Doppelter Verfall in der Arbeitskräfteüberlassung

WOLFGANGKOZAK (WIEN)
Die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit von Verfallsvereinbarungen in Dienstverträgen bzw Verfallsbestimmungen in Kollektiverträgen zählen seit jeher zu den emotionaler behandelten Themen des Arbeitsrechtes. Eine weitere Dimension kommt bei der Behandlung der Verfallsproblematiken im dreipersonalen Verhältnis, nämlich der Arbeitskräfteüberlassung, hinzu. Insb interessiert die die Frage, ob Verfallsbestimmungen des Beschäftiger-KollV zur Anwendung kommen können.
  1. Ausgangspunkt

  2. Verfallsbestimmungen im KollV

    1. Geltungsbereich von Verfallsnormen des Beschäftiger-KollV

    2. Die Normengruppenzugehörigkeit des Verfalls

    3. Verfallsbestimmungen für Überlasserunternehmen

  3. Auswirkungen des AÜG und der RL über Leiharbeit auf die kumulierte Anwendung von Verfallsbestimmungen

    1. Erwägungen der RL über Leiharbeit

    2. Schutz der Stammbelegschaft

    3. Mitteilungspflichten

    4. Judikatur

  4. Ergebnis

1.
Ausgangspunkt

Gegenständliche Abhandlung beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel von kollektivvertraglichen Verfallsnormen im Zusammenhang mit Arbeitskräfteüberlassung. Einzelvertragliche Verfallsvereinbarungen sind durch das gesetzliche Verbot des § 11 Abs 2 Z 5 AÜG unbeachtlich.* Der Stellung einer überlassenen Arbeitskraft als „Diener zweier Herren“,* die eine Geltendmachung von Ansprüchen innerhalb kurzer Fristen entscheidend erschwert, wurde durch diese Schutznorm vom Gesetzgeber Rechnung getragen.

Da der gegenständliche Abschnitt des AÜG mit der Überschrift „Vertragliche Vereinbarungen“ versehen ist, wird vom Schrifttum nicht in Frage gestellt bzw thematisiert,* ob dieses Verbot der Vereinbarung von Verfall oder der Verkürzung der Verjährung nicht auch Kollektivverträge betreffen könnte. Durch den Abschluss des KollV für Arbeitskräfteüberlassung 2002 für Arbeiter wurden nun zwei unterschiedliche Rechtskomplexe für Arbeiter und Angestellte in Fragen kollektivvertraglicher Verfallsvereinbarung geschaffen.

2.
Verfallsbestimmungen im KollV
2.1.
Geltungsbereich von Verfallsnormen des Beschäftiger-KollV

Grundsätzlich war die rechtliche Möglichkeit, Verfallsbestimmungen in Kollektivverträgen zu vereinbaren, bereits zu Zeiten des Einigungsamtsgesetzes 1920 gängige Praxis und rechtlich anerkannt.* Im Unterschied zur historischen Situation der ersten Republik mit der Existenz mehrerer freier Gewerkschaften zeichnet sich die gegenwärtige „Kollektivvertragslandschaft“ durch ein Überwiegen der Branchenkollektivverträge aus, auch wenn diese Dezentralisierungselemente „Öffnungsklauseln“ oder „Verteilungsoptionen“ enthalten.*

Als Folge des ausgehandelten Verhandlungsergebnisses spricht der OGH den – nunmehr aufgrund der Sozialpartnerschaft – ausgehandelten Kollektivverträgen erhöhte Richtigkeitsgewähr zu.104*

Werden aber zur Zeit die Verhandlungen über Normierungen in Kollektivverträgen überwiegend durch Branchengegebenheiten beeinflusst und daher in der Regel als sachlich begründet und verhältnismäßig gelten können, kann dies für eine Übertragung des Verhandlungsergebnisses auf andere Branchen, wie der Arbeitskräfteüberlassung, nicht von vornherein angenommen werden.

Dieses Ergebnis wird durch die Anordnung von § 10 Abs 1 AÜG gestützt. Diese Norm garantiert einen zweiseitigen Schutz. Durch den Zwang zur Einhaltung der Branchenüblichkeit bzw der Gültigkeit des gesetzlichen bzw kollektivvertraglichen Mindestentgeltes wird neben einem Wettbewerbsschutz für Unternehmen bzw dem Schutz der Stammbelegschaft, die AN fix beschäftigen, auch ein Lohnniveauschutz der Überlassenen bewirkt.* Rechtstechnisch ist diese Anordnung deshalb geboten, weil der Geltungsbereich der abgeschlossenen Kollektivverträge nur die jeweiligen fachgruppenzugehörigen Unternehmen bindet (Prinzip der fehlenden Außenseiterwirkung auf AG-Seite).* Eine Regelung für überlassene Arbeitskräfte in Branchen- Kollektivverträgen der Beschäftiger scheitert daher an der Regelungsbefugnis der abschließenden Parteien. Außer dem Sonderfall des AÜG-KollV und dem für Überlasser von Angestellten anzuwendenden KollV für das Handwerk und Gewerbe beziehen sich daher Kollektivverträge nicht auf die Rechtsbeziehung der Arbeitskräfteüberlassung. Dies gilt auch für im KollV enthaltene Verfallsregelungen.

2.2.
Die Normengruppenzugehörigkeit des Verfalls

Der OGH rechnete in einer Entscheidung von 1993* den Verfall zur Gruppe jener Normen, die das Arbeitsentgelt regeln. Verfallsbestimmungen eines KollV sind vom Entgeltanspruch nicht zu trennen, weil diese zu den Entgeltbedingungen gehörten, unter welchen ein Anspruch auf Entgelt (fort-)bestehe und geltend gemacht werden könne. Eine Nichtanwendung der Verfallsbestimmungen des Beschäftiger-KollV würde demnach ein Vorgehen nach der Rosinentheorie darstellen.

Zunächst ist festzuhalten, dass Verfallsbestimmungen jedenfalls nicht zu dem unmittelbaren Normenkreis gehören, welcher Bedingungen und Höhe des Entgeltes regelt. Verfallsbestimmungen haben nicht den Zweck, regelmäßig Vertragspartner, welche den Vertrag nicht erfüllen, einen Vorteil im Synallagma zu verschaffen, sondern in Sondersituationen Beweisschwierigkeiten zu verhindern. Gelegentlich wurden auch Rechtsmeinungen geäußert, dass kollektivvertragsunterworfene Unternehmer nicht in zukünftiger (betriebswirtschaftlicher) Disposition gehemmt sein sollen.*

Verfallsbestimmungen regeln daher nicht den Zeitpunkt von Anfall bzw Einstellung von Entgelt, sondern beschäftigen sich lediglich mit der Behandlung von entstandenen Schulden eines Vertragspartners, da dieser bereits entstandene Ansprüche nicht erfüllt.* Um Ansprüche gegen den Schuldner zu wahren, werden dem Gläubiger durch die Kollektivvertragspartner zusätzliche Handlungserfordernisse auferlegt. Verfallsbestimmungen sind daher mE nicht dem Kreis der Entgeltbestimmungen zuzurechnen, sondern bilden eine eigene Normenkategorie.

So behandelt § 6 DHG ebenfalls nicht Bedingungen von Entstehung und Vernichtung von Schadenersatzansprüchen des AG gegenüber der AN, sondern die Durchsetzungsmöglichkeiten von Schadenersatzansprüchen, die durch leicht fahrlässige Handlungen der AN entstanden sind. Ebenso wenig können die gerichtlichen Geltendmachungsfristen der Kündigungsentschädigung zB von § 1162d ABGB als Bedingungen für den Anspruch auf Schadenersatz angesehen werden.

Des Weiteren hatte der OGH in einem gänzlich anderen Fall (nämlich im Rahmen der Frage des Zusammenhangs eines Betriebsüberganges) darüber zu entscheiden, ob der Nachtfaktor eines KollV (Arbeitszeiten in der Nacht werden höher bewertet und führen daher zu einer Arbeitszeitverkürzung) als Entgelt zu werten ist.* Hier verneinte der OGH aber die Entgelteigenschaft dieser durch Kollektivvertragsnorm herbeigeführten Synallagmaveränderung. Wenn nun aber bereits eine Regelung, welche einen faktisch viel größeren Einfluss auf das Synallagma hat, nicht zu den Entgeltnormen gezählt wird, so sind Verfallsbestimmungen erst recht nicht zu Entgeltbedingungen zu rechnen.

Weiters kann zur Klärung gegenständlichen Problems auch auf die Strafbestimmung von § 7i Abs 3 AVRAG zurückgegriffen werden. Im Rahmen der Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping stellte der Gesetzgeber die tatsächliche Nichtzahlung des zumindest gesetzlich bzw aufgrund eines KollV geschuldeten Grundlohns unter Strafe. Strafbefreiend bzw strafmindernd wirkt die tatsächliche Nachzahlung des Grundlohns innerhalb einer gesetzten Frist.* Der Gesetzgeber ging also bei der Schaffung dieser Norm ebenfalls davon aus, das Verfallsbestimmungen der Kollektivverträge nicht den das Entgelt regelnden Bestimmungen zuzurechnen sind, sondern Normen darstellen, welche Gläubigerverhalten im Rahmen der Durchsetzung ihrer Forderungen gegenüber dem Schuldner regeln.

Der Argumentationskreis schließt sich, betrachtet man abschließend die Judikatur zu Sittenwidrigkeit des Verfalls generell. Dieser ist folgende Grundaussage zu entnehmen: Eine Berufung auf eine Verfallsklausel stellt dann Rechtsmissbrauch dar, wenn sie Folge einer Vorgansweise ist, welche die Geltendmachung eines Anspruches derart erschwert, dass diese praktisch unmöglich wird.* Diese Schwelle soll jedenfalls dann105 überschritten sein, wenn der AG keine ausreichenden Lohnunterlagen zu Verfügung stellt bzw es „geradezu darauf anlegt, die (rechtzeitige) Anspruchsdurchsetzung durch den AN zu verhindern“.* Aus den von der Judikatur entwickelten Grundsätzen ist evident, dass Verfallsbestimmungen nicht Entgeltbestimmungen, sondern – allgemein gesprochen – Durchsetzungsbestimmungen für den Verzugsfall sind.

2.3.
Verfallsbestimmungen für Überlasserunternehmen

Abhängig davon, ob Personal in Angestellten- oder Arbeitereigenschaft überlassen wird, sind zum einen für überlassene Angestellte der KollV für das Handwerk und Gewerbe (Gewerbe-KollV), zum anderen der KollV für das Gewerbe der Arbeitskräfteüberlassung (AÜGKollV) für überlassene ArbeiterInnen anwendbar. Durch die erschöpfende Regelung des Verfalls im AÜG-KollV sind generell Verfallsnormen der Beschäftiger-Kollektivverträge nicht beachtlich.* Der Gewerbe-KollV beinhaltet im Vergleich dazu lediglich Verfallsnormen zu Überstunden bzw Zeitausgleich und Ersatz von Reisekosten bzw von pauschalen Reisediäten.*

Es stellt sich die Frage nach Anwendung einer Verfallsregelung eines Beschäftiger-KollV daher nur mehr bei Angestellten.*

3.
Auswirkungen des AÜG und der RL über Leiharbeit auf die kumulierte Anwendung von Verfallsbestimmungen
3.1.
Erwägungen der RL über Leiharbeit

Gem Erwägung 14 der RL 2008/104/EG vom 19.11.2008 müssen die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für Leih-AN mindestens denjenigen der Stammbelegschaft entsprechen. Die RL schränkt den Begriff aber auf die Bereiche Arbeitszeit und Arbeitsentgelt ein. Nach der hier vertretenen Rechtsauffassung, dass Verfallsbestimmungen nicht zu Bestimmungen über das Arbeitsentgelt gezählt werden können, gewinnt man daher aus der Leiharbeits- RL keine unterstützende Argumentation. Vertritt man jedoch die vom OGH 1993 geäußerte Rechtsmeinung,* verhindert Art 5 iZm Erwägung 14 gegenständlicher RL die daraus folgende Konsequenz, dass Verfallsbestimmungen des Beschäftiger-KollV anzuwenden wären.

Geht man nämlich nicht von einem atypischen – also lang andauernden – Überlassungsverhältnis zu lediglich einem Beschäftiger aus, wird eine Leiharbeitskraft regelmäßig mehrere verschiedene und kurzfristige Überlassungen in einem Arbeitsverhältnis absolvieren. Neben den Verfallsbestimmungen des „eigenen“ KollV müsste dann die betroffene Leiharbeitskraft, wenn die Verfallsbestimmungen der Beschäftiger-Kollektivverträge anzuwenden wären, für jeden Zeitraum der Überlassung unterschiedliche Verfallskonstellationen beachten. Dies würde aber zu einer erheblichen Erschwerung der Arbeitsbedingungen der überlassenen Person führen. Die Konsequenz wäre, dass eine solche Auslegung der RL über Leiharbeit widerspräche.

3.2.
Schutz der Stammbelegschaft

§ 2 Abs 3 AÜG regelt, dass durch den Einsatz von überlassenen Arbeitskräften keine Beeinträchtigung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie keine Gefährdung der Arbeitsplätze der Stammbelegschaft eintreten darf. Durch Schaffung einer komplexen Rechtslage bezüglich kumulierter Verfallsregelungen verschiedener Kollektivverträge steigt jedenfalls die Gefahr kalkulierten Rechtsbruchs.* Die Gefährdung von Arbeitsplätzen der Stammbelegschaft kann in einer solchen Situation gegeben sein, da in der Folge die überlassene Arbeitskraft deutlich kostengünstiger angeboten werden könnte.

3.3.
Mitteilungspflichten

Als weiteres Indiz, dass der Gesetzgeber nicht von einer kumulierten Anwendung der Kollektivvertrags- Verfallsbestimmungen ausging, kann die Normierung von § 12 Abs 1 AÜG angesehen werden. Zwar ist die Informationspflicht des Überlassers offen normiert und umfasst die wesentlichen Überlassungsbedingungen, in der demonstrativen Aufzählung werden jedoch nur die Punkte Arbeitszeit und Arbeitsentgelt erwähnt. Ein Bezug auf Verfallsbestimmungen des Beschäftiger-KollV fehlt vollständig.

3.4.
Judikatur

Der OGH stellte bereits 2007 fest,* dass jedenfalls Verfallsnormen des Beschäftiger-KollV betreffend des Grundlohns nicht anzuwenden seien. Aus der Argumentation ist ersichtlich, dass der erkennende Senat die Zuordnung der Kollektivvertrags-Verfallsbestimmungen zu den Entgeltbedingungen grundsätzlich nicht in Frage stellt. Über die Verfallsanwendung auf über den Grundlohn hinausgehende Ansprüche schweigt jedoch das Höchstgericht. Die Frage, ob weitergehende Ansprüche nach § 10 Abs 3 AÜG nach Meinung des OGH den Verfallsbestimmungen des Beschäftiger-KollV unterliegen, blieb vom Höchstgericht bis jetzt unbeantwortet.

4.
Ergebnis

Verfallsbestimmungen sind aufgrund des nicht gegebenen Geltungsbereiches des Beschäftiger-KollV nicht auf das Arbeitsverhältnis von überlasse106nen Arbeitskräften anwendbar. Verfallsbestimmungen generell sind nicht dem Normenkreis der Entgeltbedingungen, sondern den Durchsetzungsnormen bei Schuldnerverzug zuzurechnen. Verfallsbestimmungen des Beschäftiger-KollV sind daher aufgrund des Fehlens der Eigenschaft als Entgeltbestimmung von § 10 AÜG nicht umfasst. Selbst wenn man die Anwendbarkeit der Verfallsbestimmungen des Beschäftiger-KollV im Rahmen der Arbeitskräfteüberlassung bejahen sollte, sind diese aufgrund der erheblich belastenden Auswirkung für Leih-AN aufgrund Art 5 RL über Leiharbeit unanwendbar.