WienkerDie Herausnahme von Arbeitnehmern aus der Sozialauswahl

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2012, 263 Seiten, € 79,90

MICHAELHAIDER (GRAZ)

Das vorliegende Buch erschien im Jahr 2012 als bereits 313. Band der Reihe „Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht“ des Berliner Verlags Duncker & Humblot. Die damit veröffentlichte Dissertation aus dem Jahr 2011 setzt sich thematisch mit einem Teilaspekt der Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen gem § 1 Abs 3 dKSchG auseinander (in Österreich: Sozialvergleich gem § 105 Abs 3c ArbVG).

Entsprechend den Grundsätzen in Österreich ist eine Kündigung auch in Deutschland allgemein dann sozial ungerechtfertigt und damit als unwirksam anzusehen, wenn zwar betriebliche Gründe für eine Kündigung vorliegen, ein Vergleich sozialer Gesichtspunkte jedoch ergibt, dass die Auflösung für den Gekündigten eine größere soziale Härte als für einen anderen (vergleichbaren) AN desselben Betriebs darstellt. Im Detail bestehen freilich (größere) Unterschiede zwischen der deutschen und der österreichischen Rechtslage (siehe zB Wolligger in

Neumayr/Reissner
[Hrsg], Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht2 [2011] § 105 ArbVG Rz 231 ff; zum deutschen Recht ua Linck in
Schaub/Koch/Linck/Treber/Vogelsang
, Arbeitsrechts-Handbuch14 [2011] § 135 Rz 1 ff):

Hierbei ist zB zu erwähnen, dass das dKSchG im Rahmen der Sozialauswahl neben dem Schutz der AN-Interessen auch die Interessen des AG schon durch ausdrückliche gesetzliche Vorkehrung berücksichtigen möchte. So erlaubt es § 1 Abs 3 Satz 2 dKSchG dem AG, gewisse AN aus der Sozialauswahl herauszunehmen, wenn deren Weiterbeschäftigung, insb wegen ihrer Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen oder zur Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes, im berechtigten betrieblichen Interesse liegt. Eine Herausnahme aus der Sozialauswahl betrifft damit vor allem Leistungsträger, um zB nach wirtschaftlich schwierigen Zeiten und damit einhergehenden betriebsbedingten Kündigungen über genügend besonders qualifizierte Fachkräfte im Betrieb zu verfügen, die ansonsten in Perioden des wirtschaftlichen Aufschwungs fehlen würden.

Durch die strenge Rsp des dBAG kommt diese Regelung nach Malte Wienker in der Praxis jedoch kaum zur Anwendung. So wird insb gefordert, dass die betrieblichen Interessen an der Weiterbeschäftigung eines sogenannten Leis tungsträgers mit den sozialen Belangen des sozial schwächeren AN abgewogen werden (dBAG 2 AZR 706/00 NZA 2003, 42). Eine solche Einzelfallabwägung sei aber praktisch kaum durchführbar und ihr Ergebnis schwer vorhersehbar.

Aus diesem Grund stellt der Autor die Möglichkeit der Herausnahme von AN aus der Sozialauswahl iSd § 1 Abs 3 Satz 2 dKSchG in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Hierbei sollen rechtssichere Lösungsansätze entwickelt werden, um eine verlässliche Anwendung dieses Instruments in der Praxis zu gewährleisten, dies jedoch ohne den Ausnahmecharakter der Norm im System der Sozialauswahl – und damit deren doch engen Anwendungsbereich – außer Acht zu lassen.

Im Rahmen der am Anfang der Arbeit stehenden Analyse des geltenden Rechts geht Wienker aufgrund verfassungsrechtlicher Argumente davon aus, dass das betriebliche Interesse iSd § 1 Abs 3 Satz 2 dKSchG als freie Unternehmerentscheidung vom AG selbst bestimmt wird und grundsätzlich die im Betrieb verfolgten arbeitstechnischen Zwecke sowie die wirtschaftliche Zwecksetzung des Unternehmens umfasst. Eine Grenze der freien Entscheidungsmacht des AG sieht der Autor nur in der Missbrauchskontrolle. Die Auswahl des betrieblichen Interesses darf daher nicht unsachlich, unvernünftig oder willkürlich sein.

Die sodann aufgeworfene Frage, ob AN sich selbst auf eine allfällige Herausnahme aus der Sozialauswahl berufen können, verneint Wienker. Eine Ausnahme nimmt er jedoch dann an, wenn sich der AG selbst insofern bindet, als er ein betriebliches Interesse definiert, das sich auf eine nicht begrenzte Menge von AN bezieht und zusätzlich dazu die Voraussetzungen des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes erfüllt sind.

Daran anschließend bearbeitet der Autor in ausführlicher Weise die individuellen („Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen“) und strukturellen („Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur“) Sachgründe, die ein betriebliches Interesse an der Weiterbeschäftigung der AN begründen können. Aufgrund der demonstrativen Aufzählung in § 1 Abs 3 Satz 2 dKSchG versucht Wienker zudem, weitere diesbezügliche Sachgründe zur Begründung eines betrieblichen Interesses an der Weiterbeschäftigung der AN herauszuarbeiten (zB Höhe der Personalkosten).

Ferner analysiert der Autor die bisherige Abwägungsrechtsprechung des BAG ua in Bezug auf die Herausnahme von Leistungsträger sowie betriebliche Ablaufstörungen. Dabei geht er davon aus, dass diese Judikaturlinie – ebenso wie jene zur grundsätzlich notwendigen Darlegung konkreter Nachteile bei der Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur – mit § 1 Abs 3 Satz 2 dKSchG unvereinbar sei. Zudem führe die Rsp dazu, dass unter dem derzeit geltenden560 Recht kein rechtliches Instrument gefunden werden könne, das die Herausnahme der AN aus der Sozialauswahl für die Praxis wesentlich handhabbarer werden lasse.

Aus diesem Grund entwickelt Wienker ua ein Stufenmodell zur Herausnahme von Leistungsträgern: Danach soll sich die Darlegungslast des AG hinsichtlich der Begründung eines betrieblichen Interesses mit der Anzahl der aus der Sozialauswahl ausgenommenen AN erhöhen. Diese Anhebung der Darlegungslast erfolge in drei Stufen, je nachdem, ob ein geringer, höherer oder höchster Anteil an AN des Betriebs aus der Sozialauswahl heraugenommen werden solle. Die prozentmäßige Ausgestaltung dieser Stufen sei betriebsgrößenabhängig ausgestaltet, wobei als Grundregel gelte: Je kleiner der Betrieb – auch hier wird zwischen klein, mittel und groß unterschieden –, desto höhere Grenzwerte sollen für jede einzelne Stufe geschaffen werden. Diesem Ergebnis entsprechend erarbeitet der Autor zudem einen Vorschlag zur Neuregelung dieser Materie iS eines den § 1 Abs 3 Satz 2 dKSchG konkretisierenden neuen Abs 3a leg cit.

Obwohl die von Wienker herausgearbeiteten Ergebnisse zum dKSchG mangels ähnlich konkreter Anordnung der Beachtung der AG-Interessen in § 105 Abs 3c ArbVG nicht direkt auf den Sozialvergleich umgelegt werden können, lohnt sich die Lektüre dieser Arbeit. Insb könnte sie Anstoßpunkt weiterer Überlegungen und Diskussionen sein, wie und in welchem Ausmaß berechtigte AG-Interessen im Rahmen des Sozialvergleichs auch in Österreich de lege lata (durch Ausgestaltung unklarer Gesetzesbegriffe in § 105 Abs 3c ArbVG, wo die AG-Interessen bisher teilweise beachtet wurden) oder de lege ferenda berücksichtigt werden können.