3,7 Mio €“. In der Übersicht zu den finanziellen Auswirkungen ist die Fallzahl von rund 1.000 Personen angeführt und die darauf beruhende Abschätzung der finanziellen Auswirkungen zu Grunde gelegt (vgl 232 BlgNR 24. GP 16, 17).

Die ErläutRV verweisen ausdrücklich auf den Feldversuch der PVA: „(...) Der Saldo ergibt Einsparungen in Höhe von 3,7 Mio € für das Jahr 2014. Hinsichtlich des Mengengerüstes möchten wir auf den Feldversuch der PVA verweisen, auf Basis dessen die Fallzahlen beruhen“ (981 BlgNR 24. GP).

3.2
Die Interpretation durch die Rsp

Die Auslegung der Bestimmung bereitete aufgrund der missglückten „und/oder“ Formulierung größte Schwierigkeiten und wurde schließlich durch die OGH-E

20
12
2011
, 10 ObS 105/11f, zwangsläufig restriktiv ausgelegt, um der Regelung überhaupt einen Sinn zu geben (vgl Ivansits/Weißensteiner, Die Härtefallregelung – Zugangserleichterung in die Invaliditätspension für Versicherte ab 50, DRdA 2011, 175 und die methodologische Kritik von Resch, Die neue Härtefallregelung der geminderten Arbeitsfähigkeit, SozSi 2012, 405).

Demnach war Abs 3b so zu verstehen, dass eine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil eine leichte Tätigkeit ist, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt wird und während der Ausübung der Tätigkeit mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht, oder bei Unterbrechung der Tätigkeit mehrmals täglich einen Haltungswechsel ermöglicht.

Mit dieser zwar denkbaren aber restriktiven und komplexen Interpretation waren jedoch Tätigkeiten, die durchgehendes Sitzen ermöglichen oder erfordern, nicht erfasst (vgl Ivansits/Weißensteiner, DRdA 2011, 175) und damit gerade jene Fälle von der Härtefallregelung ausgeschlossen, die die ursprüngliche Hauptzielgruppe darstellte.

4
Die novellierte Fassung des Gesetzes

Mit dem 2. SVÄG 2013, BGBl 2013/139BGBl 2013/139, wurde eine novellierte Fassung des § 255 Abs 3b beschlossen und mit 1.7.2013 in Kraft gesetzt. Nach herrschender Rsp ist die neue Fassung auf alle laufenden Fälle anzuwenden, die am 1.7.2013 in erster Instanz noch nicht abgeschlossen waren (vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung). Durch die Rechtsänderung wird ein neuer Stichtag ausgelöst und die Anspruchsvoraussetzungen sind zu diesem neuen Stichtag, dem 1.7.2013, zu prüfen (vgl OGH

29
1
2013
, 10 ObS 146/12m).

Gem Abs 3b neu sind Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil leichte Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden. Tätigkeiten gelten auch dann als vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt, wenn sie durch zwischenzeitlichen Haltungswechsel unterbrochen werden.

Mit der novellierten Fassung des Abs 3b wird das ursprüngliche Ziel des Gesetzgebers auch eindeutig formuliert, nämlich für jene Personen einen erleichterten Pensionszugang zu schaffen, die nur noch leichte Tätigkeiten in vorwiegend sitzender Haltung ausüben können. Und es werden auch diejenigen erfasst, die zwischenzeitlich einen Haltungswechsel benötigen. Damit ist die Schlussfolgerung von Ivansits/Weißensteiner, 549DRdA 2011, 175Wer also Tätigkeiten ausüben kann, die durchgehendes Sitzen erfordern, hat keinen Anspruch auf die Härtefallregelung“ seit 1.7.2013 nicht mehr zutreffend.

4.1
Die Erläuternden Bemerkungen zum Gesetzestext

Die Härtefallregelung ist in Bezug auf die „und/oder-Formulierung“ auf vielfältige Kritik in Lehre und Rsp gestoßen (vgl OGH

20
12
2011
, 10 ObS 105/11f). Da die Auslegung dieser Bestimmung nach wie vor große Schwierigkeiten bereitet, soll die gegenständliche „und/oder-Formulierung“ ersetzt werden.

Die Novelle zielt darauf ab klarzustellen, dass sich der Passus „vorwiegend in sitzender Haltung“ nicht nur auf Tätigkeiten bezieht, die vorwiegend durchgehendes Sitzen erfordern (beim Ausüben der Tätigkeit muss man sitzen), sondern auch solche Tätigkeiten umfasst, die vorwiegend Sitzen mit Haltungswechsel ermöglichen (beim Ausüben der Tätigkeit kann man sitzen, man kann aber auch aufstehen und umhergehen).

Damit sollen bezogen auf die mit dem Anforderungsprofil der Tätigkeiten korrespondierenden medizinischen Leistungskalküle zwei unterschiedliche Personengruppen der Härtefallregelung unterliegen, und zwar erstens die Gruppe derjenigen, die auf Grund ihrer medizinischen Einschränkungen nur noch vorwiegend – durchgehend – sitzende Tätigkeiten ausüben kann (diese Gruppe muss sitzen und kann nicht immer wieder aufstehen und umhergehen), und zweitens jedenfalls auch jene Gruppe, die auf Grund ihrer medizinischen Einschränkungen zwar auch nur noch Tätigkeiten in vorwiegend sitzender Haltung ausüben kann, aber die zusätzlich, aus medizinischen Gründen, einen ausgleichenden Haltungswechsel durch Aufstehen bzw Umhergehen benötigt. In Summe muss jedoch auch bei dieser Gruppe das zeitliche Kriterium „vorwiegend in sitzender Haltung“ erfüllt sein (diese Gruppe muss sitzen, muss aber auch zwischendurch immer wieder aufstehen und umhergehen).

4.2
Durchschnittlicher Zeitdruck

Durchschnittlicher Zeitdruck ist definiert als jener, der bei allen üblichen handwerklichen Arbeiten vorkommt. Im Angestelltenbereich ist er allen Tätigkeiten zugeordnet, die nicht explizit besonderen Zeitdruck erfordern. In der berufskundlichen Praxis wird die Anforderung „durchschnittlicher Zeitdruck“ in zwei Ausprägungen verwendet. Einmal werden damit offenbar Tätigkeiten beschrieben, die regelmäßig keinen besonderen Zeitdruck erfordern. Zum anderen aber auch solche Tätigkeiten, die regelmäßig bis zu 10 % besonderen Zeitdruck erfordern (vgl Kollenz/Enzelsberger, Eine rechtlich-berufskundliche Problemsondierung samt Lösungsansätzen, ZAS 2012, 36).

Das OLG Wien hat im Beschluss vom

18
2
2013
, 10 Rs 159/12v, klargestellt, dass das Begriffsverständnis, wonach 10 % überdurchschnittlicher Zeitdruck im „durchschnittlichen Zeitdruck“ enthalten seien, nicht dem im Sozialgerichtsverfahren üblichen Verständnis entspricht. Das OLG verweist dazu auf Rudda, Das einheitliche Untersuchungsprogramm zur Feststellung des Gesundheitszustandes bei geminderter Arbeitsfähigkeit, SozSi 1998, 708 und die stRsp. Dem OLG ist in dieser Hinsicht voll beizupflichten. Der Durchschnittsbegriff ist nicht iS eines arithmetischen Mittelwertes von hohen und niedrigen Zeitdruckbelastungen zu verstehen, sondern eben iS einer durchschnittlichen Zeitdruckbelastung. Tätigkeiten, die regelmäßig mit bis zu 10 % besonderer Zeitdruckbelastung verbunden sind, sind daher nicht unter Tätigkeiten mit durchschnittlichem Zeitdruck zu subsumieren. Andererseits darf man auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. In Ausnahmesituationen oder Notfällen wie einem Feueralarm kann wohl bei jeder Tätigkeit auch einmal besonderer Zeitdruck entstehen. Ein solches ausnahmsweises Auftreten von besonderem Zeitdruck steht nicht in Widerspruch zu einer durchschnittlichen Zeitdruckbelastung. Dies insb dann nicht, wenn das Ausnahmeereignis noch dazu unvorhersehbar ist, wie zB bei einem Feueralarm.

4.3
Regionaler Arbeitsmarkt

Ein Härtefall liegt nur dann vor, wenn nicht zu erwarten ist, dass eine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil innerhalb eines Jahres zu erlangen ist. Der Umkehrschluss lautet, ist eine Tätigkeit am regionalen Arbeitsmarkt innerhalb eines Jahres zu erlangen, liegt selbst dann kein Härtefall vor, wenn nur noch solche Tätigkeiten ausgeübt werden können.

5
Die (berufskundliche) Praxis zur Härtefallregelung

Während des fast dreijährigen Bestehens der Härtefallregelung konnte die Arbeiterkammer Wien in ihrer Vertretungstätigkeit vor dem ASG-Wien keinen (!) positiv abgeschlossenen Härtefall verzeichnen. Seit der OGH-E 20.12.2011, 10 ObS 105/11f, wurde auch in keinem Fall die Vertretung übernommen, weil das medizinische Leistungskalkül „vorwiegend Sitzen mit medizinisch notwendigem Haltungswechsel“ schlicht nicht vorkam.

Die Arbeiterkammer Wien hat diesen Umstand zum Anlass genommen, eine bundesweite Erhebung zur Härtefallregung durchzuführen. Zum einen wurde versucht, die Zahl der Härtefälle seit der OGH-E 10 ObS 105/11f festzustellen, zum anderen sollte eine Übersicht zur berufskundlichen Praxis hinsichtlich der Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil erstellt werden. Die Erhebung wurde auf Basis telefonischer Interviews und schriftlicher Stellungnahmen von Juni bis August 2013 durchgeführt. Befragt wurden die Rechtsabteilungen der Arbeiterkammern und die an den Arbeits- und Sozialgerichten tätigen berufskundlichen Sachverständigen in den Bundesländern. Nachdem das Inkrafttreten der Neureglung am 1.7.2013 in den Erhebungszeitraum fällt, wurden die Sachverständigen der Berufskunde auch um ihre Einschätzung der neuen Rechtslage ersucht. Bei der Berufskundetagung am 28.9.2013 in Salzburg konnten die Ergebnisse der Erhebung mit den Sachverständigen diskutiert und das Meinungsbild abgerundet werden. Zudem wurde die PVA um statistische Auswertung der im Jahr 2012 gewährten Härtefallpensionen ersucht.550

5.1
Ergebnisse der Erhebung

Von der PVA wurden im Jahr 2012 rund 170 Härtefallpensionen gewährt, davon rund 100 im Anstaltsverfahren, hier 79 bei Arbeitern (62 Männer, 17 Frauen) und 22 bei Angestellten (14 Männer, 8 Frauen). Als Ergebnis eines Gerichtsverfahrens wurden 74 Härtefallpensionen gewährt, davon 48 in erster Instanz, 15 in zweiter Instanz und 11 durch eine letztinstanzliche E. Auffallend bei den Gerichtsentscheidungen ist, dass sich mehr als die Hälfte auf ein Bundesland beziehen und in Wien kaum Gewährungen verzeichnet sind. Dies zeigt einen restriktiven und regional extrem uneinheitlichen Vollzug der Härtefallregelung. Die Interviews und schriftlichen Stellungnahmen der berufskundlichen Sachverständigen bestätigen dieses Ergebnis. Die missglückte und/oder-Formulierung der alten Fassung des § 255 Abs 3a verhinderte eine einheitliche Definition von Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil und führte so zu regional sehr unterschiedlichen Resultaten.

Die Stellungnahmen der berufskundlichen Sachverständigen zur novellierten Fassung des Abs 3b sind hingegen durchwegs positiv und ergeben auch ein einheitliches Bild. Bei den im Folgenden genannten Tätigkeiten handelt sich um leichte Tätigkeiten, die bei durchschnittlichem Zeitdruck und vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt werden. Tätigkeiten gelten auch dann als vorwiegend in sitzender Haltung ausgeübt, wenn sie durch zwischenzeitliche Haltungswechsel unterbrochen werden. Naturgemäß liegen nur dann Tätigkeiten mit geringsten Anforderungen vor, wenn diese kumuliert die Tatbestandsvoraussetzungen des Abs 3b erfüllen.

Einheitlich wurden von den Sachverständigen angeführt:

Einfacher Wachdienst, einfache OrdinationsgehilfInnen mit wenig Kundenkontakt (Privatarztpraxen), NäherInnen, ParkgaragenkassierIn, TelefonistInnen in einer Telefonvermittlung mit entsprechend niedriger Anruferfrequenz.

Folgende Tätigkeiten sind firmenbezogen offenbar unterschiedlich mit Zeitdruck belastet. Einerseits finden sie sich in ausreichender Zahl mit durchschnittlichem Zeitdruck, andererseits mit besonderem Zeitdruck verschiedenen Ausmaßes.

KontrollarbeiterInnen in der Elektroindustrie, BestückerInnen, LöterInnen, WarensortiererInnen, WarenadjustiererInnen, EtikettiererInnen, SortiererInnen, VerpackerInnen, WerkstückkontrollorInnen, AdressenverlagsarbeiterInnen, StanzerInnen oder sonstige KleinmaschinenbedienerInnen.

6
Prüfschema eines Härtefalls

Zuallererst müssen die Grundvoraussetzungen des Abs 3a Z 1 bis Z 3 erfüllt sein. Insb müssen mindestens 360 Versicherungsmonate, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung auf Grund einer Erwerbstätigkeit, vorliegen. Der Feldversuch der PVA hat gezeigt, dass schon an dieser Hürde viele scheitern, weil ihr Versicherungsverlauf wegen Krankheit und Arbeitslosigkeit die Anforderung verfehlt.

Zweitens muss das medizinische Leistungskalkül auf leichte Tätigkeiten, die vorwiegend in sitzender Haltung und bei durchschnittlichem Zeitdruck ausgeübt werden, eingeschränkt sein, wobei hier die Grenzziehung zwischen der Notwendigkeit überwiegend bzw vorwiegend zu sitzen als anspruchsvoll zu bezeichnen ist. Liegt ein solches Leistungskalkül vor, reicht es aus, eine Tätigkeit mit geringstem Anforderungsprofil zu nennen. Der Kl kann beispielsweise nur noch Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil wie Parkgaragenkassier ausüben. Ausgehend vom medizinischen Leistungskalkül ist es für die Einstufung als Härtefall gem Abs 3b im Grunde irrelevant, wie viele Tätigkeiten mit geringstem Anforderungsprofil vorgefunden werden. Als Maßstab reicht eine einzige Tätigkeit aus. Liegt das medizinische Leistungskalkül geringfügig über den Anforderungen des Abs 3b ist die Anwendung der Härtefallregelung trotzdem nicht von vornherein ausgeschlossen. In einem solchen Fall sind jene Tätigkeiten zu benennen, die mit diesem Leistungskalkül noch ausgeübt werden können (vgl OLG Wien

18
2
2013
, 10 Rs 159/12v).

Drittens ist gem Abs 3a Z 4 zu prüfen, ob Arbeitsplätze mit geringsten Anforderungen in entsprechender Entfernung vom Wohnort vorkommen, und wenn ja, ob ein solcher Arbeitsplatz innerhalb eines Jahres erlangt werden kann.

Auf dieser Ebene der Prüfung, nämlich der der Arbeitsmarktprognose, spielt auch die Zahl der Härtefalltätigkeiten eine Rolle. Wenn regional erreichbar eine größere Anzahl an Härtefalltätigkeiten vorliegt, könnte sich auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, eine solche Stelle zu erlangen. Wobei immer eine konkrete Prüfung bezogen auf den Einzelfall vorzunehmen ist. Die Wahrscheinlichkeit für ältere, unqualifizierte, gesundheitlich erheblich eingeschränkte und seit längerer Zeit arbeitslose Personen, einen Arbeitsplatz innerhalb eines Jahres zu erlangen, wird insb von der Wirtschaftslage und Arbeitslosenrate abhängen. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wird die Wahrscheinlichkeit für die Härtefallgruppe wohl sehr gering sein.

7
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Die Härtefallregelung wurde in der ursprünglichen Fassung des Abs 3b uneinheitlich vollzogen, war für AN weitgehend unwirksam und brachte bei weitem nicht die vom Gesetzgeber beabsichtigte Entlastung für ca 1.000 Härtefälle pro Jahr. Mit der Neufassung des Abs 3b wurde vom Gesetzgeber eine gute Grundlage zur Erreichung des intendierten sozialpolitischen Ziels geschaffen.551