Kämper/Puttler (Hrsg)Straßburg und das kirchliche Arbeitsrecht

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2013, 75 Seiten, € 32,90

DORISWAKOLBINGER (LINZ)

Im Jänner 2011 veranstalteten die HerausgeberInnen des vorliegenden Sammelbandes Burkhard Kämper und Adelheid Puttler an der juridischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum die Fachtagung „Straßburg und das kirchliche Arbeitsrecht“. Dabei ging es um die Folgen zweier Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) für das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland. In beiden Fällen stand das Kernstück des kirchlichen Arbeitsrechts – die besonderen Loyalitätsanforderungen im kirchlichen Dienst – im Mittelpunkt.

Im Fall Schüth (EGMR 23.9.2010, 1620/03, Schüth/ Deutschland) ging es um die Kündigung eines Kirchenmusikers durch eine katholische Kirchengemeinde. Der Beschwerdeführer war seit Mitte der 1980er-Jahre bei der katholischen Pfarrgemeinde St. Lambert im Bistum Essen als Organist und Chorleiter tätig. 1994 trennte er sich bei aufrechter Ehe von seiner Frau und lebte ab 1995 mit einer neuen Partnerin zusammen. Nachdem der Gemeinde bekannt geworden war, dass er mit der neuen Partnerin ein Kind erwartete, wurde er im Juli 1997 mit Wirkung April 1998 gekündigt, da er gegen die Grundordnung der katholischen Kirche für den kirchlichen Dienst im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse verstoßen habe. Nachdem der Kl zunächst siegreich gewesen war, hatte das Landesarbeitsgericht Düsseldorf die Kündigung nach erfolgreicher Revision der Gemeinde vor dem Bundesarbeitsgericht bestätigt.

Im Fall Obst (EGMR 23.9.2010, 425/03, Obst/Deutschland) war der langjährige Gebietsdirektor für Öffentlichkeitsarbeit Europa der Mormonenkirche ebenfalls gekündigt worden, weil er eine außereheliche Beziehung unterhielt. Der Beschwerdeführer Obst wuchs als Mormone auf und heiratete 1980 diesem Glauben entsprechend. Als er einem Seelsorger anvertraute, dass er ein außereheliches Verhältnis gehabt habe, informierte er auf dringenden Rat des Seelsorgers seinen Dienstvorgesetzten, wenige Tage später wurde er fristlos gekündigt und in der Folge aus der Kirche ausgeschlossen. Das Landesarbeitsgericht Hessen hatte die Kündigung nach erfolgreicher Revision der Mormonenkirche vor dem Bundesarbeitsgericht bestätigt.

In beiden Fällen erhoben die Kl Beschwerde vor dem EGMR mit der Behauptung, durch die Entscheidungen der Arbeitsgerichte in ihrem Recht aus Art 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – verletzt worden zu sein. In beiden Fällen war der zentrale Punkt des Verfahrens, verkürzt gesprochen, die Abwägung zweier Rechtspositionen – das Recht der Beschwerdeführer aus Art 8 EMRK einerseits und die Religionsfreiheit der Kirchen gem Art 9 EMRK andererseits. Der EGMR gelangte in diesen Fällen zu unterschiedlichen Erkenntnissen: Während der Gerichtshof im sogenannten Mormonenfall Obst keine Verletzung des Rechts auf Privatund Familienleben nach Art 8 EMRK annahm, ging er im Fall des Kirchenmusikers Schüth von einer solchen Verletzung aus. Im Fall Obst stellt der EGMR fest, dass die deutschen Arbeitsgerichte alle wesentlichen Gesichtspunkte des Falles berücksichtigt und eine sorgfältige Abwägung der Interessen vorgenommen hätten. Die Tatsache, dass die deutschen Gerichte den Interessen der Mormonenkirche nach sorgfältiger Abwägung ein größeres Gewicht beigemessen hätten als173 jenen des Beschwerdeführers, stehe an sich nicht in Konflikt mit der Konvention. Im Fall Schüth kommt der EGMR hingegen zu dem Ergebnis, dass eine gründlichere Prüfung bei der Abwägung der konkurrierenden Interessen angemessen gewesen wäre (Abwägungsdefizit). Das Landesarbeitsgericht habe manche Argumente nicht weiter ausgeführt, sondern lediglich die Meinung des kirchlichen AG wiedergegeben.

Der vorliegende Band enthält fünf Beiträge, beruhend auf den Vorträgen der Fachtagung, welche die Auswirkungen der beiden Urteile aus unterschiedlichen Perspektiven beurteilen.

Der Beitrag von Christoph Grabenwarter (Wirtschaftsuniversität Wien, Verfahrensbevollmächtigter des Bistums Essen im Fall Schüth) stellt die unterschiedlichen Begründungsmuster des EGMR kritisch gegenüber und konstatiert, dass die Argumentation im Fall des Kirchenmusikers Schüth, in dem eine Verletzung des Privat- und Familienlebens angenommen wurde, auch im Fall des Mormonen Obst hätte auftauchen können, dort aber wohl nicht in die Begründung der Nichtverletzung passte. Für ihn macht das die Verwendung der jeweiligen Argumente fragwürdig und relativiert ihre Bedeutung. Er leitet jedoch aus beiden Urteilen ab, dass die deutsche Rechtslage – mit der Einrichtung einer Arbeitsgerichtsbarkeit und der Möglichkeit der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht (BVfG) – die aus Art 8 EMRK resultierenden Pflichten zum gerichtlichen Schutz vor Verletzungen von Art 8 EMRK durch Kündigungen erfüllt. Zusammen mit der vom EGMR betonten Einzelfallgerechtigkeit spräche vieles dafür, dass der Gerichtshof das System des deutschen kirchlichen Arbeitsrechts und der Rsp im Allgemeinen nicht generell in Frage stellen wollte, wenngleich die Anforderungen an die Begründung gerichtlicher Entscheidungen angehoben wurden.

In einem zweiten Beitrag erörtert Jacob Joussen (Ruhr- Universität Bochum) die Situation vor den Entscheidungen des EGMR und nennt dabei zahlreiche Beispiele aus der Rsp in Bezug auf die außerdienstliche Loyalität (zB Kündigung wegen Kirchenaustritts, Wiederverheiratung nach Scheidung, Eintretens gegen das Abtreibungsverbot und homosexueller Praxis). Grundtenor all dieser Entscheidungen ist, dass kein/e kirchliche/r AN außerhalb der kirchenspezifischen Pflichtbindung steht, auch wenn er/sie selbst keine geistig religiöse Verkündigungsaufgabe wahrnimmt, wobei die Kirche selbst das Maß der jeweiligen Loyalitätsanforderungen vorgibt. In den Fällen Schüth und Obst bestätigt der EGMR, dass das verfassungsrechtliche Selbstbestimmungsrecht der Kirchen weit reicht und auch dazu führen kann, dass Loyalitätsverstöße zu einer Kündigung führen können, aber die Position der AN, etwa aus dem Schutz von Ehe und Familie gem Art 6 Grundgesetz (GG) oder Art 4 GG (Glaubensfreiheit), dürfe nicht vollständig vernachlässigt werden. Dies aber entspricht schon der jetzigen Rechtslage – man hatte es nur häufig bequem vergessen.

Im dritten Beitrag von Stefan Magen (Ruhr-Universität Bochum) wird auf die Leitentscheidung des BVerfG aus dem Jahre 1985 eingegangen, die bisher den verfassungsrechtlichen Rahmen für Loyalitätspflichten festlegte (BVerfG 4.6.1985, 2 BvR 1703/83). Aus ihr folgte das Gebot der Interessenabwägung – wohlgemerkt nachdem die Kirche selbst das Maß der Loyalitätspflichten festgelegt hatte. Bisher prägte dieser Rahmen auch die Rsp der Arbeitsgerichte. Magen arbeitet die Konfliktpunkte zwischen EGMR und BVerfG heraus, die sich insb dadurch ergeben, dass die EMRK in Deutschland im Rang eines einfachen Bundesgesetzes steht. Daher stehe nicht fest, dass die Entscheidungen des EGMR Vorrang gegenüber jenen des BVerfG genießen. Es werden allgemeine Mechanismen zur Abstimmung und Konfliktvermeidung zwischen GG und EMRK erörtert und Konsequenzen für die Umsetzung der EGMR-Rsp in das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland gezogen. Er kommt zum Ergebnis, dass das GG einer uneingeschränkten Rezeption des Schüth-Urteils entgegenstehe, wenn das BVerfG seine Rsp beibehalten wolle.

Der vierte Beitrag von Martin Böckel (Personalverantwortlicher im Erzbischöflichen Generalvikariat Köln) geht aus der Sicht des Praktikers der Frage nach, was kirchliche AG in Zukunft zu beachten haben. Für diese sieht er neue Begründungszwänge und Darlegungslasten. Straßburg erwarte, dass die Folgen, die sich für gekündigte MitarbeiterInnen ergeben, mit der Schwere der Verletzung und der Bedeutung eines Mitarbeiters/einer Mitarbeiterin in der kirchlichen Aufgabenstruktur in Verhältnis gesetzt werden. Kritisiert wird zudem die fremd wirkende Begründung im Fall Schüth, die wenig Achtung vor der Stellung der Kirchen zeige.

Manfred Jüngst (Vorsitzender Richter am Landesarbeitsgericht Köln) stellt im abschließenden Beitrag Überlegungen aus der Sicht des Richters am Landesarbeitsgericht an. Dabei zeigt er zehn Gesichtspunkte auf, die für die im Einzelfall vorzunehmende Interessenabwägung zu beachten sein werden.

Der Band leistet einen interessanten Beitrag zur kritischen Analyse der beiden Entscheidungen. Insb positiv zu bewerten ist dabei die ausgewogene Auswahl der Autoren. Dadurch wird eine – oft vermisste – Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis geschlagen. Besonders hervorgehoben sei der Beitrag von Stephan Magen, da hierin der aus österreichischer Perspektive spannende Rang der EMRK als einfaches Bundesgesetz und deren Verhältnis zum deutschen GG erörtert wird.