47

Leistungen bei Arbeitslosigkeit für atypische Grenzgänger

BERNHARDSPIEGEL (WIEN)
Art 65 Abs 2 und Art 87 Abs 8 VO 883/2004
  1. Mit der neuen VO 883/2004 wurde vom Unionsgesetzgeber bewusst die unter der VO 1408/71 gegebene Möglichkeit für atypische Grenzgänger, Leistungen bei Arbeitslosigkeit vom letzten Beschäftigungsstaat in Anspruch zu nehmen (Miethe- Rsp), nicht übernommen.

  2. Auch der AEUV verpflichtet nicht dazu, diese – je nach Lage des Falles – günstigere Rechtslage beizubehalten.

  3. Bestand aber schon vor dem Inkrafttreten der VO 883/2004 ein Anspruch im Staat der letzten Beschäftigung und erstreckt sich dieser Anspruch auch nach nationalem Recht in den Anwendungsbereich der VO 883/2004, so bleibt dieser bei neuerlicher Arbeitslosigkeit gewahrt.

[...] (11) Herr Jeltes, Frau Peeters und Herr Arnold sind Grenzgänger niederländischer Staatsangehörigkeit, die in den Niederlanden beschäftigt waren, wobei Erstere in Belgien und Letzterer in Deutschland wohnten.

(12) Herr Jeltes wurde im August 2010, also nach Inkrafttreten der VO 883/2004 am 1.5.2010, arbeitslos. Sein bei den niederländischen Behörden gestellter Antrag auf eine Leistung bei Arbeitslosigkeit nach der WW wurde abgelehnt.

(13) Frau Peeters verlor ihren Arbeitsplatz im Mai 2009 und erhielt von den niederländischen Behörden eine Leistung bei Arbeitslosigkeit. Am 26.4.2010 fand sie wieder eine Arbeitsstelle, wurde aber am 18.5.2010 erneut arbeitslos. Während der Zeit ihrer erneuten Beschäftigung wurde ihr keine Leistung bei Arbeitslosigkeit gezahlt, aber die niederländischen Behörden wiesen sie darauf hin, dass sie, falls sie bis zum 25.10.2010 erneut arbeitslos werden sollte, das Wiederaufleben der Zahlung dieser Leistung beantragen könne. Als sich Frau Peeters an diese Behörden wandte, nachdem sie ihren Arbeitsplatz abermals verloren hatte, weigerten sich diese jedoch, die Zahlung der Leistung wiederaufleben zu lassen.

(14) [... im Falle von Herrn Arnold liegt ein ähnlicher Sachverhalt wie im Fall Peeters vor ...]

(15) Aus der Vorlageentscheidung und den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, ergibt sich, dass das niederländische Recht die Zahlung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit an nicht im Inland wohnende arbeitslose AN ausschließt. Das vorlegende Gericht fügt hinzu, bei den drei Kl der Ausgangsverfahren hätten die niederländischen Behörden ihre ablehnenden Bescheide auf Art 65 VO 883/2004 gestützt, wonach der Wohnmitgliedstaat – im vorliegenden Fall das Königreich Belgien für Herrn Jeltes und Frau Peeters und die Bundesrepublik Deutschland für Herrn Arnold – der für die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuständige Mitgliedstaat sei.

(16) Die Kl der Ausgangsverfahren erhoben gegen die ablehnenden Bescheide der niederländischen Behörden vor der Rechtbank Amsterdam Klage. Die Rechtbank führt aus, es sei unstreitig, dass Art 65 VO 883/2004 den Kl nicht die Möglichkeit gebe, von diesen Behörden die Gewährung einer Leistung bei Arbeitslosigkeit zu verlangen. Unstreitig sei jedoch auch, dass es sich bei diesen Personen um atypische Grenzgänger iSd Urteils vom 12.6.1986, Miethe (1/85, Slg 1986, 1837), handele, und zwar dergestalt, dass sie im Mitgliedstaat ihrer letzten Beschäftigung besonders enge persönliche und berufliche Bindungen beibehalten hätten. Daraus folgt nach Ansicht des vorlegenden Gerichts, dass sie in diesem Staat, im vorliegenden Fall dem Königreich der Niederlande, voraussichtlich die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hätten. Es möchte deshalb wissen, ob hier wie im Urteil Miethe davon auszugehen ist, dass die Kl in diesem Mitgliedstaat einen Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit haben. [...]

(18) Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Urteil Miethe auch nach Inkrafttreten der VO 883/2004 für die Auslegung des Art 65 Abs 2 dieser VO weiterhin relevant ist, so dass sich ein AN, der zum Staat seiner letzten Beschäftigung persönliche und berufliche Bindungen solcher Art beibehalten hat, dass er dort die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, dafür entscheiden kann, sich der Arbeitsverwaltung dieses Mitgliedstaats zur Verfügung zu stellen, um dort nicht nur Unterstützung bei der beruflichen Wiedereingliederung, sondern auch Arbeitslosenunterstützung zu erhalten.

(19) Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst auf die Bestimmungen des Art 71 VO 1408/71 und auf die Auslegung einzugehen, die ihnen der Gerichtshof im Urteil Miethe gegeben hat, bevor der Inhalt des Art 65 Abs 2 VO 883/2004 geprüft wird.

(20) Art 71 VO 1408/71 enthält Sonderbestimmungen für Arbeitslose, die während ihrer letzten Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat wohnten. Diese Bestimmungen weichen von der Grundregel in Art 13 Abs 2 der VO ab, wonach eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates unterliegt.493

(21) Nach Art 71 Abs 1 lit a Z ii VO 1408/71 unterliegen Grenzgänger bei Vollarbeitslosigkeit den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnen. Der Gerichtshof hat festgestellt, dass dieser Bestimmung die stillschweigende Annahme zugrunde liegt, dass für einen solchen AN in diesem Staat die Voraussetzungen für die Arbeitssuche am günstigsten sind (vgl Urteil Miethe, Rn 17).

(22) Nach Art 71 Abs 1 lit b VO 1408/71 haben AN, die nicht Grenzgänger sind, dh Personen, die im Gegensatz zu Grenzgängern nicht täglich oder mindestens einmal wöchentlich in ihren Wohnstaat zurückkehren, bei Vollarbeitslosigkeit die Wahl, weiterhin der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates zur Verfügung zu stehen oder sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung zu stellen, in dessen Gebiet sie wohnen. Im erstgenannten Fall erhalten sie Leistungen des Mitgliedstaats der letzten Beschäftigung, im letztgenannten Leistungen des Wohnmitgliedstaats. Diese Leistungen umfassen nicht nur Geldzahlungen, sondern auch die Unterstützung bei der beruflichen Wiedereingliederung (vgl in diesem Sinne Urteil Miethe, Rn 16).

(23) Der Gerichtshof hat in Rn 18 des Urteils Miethe ausgeführt, dass der mit der Regelung für vollarbeitslose Grenzgänger in Art 71 Abs 1 lit a Z ii VO 1408/71 verfolgte Zweck, der darin besteht, sicherzustellen, dass dem Wander-AN die Leistungen bei Arbeitslosigkeit unter den günstigsten Voraussetzungen gewährt werden, nicht erreicht werden kann, wenn ein vollarbeitsloser AN ausnahmsweise im Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung persönliche und berufliche Bindungen solcher Art beibehält, dass er in diesem Staat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat. Ein solcher AN ist daher als „AN, der nicht Grenzgänger ist“, iS von Art 71 dieser VO anzusehen, so dass er unter Art 71 Abs 1 lit b fällt. Daraus folgt, dass er sich dafür entscheiden kann, sich der Arbeitsverwaltung des letzten Mitgliedstaats, in dem er beschäftigt war, zur Verfügung zu stellen und die Leistungen dieses Staates in Anspruch zu nehmen, bei denen es sich sowohl um eine Unterstützung bei der beruflichen Wiedereingliederung als auch um Geldzahlungen handeln kann.

(24) Wie dem dritten Erwägungsgrund der VO 883/2004 zu entnehmen ist, wollte der Gesetzgeber die Bestimmungen der VO 1408/71, die infolge zahlreicher Änderungen und Aktualisierungen komplex und umfangreich geworden waren, aktualisieren und vereinfachen.

(25) Daher wurde Art 71 VO 1408/71 durch Art 65 VO 883/2004 ersetzt und teilweise inhaltlich geändert.

(26) Aus Art 65 Abs 2 VO 883/2004 geht hervor, dass sich ein vollarbeitsloser Grenzgänger, der in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat gewohnt hat und weiterhin in diesem Mitgliedstaat, dem Wohnmitgliedstaat, wohnt, dessen Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellen muss. Nach dieser Bestimmung kann er sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, in dem er zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.

(27) Ein vollarbeitsloser AN, der kein Grenzgänger ist, muss sich entweder der Arbeitsverwaltung seines Wohnstaats, wenn er dorthin zurückkehrt, oder, wenn er nicht dorthin zurückkehrt, der Arbeitsverwaltung des letzten Mitgliedstaats, in dem er beschäftigt war, zur Verfügung stellen.

(28) Die dem vollarbeitslosen Grenzgänger durch Art 65 Abs 2 VO 883/2004 eröffnete Möglichkeit, sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats seiner letzten Beschäftigung zur Verfügung zu stellen, stellt gegenüber dem Inhalt des Art 71 Abs 1 lit a Z ii VO 1408/71 eine Neuerung dar. Der betreffende AN kann somit auch in diesem Staat – unabhängig davon, welche Bindungen er dort beibehalten hat, und insb davon, ob er dort über die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung verfügt – Wiedereingliederungsleistungen in Anspruch nehmen. Damit hat der Verordnungsgeber dem Urteil Miethe teilweise Rechnung getragen.

(29) Nach diesem Urteil konnte jedoch ein AN, dessen persönliche und berufliche Bindungen zum Staat seiner letzten Beschäftigung solcher Art waren, dass er in diesem Staat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hatte, und der daher als ein AN anzusehen war, der nicht Grenzgänger war, nicht nur Wiedereingliederungsleistungen dieses Staates in Anspruch nehmen, sondern von ihm auch Arbeitslosenunterstützung erhalten.

(30) Folglich stellt sich die Frage, ob die VO 883/2004 die Möglichkeit eines solchen AN unberührt gelassen hat, im Mitgliedstaat seiner letzten Beschäftigung Arbeitslosenunterstützung zu erhalten.

(31) Hierzu ist festzustellen, dass sich diese Möglichkeit nicht aus dem Wortlaut des Art 65 Abs 2 VO 883/2004 ergibt. Dieser sieht vor, dass sich der vollarbeitslose Grenzgänger der Arbeitsverwaltung seines Wohnstaats zur Verfügung stellen muss. Dabei handelt es sich um eine Verpflichtung und nicht um eine Möglichkeit. Nach Art 65 Abs 5 lit a erhält der AN Leistungen – und somit Arbeitslosenunterstützung – nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats, als ob diese Rechtsvorschriften für ihn während seiner letzten Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit gegolten hätten. Er kann sich nur zusätzlich bei der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats seiner letzten Beschäftigung melden. Nach Art 56 Abs 1 der DurchführungsVO, der auf Art 65 Abs 2 VO 883/2004 verweist, betrifft diese Meldung nur die Arbeitssuche.

(32) Da die VO 883/2004 nach Verkündung des Urteils Miethe erging, hätte der Verordnungsgeber, wenn er dies gewollt hätte, in Anbetracht seiner Absicht, die bestehenden Regelungen zu aktualisieren und zu vereinfachen, Art 65 der VO so fassen können, dass darin die Auslegung, die der Gerichtshof Art 71 VO 1408/71 im Urteil Miethe gegeben hat, vollständig und ausdrücklich Eingang gefunden hätte. Dies hat er jedoch nicht getan. Daher ist davon auszugehen, dass die Tatsache, dass in Art 65 Abs 2 VO 883/2004 die Möglichkeit, im Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung Arbeitslosenunterstützung zu erhalten, nicht ausdrücklich erwähnt wird, den ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers widerspiegelt, die Berücksichtigung des Urteils Miethe in der Weise zu begrenzen, dass für den betreffenden AN nur eine zusätzliche Möglichkeit vorgesehen wird, sich bei der Arbeitsverwaltung dieses Mitgliedstaats als Arbeitsuchender zu melden, um494 dort zusätzliche Unterstützung bei der Wiedereingliederung zu erhalten.

(33) Diese Auslegung wird im Übrigen durch die Vorarbeiten zur VO 883/2004 und zur Durchführungs-VO bestätigt. [...]

(36) Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass infolge des Inkrafttretens der VO 883/2004 die Bestimmungen des Art 65 dieser VO nicht im Licht des Urteils Miethe auszulegen sind. In Bezug auf einen vollarbeitslosen AN, der zum Mitgliedstaat seiner letzten Beschäftigung persönliche und berufliche Bindungen solcher Art beibehalten hat, dass er in diesem Staat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, ist Art 65 dahin zu verstehen, dass er einem solchen AN die Möglichkeit bietet, sich zusätzlich der Arbeitsverwaltung des betreffenden Staates zur Verfügung zu stellen, aber nicht, um dort Arbeitslosenunterstützung zu erhalten, sondern nur, um dort Wiedereingliederungsleistungen in Anspruch zu nehmen.

(37) Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Vorschriften über die Freizügigkeit der AN, insb die Bestimmungen von Art 45 AEUV, dahin auszulegen sind, dass sie den Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung daran hindern, im Einklang mit seinem nationalen Recht einem vollarbeitslosen Grenzgänger, der in diesem Mitgliedstaat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, eine Arbeitslosenunterstützung zu versagen, weil er nicht im Inland wohnt.

(38) Diese Frage ist im Hinblick auf eine Situation wie die von Herrn Jeltes zu prüfen. Die Situation von AN wie Frau Peeters und Herrn Arnold weist nämlich Besonderheiten auf, auf die im Rahmen der Beantwortung der dritten und der vierten Frage eingegangen wird.

[(39)–(45) ... Der Unionsgesetzgeber hat ein weites Ermessen bei der Wahl der Koordinierungsmaßnahmen ...]

(46) Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Vorschriften über die Freizügigkeit der AN, insb die Bestimmungen von Art 45 AEUV, dahin auszulegen sind, dass sie den Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung nicht daran hindern, im Einklang mit seinem nationalen Recht einem vollarbeitslosen Grenzgänger, der in diesem Mitgliedstaat die besten Aussichten auf berufliche Wiedereingliederung hat, eine Arbeitslosenunterstützung zu versagen, weil er nicht im Inland wohnt, sofern nach den Bestimmungen des Art 65 VO 883/2004 die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats zur Anwendung kommen.

(47) Die dritte und die vierte Frage betreffen die Situation von Personen wie Frau Peeters und Herrn Arnold, die wegen der zeitlichen Nähe zweier Phasen der Arbeitslosigkeit auf der Grundlage des nationalen Rechts das Wiederaufleben der Zahlung einer ihnen ursprünglich gewährten Arbeitslosenunterstützung beantragt haben, was ihnen jedoch aufgrund des zwischenzeitlichen Inkrafttretens der VO 883/2004 verweigert wurde.

(48) Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob in einer solchen Situation, um eine Einschränkung der Freizügigkeit der AN zu verhindern, die Übergangsbestimmungen des Art 87 Abs 8 VO 883/2004, der das Eigentumsrecht betreffende Art 17 der Charta der Grundrechte der EU und die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen sind, dass die betreffenden AN weiterhin Leistungen bei Arbeitslosigkeit seitens des Staates ihrer letzten Beschäftigung in Anspruch nehmen können.

(49) Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art 87 Abs 8 VO 883/2004 zugunsten einer Person, für die infolge dieser VO die Rechtsvorschriften eines anderen als des durch Titel II VO 1408/71 bestimmten Mitgliedstaats gelten, vorsieht, dass die zuvor geltenden Rechtsvorschriften für einen bestimmten Zeitraum nach Inkrafttreten der VO 883/2004 anwendbar bleiben, wenn sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert.

[(50)–(51) ... Leistungsansprüche nach Art 71 VO 1408/71 fallen nicht unter Titel II dieser VO ...].

(52) Daher ist Art 87 Abs 8 VO 883/2004 als solcher nicht unmittelbar auf die Rechtsstreitigkeiten der Ausgangsverfahren anwendbar.

(53) Deshalb stellt sich die Frage, ob dieser Umstand einer weiteren Anwendung der Rechtsvorschriften entgegensteht, die unter der VO 1408/71 anwendbar waren. [...]

(55) Wie der Generalanwalt in Nr 68 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ist die fehlende Erwähnung einer auf die Situation der betreffenden AN anwendbaren Übergangsbestimmung in der VO 883/2004 auf ein Versäumnis während des Rechtsetzungsverfahrens zurückzuführen, das zum Erlass der VO 883/2004 führte, und nicht Ausdruck einer bewussten Entscheidung des Verordnungsgebers, diese AN unmittelbar anderen Rechtsvorschriften zu unterstellen.

(56) Daher ist die Übergangsbestimmung in Art 87 Abs 8 VO 883/2004 dahin auszulegen, dass sie entsprechend auf vollarbeitslose Grenzgänger anzuwenden ist, die wegen der im Mitgliedstaat ihrer letzten Beschäftigung beibehaltenen Bindungen von diesem gem Art 71 VO 1408/71 auf der Grundlage der Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats Arbeitslosenunterstützung erhalten. Dass Art 71 zu Titel III VO 1408/71 gehört, steht dem in einem solchen Fall nicht entgegen.

(57) Was im Rahmen einer solchen Anwendung des Art 87 Abs 8 VO 883/2004 die Frage anbelangt, ob „sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht geändert hat“, so werden in den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen hinsichtlich der Bedeutung, die diesen Worten beizumessen ist, unterschiedliche Auffassungen vertreten.

[(58)–(61) ... Es ist dann von keiner Änderung des vorherrschenden Sachverhalts auszugehen, wenn nach nationalem niederländischem Recht noch ein Fortbezug in Betracht käme ...]

(62) Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage wie folgt zu antworten:

  • Die Bestimmungen des Art 87 Abs 8 VO 883/2004 sind auf vollarbeitslose Grenzgänger anzuwenden, die wegen der im Mitgliedstaat ihrer letzten Beschäftigung beibehaltenen Bindungen gem Art 71 VO 1408/71 von diesem Mitgliedstaat auf der Grundlage seiner Rechtsvorschriften Arbeitslosenunterstützung erhalten.395

  • Der Begriff des unverändert gebliebenen Sachverhalts iS von Art 87 Abs 8 VO 883/2004 ist anhand der nationalen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit zu beurteilen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob AN wie Frau Peeters und Herr Arnold die in diesen Rechtsvorschriften vorgesehenen Voraussetzungen für ein Wiederaufleben der Zahlung von Arbeitslosenunterstützung erfüllen, die ihnen im Einklang mit Art 71 VO 1408/71 auf der Grundlage dieser Rechtsvorschriften gewährt worden war. [...]

Anmerkung
1
Einleitung

Dieses EuGH-Urteil hat größere Bedeutung als man nach einer ersten Lektüre annehmen könnte. Es behandelt gleich drei wesentliche Fragen anhand der spezifischen Situation von Personen, die in einem Mitgliedstaat leben, in einem anderen aber einer Beschäftigung nachgehen und dann arbeitslos werden: Die ab 1.5.2010 anwendbare VO 883/2004 hat nämlich gerade für diese Personengruppe bewusst andere Lösungen gewählt als die Vorgänger-VO 1408/71. Die erste Frage möchte wissen, ob die vom EuGH unter der VO 1408/71 herausgearbeiteten Grundsätze implizit auch unter der VO 883/2004 fortgelten. Dahinter steht aber gleich die zweite Frage, und zwar, ob die neue VO 883/2004 auch „Verschlechterungen“ (zumindest aus der Sicht der Betroffenen im Einzelfall) verglichen mit der VO 1408/71 bringen kann. Die dritte Frage betrifft den Übergang von der VO 1408/71 auf die VO 883/2004. Vor allem die letzten beiden Fragen gehen daher weit über den Anlassfall hinaus und es können aus den Antworten des EuGH wichtige Schlussfolgerungen auch für andere Sachverhalte und auch für andere Rechtsbereiche als die AlV abgeleitet werden.

2
Gibt es noch Sonderregelungen in den „Miethe-Fällen“?
2.1
Rückblick: Rechtslage nach der VO 1408/71

Um die Tragweite der Ausführungen des EuGH besser abzuschätzen, empfiehlt sich zunächst eine kurze Zusammenfassung der alten Rechtslage unter der VO 1408/71:

Personen, die in einem Mitgliedstaat wohnten, aber in einem anderen Mitgliedstaat einer Beschäftigung nachgingen, wurden hinsichtlich der Leistungen bei Vollarbeitslosigkeit in der VO in die folgenden beiden Kategorien eingeteilt:

Echte Grenzgänger“, die in der Regel täglich, mindestens aber einmal wöchentlich in ihren Wohnstaat zurückkehrten (Art 1 lit b VO 1408/71), erhielten die Leistungen bei Arbeitslosigkeit ausschließlich von ihrem Wohnstaat (so, als ob sie dort zuletzt beschäftigt gewesen wären (Art 71 Abs 1 lit a Z ii) VO 1408/71). Für die Berechnung des Arbeitslosengeldes war dabei das zuletzt im Wohnland erzielte Einkommen heranzuziehen oder, wenn diese Beschäftigung im Wohnland kürzer als vier Wochen gedauert hat oder dort gar keine Beschäftigung ausgeübt wurde (was bei Grenzgängern idR der Fall ist), jenes fiktive Entgelt, das im Wohnland für eine Beschäftigung üblich ist, die der zuletzt im anderen Beschäftigungsstaat ausgeübten entsprach (Art 68 Abs 1 VO 1408/71 – was allerdings vom EuGH dahingehend relativiert wurde, dass auch das tatsächlich im letzten Beschäftigungsstaat erzielte Entgelt der Berechnung zu Grunde zu legen ist – 28.2.1980, 67/79, Fellinger, Slg 1980, 535).

Unechte Grenzgänger“, die seltener in ihren Wohnstaat zurückkehrten (klassisch: Saisoniers) hatten ein Wahlrecht: Sie konnten sich der Arbeitsverwaltung ihres letzten Beschäftigungsstaates zur Verfügung stellen und von diesem Staat auch Arbeitslosengeld beziehen; entschloss sich diese Person aber, in der Folge in ihren Wohnstaat zurückzukehren und sich dort der Arbeitsverwaltung zur Verfügung zu stellen, so musste sie zunächst das Arbeitslosengeld des ehemaligen Beschäftigungsstaates nach Art 69 VO 1408/71 (maximal drei Monate) mitnehmen; erst dann fiel das Arbeitslosengeld des Wohnstaates an. Als Alternative dazu konnte diese Person aber auch sofort in ihren Wohnstaat zurückkehren und sofort die Leistungen dort beziehen (Art 71 Abs 1 lit b Z ii) VO 1408/71). Für die Berechnung des Arbeitslosengeldes im Wohnland galten dieselben Grundsätze wie für echte Grenzgänger.

Zu diesen beiden klar aus der VO herauslesbaren Kategorien fügte der EuGH dann in der berühmten Miethe-E (EuGH 12.6.1986, 1/85, Slg 1986, 1837) eine dritte Kategorie hinzu, und zwar die „atypischen Grenzgänger“. Dabei handelt es sich zwar aus formaler Sicht um echte Grenzgänger, für die allerdings im ehemaligen Beschäftigungsstaat aufgrund der besonderen Situation viel bessere Vermittlungschancen bestehen als im Wohnland (Fuchs in

Fuchs
[Hrsg], Europäisches Sozialrecht6 [2013] VO 883/2004 Art 65 Rz 10). Bedeutsam waren diese Sonderrechte für die atypischen Grenzgänger nicht nur für die Frage, welcher Arbeitsvermittlung sich die betreffende Person zur Verfügung stellen kann (bessere Chancen eben im letzten Beschäftigungsstaat), sondern auch für die Frage, welches Arbeitslosengeld in Anspruch genommen werden kann. Echte Grenzgänger konnten nur das Arbeitslosengeld des Wohnlandes beziehen; sofern sie aber die Zusatzvoraussetzungen der Miethe-Fälle erfüllten, stand ihnen das Arbeitslosengeld des letzten Beschäftigungsstaates offen. Vor allem bei großen Unterschieden im Lohnniveau zwischen beiden Staaten kann dieser Unterschied somit erhebliche Auswirkungen haben (zB für einen Grenzgänger aus der Slowakei, der in Österreich gearbeitet hat, macht es einen großen Unterschied, ob er aufgrund seiner letzten Beschäftigung in Österreich österreichisches Arbeitslosengeld oder aufgrund eines [fiktiven] Lohnes in der Slowakei slowakisches Arbeitslosengeld bezieht).

2.2
Neue Rechtslage nach der VO 883/2004

Durch die mit 1.5.2010 in Kraft getretene Revision der VO 1408/71 durch die VO 883/2003 sollte diese Rechtslage nicht übernommen werden. Für unechte Grenzgänger hat sich grundsätzlich nichts geändert (Art 65 Abs 2 erster Satz, letzter Satz und Abs 5 VO496 883/2004). Echte Grenzgänger haben aber nunmehr die Möglichkeit, sich zusätzlich zur Arbeitssuche im Wohnstaat mit Leistungen auch aus diesem Staat (somit gleiche Rechte wie nach der VO 1408/71 – Art 65 Abs 2 erster Satz und Abs 5 lit a VO 883/2004) auch noch im ehemaligen Beschäftigungsstaat als arbeitssuchend registrieren zu lassen (Art 65 Abs 2 zweiter Satz VO 883/2004). Die Miethe-Möglichkeit, wahlweise im Falle von unechten Grenzgängern auch im letzten Beschäftigungsstaat Leistungen nach dessen Rechtsvorschriften zu beziehen, wurde aber (bewusst – wie die vom EuGH zitierten Materialen belegen) nicht kodifiziert. Echte Grenzgänger zB aus der Slowakei nach Österreich haben daher nach dem Wortlaut der VO 883/2004 keine Möglichkeit, österreichisches Arbeitslosengeld in Anspruch zu nehmen, können sich aber zusätzlich zur Beschäftigungssuche in der Slowakei auch noch in Österreich beschäftigungssuchend melden. Allerdings haben die Pflichten (zB Teilnahme an Umschulungsmaßnahmen) nach den Rechtsvorschriften des Wohnstaates (in unserem Beispiel der Slowakei) Vorrang vor jenen des letzten Beschäftigungsstaates (in unserem Beispiel Österreich – Art 56 Abs 2 VO 987/2009). Für die Berechnung ist allerdings nunmehr immer auf das im letzten Beschäftigungsstaat erzielte Entgelt abzustellen (Art 62 Abs 3 VO 883/2004).

2.3
Antwort des EuGH

Die Frage, ob die Miethe-Rsp trotz des eindeutigen Wortlauts der neuen VO 883/2004 trotzdem noch weitergilt, ist in der Lehre verhältnismäßig einhellig mit „ja“ beantwortet worden (Fuchs in

Fuchs
[Hrsg], Europäisches Sozialrecht6, VO 883/2004 Art 65 Rz 10 mwN). Der EuGH ist dieser Auffassung jedoch nicht gefolgt (in diese Richtung bereits Felten in
Spiegel
[Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, VO 883/2004 Art 65 Rz 9).

2.4
Überlegungen zur Ablehnung der Miethe-Fälle unter der VO 883/2004

Offensichtlich reicht dem EuGH für die echten Grenzgänger nunmehr die Möglichkeit, sich zusätzlich auch im ehemaligen Beschäftigungsstaat als arbeitssuchend zu melden, wenn dort die bessere Beschäftigungsmöglichkeit gegeben ist als im Wohnstaat. Allerdings kann man dieses Argument mE auch entkräften, wo doch ganz eindeutig nach Art 56 Abs 2 VO 987/2009 die Maßnahmen und Verpflichtungen im Wohnstaat Vorrang haben. Überspritzt formuliert hat ein solcher Grenzgänger keine Möglichkeit, im ehemaligen Beschäftigungsstaat eine Beschäftigung zu suchen, wenn der Wohnstaat dies nicht will (und zB die arbeitslose Person mit aktivierenden Maßnahmen eindeckt, die keinen Spielraum für eine Beschäftigungssuche im ehemaligen Beschäftigungsstaat mehr lassen). Man darf auch nicht vergessen, dass der EuGH damit akzeptiert, dass die in der früheren Judikatur herausgearbeitete prioritäre Zuständigkeit des ehemaligen Beschäftigungsstaates (zB EuGH 13.3.1997, C-131/95, Huijbrechts, Slg 1997, I-1409) gegenüber der Zuständigkeit des Wohnstaates umgedreht wird.

Der EuGH scheint durch seine Beantwortung der zweiten Frage auch keine Bedenken am nationalen Recht (unter dem Blickwinkel des AEUV), das eine Wohnortklausel enthält, zu haben. Das ist umso bedeutsamer, als der EuGH immer wieder zwar Bestimmungen der VO unbeanstandet lässt, ein nationales Recht, das vollinhaltlich diesem Verordnungsrecht entspricht, aber dann als zB mittelbar diskriminierend ansieht und im Wege des AEUV zu einer Leistungsverpflichtung gelangt (zB hinsichtlich des Pensionsvorschusses nach § 23 AlVG, der als Leistung bei Arbeitslosigkeit nach der VO 1408/71 ebenfalls nicht zu exportieren war, was allerdings der ANFreizügigkeit nach Art 45 AEUV widersprach – EuGH 11.9.2008, C-228/07, Petersen, Slg 2008, I-6989;RdA 2009, 373). Es bleibt somit die Frage, warum der EuGH in der Rs Miethe überhaupt zu dem Ergebnis gekommen ist, dass bei atypischen Grenzgängern der ehemalige Beschäftigungsstaat leistungspflichtig war, wenn offensichtlich nicht einmal der AEUV dazu verpflichtet und ja auch unter der VO 1408/71 (wie nunmehr unter der VO 883/2004) keine entsprechende Regelung vorgesehen war. Reicht zur Begründung der unterschiedlichen Ergebnisse tatsächlich die subsidiäre Möglichkeit der Beschäftigungssuche auch im ehemaligen Beschäftigungsstaat aus? Offensichtlich ist aus der Sicht des EuGH die Höhe des Arbeitslosengeldes nicht ausschlaggebend (diese kann ja im ehemaligen Beschäftigungsstaat erheblich höher als im Wohnstaat sein); es kommt ausschließlich auf die Beschäftigungssuche und offensichtlich die aktivierenden Maßnahmen an. Damit hat der EuGH mE einen wichtigen Hinweis darauf gegeben, dass wir uns auch in Fragen der grenzüberschreitenden Koordinierung der Sozialsysteme viel intensiver mit aktivierenden Maßnahmen auseinandersetzen müssen, als dies in der Vergangenheit geschehen ist (siehe auch Fuchs, Die Anwendung der Koordinierungsvorschriften bei Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik auf nationaler Ebene, in

Jorens
[Hrsg], 50 Jahre Koordinierung der sozialen Sicherheit [2010]; Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, hinsichtlich aktivierender Leistungen an den AG unlängst EuGH 13.12.2012, C-379/11, Caves Krier, Slg 2012, I-00000).

3
Kein Verschlechterungsverbot für die Ablöse der VO 1408/71 durch die VO 883/2004?

Aus diesem Urteil kann ein weiterer wichtiger Schluss gezogen werden: Offensichtlich lässt der EuGH – bei entsprechender Begründung – auch Verschlechterungen durch die VO 883/2004 im Vergleich mit der vorhergehenden Rechtslage nach der VO 1408/71 einschließlich der dazu ergangenen Judikatur zu. Das hat für verschiedene Rechtsbereiche Relevanz. So ist zB Art 44 VO 987/2009 hinsichtlich der grenzüberschreitenden Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der PV restriktiver als die zur VO 1408/71 ergangene Judikatur (EuGH 23.11.2000, C-135/99, Elsen, Slg 2000, I-10409, und EuGH 7.2.2002, C-28/00, Kauer, Slg 2002, I-1343 – hinsichtlich der Bedenken gegen diese Beschränkung siehe Pöltl in

Spiegel
[Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversiche497rungsrecht VO 987/2009 Art 44 Rz 11). Auch dabei handelte es sich um eine bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers, um ein stärkeres Naheverhältnis zum betreffenden Staat zu verlangen als nach der bisherigen Judikatur.

4
Übergangsrechtliche Aspekte

Der Jeltes-Fall hat aber auch interessante Facetten des Überganges von der VO 1408/71 auf die VO 883/2004 beleuchtet. Auslöser dieser Ausführungen des EuGH unter Rz 47 ff war die Situation von Frau Peeters und Herrn Arnold, die bereits vor dem Inkrafttreten der VO 883/2004 arbeitslos gewesen waren und damals nach der Miethe-Judikatur Arbeitslosengeld von ihrem ehemaligen Beschäftigungsstaat bezogen. Beiden wurde von den niederländischen Behörden auch bestätigt, dass sie bei einer neuerlichen Arbeitslosigkeit innerhalb eines bestimmten Rahmenzeitraums einen Anspruch auf Fortbezug der Leistung durch den ehemaligen Beschäftigungsstaat hätten. Zwar trat die erneute Arbeitslosigkeit innerhalb dieser Rahmenzeiträume ein, allerdings war inzwischen die VO 883/2004 in Kraft getreten, die eben keine Leistungsansprüche durch den ehemaligen Beschäftigungsstaat mehr vorsah.

Die VO 883/2004 enthält zwar eine Reihe von Übergangsvorschriften (insb Art 87), allerdings keine ausdrücklichen für diese Ansprüche auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit. Es verwundert daher nicht, dass der EuGH darin eine systemwidrige Lücke sieht. Interessant, dass er ohne weitere Nachforschungen annimmt, dass der Unionsgesetzgeber darauf einfach vergessen hat (Rz 55). Das Konstrukt, mit dem der EuGH auf ein Fortbestehen der Ansprüche schließt, ist aber noch interessanter. Er nimmt einfach die Regelung des Art 87 Abs 8 VO 883/2004, die für den Übergang hinsichtlich der anzuwendenden Rechtsvorschriften konzipiert ist. Zunächst muss der EuGH zwar zugeben, dass es sich bei der Übergangssituation nicht um eine solche der Versicherungszuständigkeit (Titel II VO 1408/71 – nur diese Fälle sind im Art 87 Abs 8 erfasst), sondern um eine des Titels III Kapitel 6 VO 1408/71 (Leistungen bei Arbeitslosigkeit) handelt. Dennoch wendet er diese Regelung analog mit der Wirkung an, dass diese Miethe-Ansprüche eben auch noch unter der VO 883/2004 fortwirken.

Diese Schlussfolgerung ist zwar – vom Ergebnis her betrachtet – durchaus nachvollziehbar; wirft aber viele schwerwiegende systematische Fragen auf. Zunächst einmal besteht die bange Frage, für welche weiteren Sachverhaltskonstellationen der Unionsgesetzgeber ebenfalls auf eine entsprechende Übergangsregelung vergessen hat. Auch die lang andauernde und dann aber nach zehn Jahren abrupt abrechende Fortwirkung des alten Rechts für den Leistungsbereich bei analoger Anwendung des Art 87 Abs 8 löst Fragen aus. Wenn also zB Kindererziehungszeiten schon vor dem 1.5.2010 zurückgelegt wurden und der Pensionsstichtag erst nach diesem Tag (unter dem Geltungsbereich der VO 883/2004) eintritt, hat dann die Anrechnung nach der Elsen/Kauer-Judikatur noch für Stichtage bis zum 1.5.2020, nicht mehr aber für Stichtage ab dem 1.6.2020 zu erfolgen? Kopfzerbrechen löst sicher auch die Auffassung des EuGH aus, was unter einer Änderung des „vorherrschenden Sachverhalts“ zu verstehen sei, könnten die Mitgliedstaaten in ihren Rechtsvorschriften festlegen (Rz 59). Im Unterschied dazu haben sich die Mitgliedstaaten nämlich geeinigt, dass dieser Begriff eine für alle Mitgliedstaaten einheitliche Auslegung verlangt (Praktischer Leitfaden der EK „Die Rechtsvorschriften, die für Erwerbstätige in der EU, dem EWR und der Schweiz gelten“ II/15). Die analoge Heranziehung des Art 87 Abs 8 hat uns daher für die Zukunft einige Denksportaufgaben auch für den Kernbereich dieser Regelung, nämlich die anzuwendenden Rechtsvorschriften, auferlegt. Zieht man auch die Schlussanträge vom 10.1.2013 von Generalanwalt Mengozzi in der Rs Jeltes heran (Rn 78), so relativiert sich diese Maßgeblichkeit alleine des nationalen Rechts wieder, da zB auf die Dauer der wiederaufgenommenen Erwerbstätigkeit abgestellt werden sollte, was schließlich auch gegen eine unterschiedslose Anwendung des zehnjährigen Übergangszeitraums sprechen könnte.

ME hätte der EuGH zu demselben Ergebnis auf einem einfacheren und unproblematischeren Weg gelangen können, indem er einfach seinen alten Grundsatz, dass eine VO nicht zuvor – sei es aufgrund des nationalen Rechts (21.10.1975, 24/75, Petroni, Slg 1975, 1149) oder aufgrund alter bilateraler Abkommen (EuGH 7.2.1991, C-227/89, Rönfeldt, Slg 1991, I-323) – bestandene Ansprüche vermindern darf. Er hätte diese Grundsätze nur auf die Ablöse der Ansprüche nach der VO 1408/71 durch die VO 883/2004 anwenden müssen (siehe auch Spiegel in

Fuchs
[Hrsg], Europäisches Sozialrecht6 VO 883/2004 Art 87 Rz 4 – allerdings dort noch ablehnend im Hinblick auf das Fehlen einer expliziten Übergangsregelung, was ja nunmehr durch die Rs Jeltes überholt scheint).498