Keine aufschiebende Wirkung für Arbeitslose? – Verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 56 Abs 3 AlVG idF BGBl I 2013/71
Keine aufschiebende Wirkung für Arbeitslose? – Verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 56 Abs 3 AlVG idF BGBl I 2013/71
Mit 1.1.2014 wird das neue Bundesverwaltungsgericht seine Tätigkeit als alleinige Rechtsmittelinstanz zur Entscheidung über die Beschwerde bzw über den Vorlageantrag eines/r Arbeitslosen gegen den Bescheid bzw die Beschwerdevorentscheidung einer Regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (AMS) aufnehmen (vgl Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG idF BGBl I 2012/51). Die bisher zuständigen Ausschüsse für Leistungsangelegenheiten, die bei jeder Landesgeschäftsstelle des AMS über die Berufung bzw über den Vorlageantrag gegen den Bescheid bzw die Berufungsvorentscheidung in Arbeitslosenversicherungsangelegenheiten entschieden haben, werden mit 31.12.2013 (24:00 Uhr) aufgelöst.
Mit 1.1.2014 tritt auch das neue Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), welches das einheitliche Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte regelt, in Kraft. Dieses Gesetz trifft eine klare Regelung zugunsten der aufschiebenden Wirkung von Beschwerden bzw von Vorlageanträgen, die lediglich im Einzelfall unter sehr engen Voraussetzungen aberkannt werden kann.
Die Regelung des § 56 Abs 3 AlVG idF BGBl I 2013/71BGBl I 2013/71 (Verwaltungsgerichtsbarkeits-Anpassungsgesetz), ebenfalls in Kraft ab 1.1.2014, normiert für den Bereich der AlV allerdings eine gegenteilige Regelung. Es wird die aufschiebende Wirkung von Beschwerden bzw Vorlageanträgen generell verneint und lediglich die Möglichkeit der Zuerkennung im Einzelfall geregelt.
Rechtliche Überlegungen zur Verfassungsmäßigkeit bzw allfälligen Verfassungswidrigkeit dieser AlVGBestimmung sind Inhalt dieses Beitrags.
Art 136 B-VG idF BGBl I 2012/51BGBl I 2012/51 normiert in Abs 1, dass die Organisation der Verwaltungsgerichte des Bundes durch BG erfolgt. Abs 2 erster Satz bestimmt, dass das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Verwaltungsgerichtes des Bundes für Finanzen einheitlich durch ein besonderes BG geregelt wird. Abs 2 dritter Satz sieht vor, dass durch Bundes- oder Landesgesetz Regelungen über das Verfahren der Verwaltungsgerichte getroffen werden können, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sindoder soweitdas im ersten Satz genannte besondere Bundesgesetz dazu ermächtigt. Es wird somit verfassungsrechtlich der einheitlichen Regelung des Verfahrens der Verwaltungsgerichte der Vorrang gegeben. Eine bundes- oder landesgesetzliche Regelung des Verfahrensrechts der Verwaltungsgerichte muss jene Voraussetzungen erfüllen, die Art 136 Abs 2 B-VG normiert, um verfassungskonform zu sein.
Das in Art 136 Abs 2 B-VG genannte besondere BG, das einheitlich das Verfahren des Bundesverwaltungsgerichts regelt, ist das VwGVG.
§ 13 Abs 1dieses Gesetzes normiert, dass eine rechtzeitig eingebrachte und zulässige Beschwerdegem Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG (= Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit) aufschiebende Wirkunghat.
Abs 2 leg citregelt, dass die Behörde die aufschiebende Wirkung mit Bescheid ausschließen kann, wenn nach Abwägungder berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien der vorzeitige Vollzugdes angefochtenen Bescheides oder die Ausübung der durch den angefochtenen Bescheid eingeräumten Berechtigung wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist. Ein solcher Ausspruch ist tunlichst schon in den über die Hauptsache ergehenden Bescheid aufzunehmen.
§ 15 Abs 2 leg citnormiert, dass ein rechtzeitig eingebrachter und zulässiger Vorlageantrag aufschiebende Wirkung hat, wenn die Behörde die aufschiebende Wirkung der Beschwerde nicht ausgeschlossen hat.
§ 22 Abs 2 leg citregelt, dass das Verwaltungsgerichtim Verfahren über Bescheidbeschwerden die aufschiebende Wirkung durch Beschluss ausschließen kann, wenn nach Abwägungder berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien der vorzeitige Vollzugdes angefochtenen Bescheides ... wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist.
§ 22 Abs 3 leg citnormiert, dass das Verwaltungsgericht Bescheide der Behörde gem § 13und eigene BeschlüsseiZm der aufschiebenden Wirkung auf Antrag einer Partei aufheben oder abändern kann, wenn es die Voraussetzungen der Zuerkennung bzw des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung anders beurteilt oder wenn sich die Voraussetzungen, die für die Entscheidung über den Ausschluss oder die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde maßgeblich waren, wesentlich geändert haben.
Einer Beschwerde wird daher gesetzlich die aufschiebende Wirkung zuerkannt, die im Einzelfall mit Bescheid ausgeschlossen werden kann, wenn die strengen Anforderungen des § 13 Abs 2 VwGVG erfüllt sind. Auch dem Vorlageantrag wird aufschiebende Wirkung zuerkannt, sofern der zugrunde liegenden Beschwerde nicht im Einzelfall bescheidmäßig die aufschiebende Wirkung abgesprochen wurde.
Die Ermächtigung, eine generelle Norm zu erlassen, die die aufschiebende Wirkung der Beschwerde bzw des Vorlageantrags ausschließt, ist dem VwGVG nicht zu entnehmen.77
§ 56 Abs 3 AlVGidF BGBl 2013/71 normiert eine völlige Umkehrung der Regelungen der §§ 13, 15 und 22 VwGVG: Beschwerden und Vorlageanträge haben keine aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung kann erst im Rahmen der Beschwerdevorentscheidung (durch die Regionale Geschäftsstelle des AMS) zuerkannt werden, wenn ein diesbezüglicher Antrag innerhalb der Beschwerdefrist gestellt wurde, die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos erscheint und keine begründeten Zweifel an der Einbringlichkeit allfälliger Rückforderungen bestehen.
Die generelle Norm des § 56 Abs 3 AlVG schließt somit die aufschiebende Wirkung von Beschwerde und Vorlageantrag aus. Diese könne allenfalls auf Antrag im Einzelfall zuerkannt werden.
Die Regelung des § 56 Abs 3 AlVG idF BGBl 2013/71 ist/wäre (nur) dann verfassungskonform,
wenn sie iSd Art 136 BVG zur Regelung des Gegenstandes erforderlich wäreoder
soweit sieiSd Art 136 BVG im Rahmen der Ermächtigungdes im ersten Satz leg cit genannten besonderen BG(= des § 13 VwGVG) erfolgt wäre.
Zu prüfen ist daher zunächst, ob die Regelungen in § 56 Abs 3 AlVG zur Regelung des Gegenstandes erforderlichwären, um diese Bestimmung als verfassungskonform bestehen zu lassen.
Die Formulierung in Art 136 Abs 2 letzter Satz B-VG orientiert sich an Art 11 Abs 2 letzter Halbsatz B-VG (so auch ausdrücklich die Gesetzesmaterialien [ErläutRV 1618 BlgNR 24. GP 19]); dementsprechend ist auch die zu Art 11 Abs 2 B-VG ergangene stRsp des VfGH (vgl zB VfGH 1980/VfSlg 8945; VfGH 1987/ VfSlg 11.564; VfGH 1994/VfSlg 13.831; VfGH 1998/ VfSlg 15.351 und VfGH 2002/VfSlg 16.460) auf die Neuregelung zu übertragen. „Erforderlich“ im Sinn des Art 136 Abs 2 letzter Satz B-VGist nach dieser Judikatur als „schlechthin unerlässlich“zu verstehen. Seitens des Materiengesetzgebers hätte daher dargelegt werden müssen, wieso die Abweichung „schlechthin unerlässlich“ für die Regelung des jeweiligen Gegenstandes sein sollte. Gerade im Bereich des Arbeitslosenversicherungsrechts, das der Existenzsicherung arbeitsuchender Menschen dient und wo es im Regelfall der Bescheiderlassung um deren Leistungsanspruch geht, träfe der primäre und generelle Ausschluss der aufschiebenden Wirkung die betroffene Person weitaus härter als die ihr gegenüberstehende Versichertengemeinschaft. Eine Abwägung der berührten öffentlichen Interessen mit jenen der arbeitsuchenden Partei muss daher im Regelfall zugunsten der arbeitsuchenden Partei ausfallen, da es dieser zB nicht zumutbar ist, auf ihre Leistung für die Dauer des Beschwerdevorentscheidungsverfahrens bzw Gerichtsverfahrens zu warten bzw eine nicht geklärte Forderung vorerst zurückzuzahlen, während hingegen der Versichertengemeinschaft ein Zuwarten auf die allfällige Rückzahlung einer unzulässig erhaltenen Leistung zumutbarer ist. Wieso die Umkehrung der Normierungen des VwGVG die aufschiebende Wirkung betreffend in § 56 Abs 3 AlVG schlechthin unerlässlich sein soll, ist somit nicht ersichtlich. Gegen eine verfassungskonforme Beurteilung des § 56 Abs 3 AlVG bestehen daher unter dem Gesichtspunkt des „zur Regelung des Gegenstandes erforderlich Seins“ mE massive Bedenken.
Zu prüfen ist als zweiter Schritt, ob die Regelungen des § 56 Abs 3 AlVG im Rahmen der Ermächtigung des § 13 VwGVG erfolgt sind – vgl Art 136 Abs 2 dritter Satz B-VG, der eine bundesgesetzliche Regelung im Zusammenhang mit den einheitlichen Verfahrensregeln des Bundesverwaltungsgerichts nur soweit zulässt, soweit das Gesetz (= das VwGVG) dazu ermächtigt.
Die Ermächtigung des § 13 Abs 2 VwGVG reicht aber keinesfalls so weit, um die Regelung des § 56 Abs 3 AlVG zu rechtfertigen. Im Gegenteil, § 56 Abs 3 AlVG steht im klaren Widerspruch zu § 13 Abs 2 VwGVG, wird doch aus dieser Bestimmung, insb durch den letzten Satz des Abs 2, klar ersichtlich, dass es sich beim Ausschluss der aufschiebenden Wirkung – neben dem Vorliegen gravierender Umstände, die der aufschiebenden Wirkung entgegenstehen – um eine Einzelfallentscheidung handeln muss, da der Ausspruch tunlichst in den Bescheid aufgenommen werden soll. Eine generelle gesetzliche Umkehrung der Normierung durch den AlVG-Materiengesetzgeber, dass Beschwerden keine aufschiebende Wirkung zukommen solle und nur in Einzelfällen auf Antrag zuerkannt werden könne, ist mit § 13 Abs 2 VwGVG nicht in Einklang zu bringen.
§ 56 Abs 3 AlVG schließt für jede Beschwerde die aufschiebende Wirkung aus. Dh der Materiengesetzgeber gibt keine Kriterien für den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung vorund daher auch nicht solche, wie die in § 13 VwGVG geforderten, dass nämlich nach Abwägung derberührten öffentlichen Interessenund Interessen anderer Parteien der vorzeitigen Vollzugdes angefochtenen Bescheides wegen Gefahr im Verzug dringend geboten wäre.
Die vorliegende Regelung des § 56 Abs 3 AlVG überschreitet somit die Ermächtigung des § 13 Abs 2 VwGVG, daher bestehen gegen sie auch aus diesem Grund mE gravierende verfassungsrechtliche Bedenken.
Der VfGH hat sich in der Vergangenheit bereits mehrfach mit Vorgängerbestimmungen des § 56 Abs 3 AlVG idF BGBl 2013/71 befasst:
§ 56 Abs 2 AlVG idF BGB 1994/314 normierte den ausnahmslosen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Berufungen in Angelegenheiten des Arbeitslosengeldes.Diese Bestimmung hob der VfGH – im Rahmen einer auf Art 144 B-VG gestützten Bescheidbeschwerde – mit VfGH-Erk vom 10.6.1999, G 7/99 wegen Verstoßes gegen das rechtsstaatliche Prinzip auf. Er führte dabei aus, dass der VfGH 1986 an seiner mit VfSlg 11.196 begonnenen [...] Rsp festhält, wonach es unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Prinzips nicht angeht, den Rechtsschutzsuchenden generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung so lange zu belasten, bis 78sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur dessen Position, sondern auch der Zweck und Inhalt der Regelung, ferner die Interessen Dritter sowie schließlich das öffentliche Interesse. Der Gesetzgeber hat unter diesen Gegebenheiten einen Ausgleich zu schaffen, wobei aber dem Grundsatz der faktischen Effizienz eines Rechtsbehelfs der Vorrang zukommt und dessen Einschränkung nur aus sachlich gebotenen triftigen Gründen zulässig ist. Selbst wenn im Bereich des Leistungsverfahrens der AlV die von Verfassungs wegen gebotene Abwägung der Interessen besonders schwierig und der Gesetzgeber gehalten sein mag, der Behörde genauere Maßstäbe an die Hand zu geben, verbietet sich auch hier ein genereller Ausschluss der Gewährung einer aufschiebenden Wirkung.
§ 56 Abs 2 AlVG idF BGBl 1994/314 wurde mit BGBl 1999/142 aufgehoben. Durch BGBl 1999/179 wurde ab 1.7.1999 die Bestimmung dahingehend erweitert, dass einer Berufung aufschiebende Wirkung zuerkannt werden kann, wenn der darauf gerichtete Antrag innerhalb der Berufungsfrist gestellt wird, die Berufung nicht von vornherein aussichtslos erscheint und keine begründeten Zweifel an der Einbringlichkeit allfälliger Rückforderungen bestehen.
Individualanträge auf Aufhebung des § 52 Abs 2 sowohl idF BGBl 1994/314 als auch idF BGBl 1999/179 hat der VfGH mehrfach wegen Zumutbarkeit des Verwaltungsrechtsweges zurückgewiesen:
Der VfGH hat seit dem Beschluss VfGH 1977/ VfSlg 8009 in stRsp den Standpunkt vertreten, die Antragslegitimation nach Art 140 Abs 1 B-VG setze voraus, dass durch die bekämpfte Bestimmung die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigt werden müssen und dass der durch Art 140 Abs 1 B-VG dem Einzelnen eingeräumte Rechtsbehelf dazu bestimmt ist, Rechtsschutz gegen rechtswidrige generelle Normen nur insoweit zu gewähren, als ein anderer zumutbarer Weg hiefür nicht zur Verfügung steht (zB VfGH 1988/ VfSlg 11.684; VfGH 1994/VfSlg 13.871). Ein solcher anderer zumutbarer Weg zur Wahrung des Rechtsschutzes gegen die bekämpfte Gesetzesbestimmung sei jedoch gegeben. Dem Antragsteller stehe es nämlich offen, in einem seiner anhängigen Berufungsverfahren gegen Bescheide der regionalen Geschäftsstelle des AMS an die Berufungsbehörde das ausdrückliche Begehren zu richten, seiner Berufung die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen und in dieser Frage einen – auf die hier bekämpfte Bestimmung gestützten – Bescheid zu erwirken (vgl VfGH 1986/VfSlg 11.196, S 900; VfGH 1995/VfSlg 14.195; VfGH 1.12.1995, G 1306/95). Im Rahmen einer auf Art 144 B-VG gestützten Beschwerde habe der Antragsteller dann die Möglichkeit, beim VfGH die amtswegige Einleitung eines Normenprüfungsverfahrens anzuregen (vgl VfGH 10.6.1997, G 36/97;VfGH 27.11.2000, B 588/00).
Mit Rechtslage ab 1.1.2014 hat nun der Verfassungsgesetzgeber in Art 136 B-VG idF BGBl I 2012/51der einheitlichen Regelung des Verfahrens der neuen Verwaltungsgerichte den Vorrang eingeräumt und dem einfachen Gesetzgeber genaue Maßstäbe vorgegeben, innerhalb welcher Verfahrensregelungen vorgenommen werden dürfen.
Die Regelung des § 56 Abs 3 AlVG idF BGBl 2013/71BGBl 2013/71 schließt zwar die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde/eines Vorlageantrags nicht generell aus, sie steht aber – wie oben ausgeführt – sowohl im Widerspruch zu Art 136 Abs 2 dritter Satz B-VG als auch zu den einheitlichen Verfahrensregelungen der §§ 13, 15 und 22 VwGVG und scheint daher verfassungswidrig zu sein.
Eine rasche Änderung dieser Bestimmung durch den Gesetzgeber bzw eine rasche Klärung dieser Rechtsfrage bzw eine allfällige Behebung dieser Norm durch den VfGH – auch über ein Gesetzesprüfungsverfahren, das vom Bundesverwaltungsgericht in einem Anlassverfahren angeregt wird – wäre mE im Interesse aller Arbeitsuchenden, die Leistungen aus der AlV beziehen, überaus wünschenswert.