Pellar...mit sozialpolitischen Erwägungen – Staatliche Arbeitsstatistik und Gewerkschaftsmitsprache im Handelsministerium der Habsburgermonarchie

Verlag des ÖGB, Wien 2013, 380 Seiten, broschiert, € 38,–

JOSEFCERNY (WIEN)

Wenn man dieses, als Band 2 in der Schriftenreihe Berichte und Forschungen zur Gewerkschaftsgeschichte (Hrsg Klaus-Dieter Mulley und Peter Autengruber) erschienene Buch zur Hand nimmt, weiß man zunächst nicht, was einen erwartet. Der komplizierte und sperrige Titel lässt keine plausiblen Rückschlüsse auf den tatsächlichen Inhalt des Buches zu. Erst aus dem Vorwort der Präsidenten des ÖGB, Erich Foglar, und der Arbeiterkammer, Rudi Kaske, sowie aus der Einleitung wird ersichtlich, dass es sich um eine für die Veröffentlichung umfangreich überarbeitete Fassung der vor rund dreißig Jahren fertiggestellten Dissertation der Autorin handelt. Das wirft sofort die Frage auf, welche Gründe die Herausgeber veranlasst haben, diese Arbeit nach so langer Zeit in Buchform zu veröffentlichen. Der Hinweis der beiden Präsidenten im Vorwort, dass diese Arbeit „einen Meilenstein in der Aufarbeitung der Geschichte der Gewerkschaften und Arbeiterkammern“ darstellt, weckt beim/bei der LeserIn hohe Erwartungen, und tatsächlich werden diese Erwartungen nicht enttäuscht.

Schwerpunkt der Arbeit von Brigitte Pellar ist eine überaus gründliche und sorgfältig dokumentierte Darstellung der Entstehung, der Aufgaben und der Tätigkeit des arbeitsstatistischen Amtes als Schlüsselstelle für die Entwicklung einer einheitlichen Sozialverwaltung sowie des ständigen Arbeitsbeirats und seiner politischen Bedeutung. Daraus ist zu erkennen, dass in diesen Einrichtungen der Monarchie die Wurzeln des Sozialministeriums, der Arbeiterkammern und der Sozialpartnerschaft zu finden sind.

Der Inhalt des Buches geht aber über diesen Kernbereich des Themas weit hinaus, indem in den ersten drei Abschnitten Grundsatzfragen der Geschichte der Arbeiterbewegung, der Sozialpolitik und der Sozialforschung behandelt werden. Der I. Abschnitt gibt einen Überblick über die Entwicklung im 19. Jahrhundert in den bedeutendsten Industrienationen und in der Schweiz, wobei vor allem jene Entwicklungen näher beleuchtet werden, die einen direkten Einfluss auf das Werden der staatlichen Sozialforschung in Österreich ausgeübt haben. Der II. Abschnitt behandelt die Themenbereiche Staat und Sozialpolitik sowie Staat, Statistik und Nationalökonomie in den Reichsratsländern der Habsburgermonarchie, und der III. Teil ist dem Aufbau der staatlichen Sozialforschung im Konflikt zwischen Arbeiter-, Kapital- und Ressortinteressen 1872-1902 gewidmet. Da Pellar sich nicht damit begnügt, die Geschichte der Institutionen und die Diskussionen um den Auf- und Ausbau der Sozialgesetzgebung darzustellen, sondern auch die Bedeutung der Statistik, der Gesellschaftslehre (insb Lorenz von Stein) und der Nationalökonomie als Wissenschaften für die Ausformung von Sozialforschung und Sozialpolitik untersucht, ist ihr Buch nicht nur selbst ein wichtiger Beitrag zur Sozialforschung, sondern zugleich auch zu deren Geschichte.

Auch aus heutiger Sicht von besonderem Interesse ist die akribische Schilderung der politischen Auseinandersetzungen um die organisatorische Ansiedlung und die inhaltliche Aufgabenstellung des arbeitsstatistischen Amtes und des Arbeitsbeirats. Während die Konservativen und Liberalen in solchen Einrichtungen – wie überhaupt in der Sozialgesetzgebung – in erster Linie Instrumente zur Besänftigung und Niederhaltung der erstarkenden Arbeiterbewegung sahen, und Baernreither als Handelsminister nach dem Scheitern verschiedener Gesetzesinitiativen 1898 „auf dem Verwaltungsweg“ (Pellar, 110) das arbeitsstatistische Amt als gesonderte Abteilung des Handelsministeriums einrichtete, lehnte die junge sozialdemokratische Arbeiterbewegung die Eingliederung der Arbeitsstatistik in das Handelsministerium entschieden ab und forderte ein eigenes „Arbeiterministerium“ und – zunächst als Übergangslösung bis zur Erreichung des allgemeinen Wahlrechts – die Errichtung von Arbeiterkammern.

Vor diesem historischen Hintergrund wird nochmals deutlich, welchen politischen Affront die Übertragung der Kompetenz für das Arbeitsrecht – und damit auch des Aufsichtsrechts über die Arbeiterkammern – vom Sozialministerium auf das Wirtschaftsministerium durch die Regierung Schüssel im Jahr 2000 bedeutet hat. Dabei ging – und geht – es nicht um Sachfragen der Kompetenzverteilung, sondern um politische Symbolik und um das grundsätzliche Verständnis von Sozialpolitik.

Das Buch von Pellar stellt aber auch in anderen Fragen interessante Bezüge zur Gegenwart her. Wenn etwa der Arbeitsbeirat als Instrument beschrieben wird, mit dessen Hilfe der Klassenkampf an den „grünen Tisch“ verlagert werden sollte (S 81), so erinnert das frappant an Bruno Kreiskys Definition der Sozialpartnerschaft als „sublimierter Klassenkampf“.

Pellar schreibt in der Einleitung von dem „Versuch, aus der alten Arbeit ein den aktuellen Standards und dem aktuellen Forschungsstand so weit wie möglich entsprechendes und zudem lesbares Buch herauszufiltern“ (S 11). Leicht lesbar wird das Buch wohl nur für Insider der Sozialforschung sein, andere werden mit der Gründlichkeit der Autorin mitunter zu kämpfen haben. Wer es aber schafft, sich durch die Fülle der Information durchzuarbeiten, wird aus der Lektüre erheblichen Gewinn ziehen können.