9Kollegiale Auseinandersetzungen und Unfallversicherungsschutz
Kollegiale Auseinandersetzungen und Unfallversicherungsschutz
Arbeitsunfälle iSd § 175 Abs 1 ASVG sind Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Beschäftigung ereignen.
Kollegiale Auseinandersetzungen zwischen MitarbeiterInnen, wie ein Klaps auf den Kopf und ein Fußtritt mit einem Metallkappenschuh in das Gesäß, der zu einem Bruch des kleinen Fingers führt, sind auf deren freundschaftliches Verhältnis zurückzuführen. Solche „Albereien“ stehen nicht unter Unfallversicherungsschutz.
1. Die Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfall iSd § 175 Abs 1 ASVG würde voraussetzen, dass er sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit einer die Versicherung des Kl begründenden Beschäftigung ereignet hätte. Die Beurteilung, ein solcher Unfall liege deshalb nicht vor, weil die „kollegiale Auseinandersetzung“ des Kl (nach den Umständen des Einzelfalls) nicht unter Unfallversicherungsschutz stand, liegt im Rahmen stRsp des OGH in vergleichbaren Fällen:
2. Es entspricht stRsp, dass bei tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Beschäftigten auf der Betriebsstätte der für den Unfallversicherungsschutz112 erforderliche innere Zusammenhang zwischen dem zum Unfall führenden Ereignis und der versicherten Tätigkeit nur dann vorliegt, wenn der Streit (unmittelbar) aus der Betriebsarbeit erwachsen ist (RIS-Justiz RS0112579 [T2]).
3. Die Feststellungen der Tatsacheninstanzen sind hier jedoch dadurch gekennzeichnet, dass die Verletzung des Kl auf einer „Alberei“ zwischen Kollegen beruhte, die auf deren freundschaftliches Verhältnis zurückzuführen war und sich ebenso in ganz anderem Umfeld („im Zuge der üblichen Spaßereien genauso auf einem freien Gelände, einem Parkplatz oder auch einem anderem Raum“) hätte ereignen können:
3.1. Es gab „aus rein betrieblichen Gründen“ nämlich weder für den Arbeitskollegen einen Grund, den Kl mit einem (verbalen) Scherz zu provozieren, noch für den Kl einen Anlass, seinem Kollegen mit einem Kartonstück einen „Klaps“ auf den Kopf zu geben und ihn so zur Gegenreaktion (versuchter Fußtritt mit Metallkappenschuh ins Gesäß des Kl) zu provozieren, die zusammen mit der Abwehrreaktion des Kl dessen Verletzung (Bruch des Mittelhandknochens des rechten Kleinfingers) verursachte. [...]
5.2. Die Beurteilung, ob im konkreten Fall ein Verhalten in so hohem Maß vernunftwidrig war und zu einer solchen besonderen Gefährdung geführt hat, dass die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen ist, hat ebenfalls stets nach den Umständen des Einzelfalls zu erfolgen (10 ObS 37/04w, SSV-NF 18/26). Auch wenn das Verhalten des Kl im vorliegenden Fall als in so hohem Maß gefahrenerhöhend beurteilt worden wäre, dass die versicherte Tätigkeit nicht mehr als wesentliche Bedingung für den Unfall angesehen werden könnte, wäre – entgegen der im außerordentlichen Rechtsmittel vertretenen Ansicht – der dabei eingeräumte Ermessensspielraum nicht überschritten worden.
5.3 Demgemäß ist auch die Beurteilung des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden, die das gleiche Ergebnis aus der stRsp ableitet, wonach „Streitigkeiten oder Raufereien“ dann nicht mehr im inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit stehen, wenn sie nicht aus (rein) betrieblichen Gründen motiviert und begründet sind (RIS-Justiz RS0084133 [T9]), und ein aus persönlichen Gründen entfachter Streit einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und einer im Verlauf der Auseinandersetzung erlittenen Verletzung ausschließt (RIS-Justiz RS0084198).
Auch in Deutschland wird bei vergleichbarer Rechtslage in Lehre und Rsp übereinstimmend die Auffassung vertreten, dass es im Allgemeinen an dem inneren Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit fehlt, wenn ein Erwachsener bei einer Ne ckerei mit anderen Betriebsangehörigen verletzt wird (vgl Krasney in
5.4. Wie der Rechtsmittelwerber selbst festhält, geht es bei der Feststellung einer inneren (oder: sachlichen) Verknüpfung zwischen einem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen UV reicht. Die Feststellung eines inneren Zusammenhangs ist eine Wertentscheidung, die erfordert, sämtliche Gesichtspunkte und Überlegungen miteinzubeziehen und sie sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit zu werten; erst daraus folgt entweder das Vorhandensein eines versicherten Verhaltens oder das Vorliegen privatwirtschaftlicher Verrichtungen. Entscheidend ist, ob die Gesamtumstände dafür oder dagegen sprechen, das unfallbringende Verhalten dem geschützten Bereich oder der Privatsphäre des Versicherten zuzurechnen (10 ObS 16/11t mwN).
5.5. Da die zu lösende Rechtsfrage somit keine über diesen Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat, wurde vom Berufungsgericht zu Recht ausgesprochen, dass die Revision nach § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig ist.
Lehrlinge bewerfen sich gegenseitig mit Nägeln. Eine Schülerin schubst einen Schulkollegen in der Pause von seinem Skateboard. Ein Lagerarbeiter versetzt seinem Arbeitskollegen einen Fußtritt auf das Gesäß. Diese scherzhaft gemeinten Spielereien führen jeweils zu einer Verletzung eines der beiden Beteiligten. Für diese Sachverhalte besteht kein Sondertatbestand im Unfallversicherungsrecht, sodass die Generalklausel in § 175 Abs 1 ASVG einschlägig ist (für SchülerInnen gilt die ähnliche Formulierung in § 175 Abs 4 ASVG). Danach ist ein Unfall ein Arbeitsunfall, wenn ein örtlicher, zeitlicher und ursächlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit besteht. Die vorliegende E betrifft die Frage, inwieweit scherzhafte Streitereien zwischen ArbeitskollegInnen am Arbeitsplatz, die zu einer Verletzung führen, vom Schutzbereich der UV umfasst sein können. Nach OGH sind „kollegiale Auseinandersetzungen“ bloß auf deren freundschaftliches Verhältnis zurückzuführen und stehen daher nicht unter Unfallversicherungsschutz.
Der OGH erwähnt den Sachverhalt in der Urteilsbegründung nur bruchstückweise an einigen Stellen. Mehr Klarheit bringen die Ausführungen des OLG (Berufungsurteil OLG Linz
Der Unfall muss sich gem § 175 Abs 1 ASVG in einem örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit ereignet haben. Der letzte Aspekt betrifft die Kausalitätsprüfung mittels der „Äquivalenztheorie“, aber auch die Wertung, ob die Ursache des Unfalls aus dem Schutzbereich der gesetzlichen UV stammt. Es sind daher drei Aspekte relevant: der Anlass der Verletzung und deren zeitlicher und räumlicher Rahmen.
Aus dem Sachverhalt ist klar ersichtlich, dass der Unfall sich an der Betriebsstätte und während der Arbeitszeit ereignete. Der örtliche und zeitliche Rahmen der Verletzung würde eine Zurechnung zum geschützten Lebensbereich daher erlauben. Das allein reicht hingegen noch nicht aus, um einen Unfall als Arbeitsunfall zu qualifizieren. Die drei Aspekte müssen zwar nicht kumulativ vorliegen (Tomandl in
Nach OGH liegt im vorliegenden Fall kein Arbeitsunfall vor, weil die Verletzung auf eine übliche Alberei zwischen zwei befreundeten Arbeitskollegen zurückzuführen war und kein Zusammenhang mit dem betrieblichen Umfeld bestand (vgl auch T8 zu RS0084198). Der OGH legt einen strengen Maßstab an das Verhalten der Arbeitskollegen an und beruft sich auf die stRsp, wonach kein Arbeitsunfall vorliegt, wenn der Streit auf Gründe aus der Privatsphäre zurückzuführen ist (vgl ua RS0084198). Konsequenterweise müsste man daraus ableiten, dass Verletzungen, die aus Albereien zwischen befreundeten ArbeitskollegInnen, Lehrlingen, SchülerInnen und Studierenden entstehen, nie vom Unfallversicherungsschutz mitumfasst sind. Fraglich ist, ob die vorliegende E wirklich der bisherigen Rsp des OGH entspricht.
In der ältesten Rechtssache zu diesem Rechtssatz hatte der OGH folgenden Sachverhalt zu entscheiden: Ein AN war gerade mit seinem Pkw auf dem Weg zur Arbeit, als sich ein Wortwechsel und anschließend Handgreiflichkeiten zwischen ihm und einem Moped-Fahrer ergaben. Das Verhalten des Pkw- Fahrers, den Moped-Fahrer zunächst zu belehren, dann zu beschimpfen und schlussendlich zu bespucken, beurteilte der OGH als solch provozierendes Verhalten, dass es die „Risikosphäre des allgemeinen Straßenverkehrs“ in den Hintergrund gedrängt hatte. Die Verletzung des Pkw-Fahrers war demnach nicht auf „typische Gefahren, die mit der Teilnahme am Straßenverkehr verbunden sind“ zurückzuführen. Ein Arbeitsunfall lag daher nach Ansicht des OGH nicht (mehr) vor (OGH
In Anbetracht der erwähnten Rsp und Lehre hätte der OGH mE vielmehr darauf abstellen müssen, ob sich die Verletzung aus typischen Verhaltensweisen im Arbeitsleben ergeben hat. Was das übliche (sozialadäquate) Verhalten ist, ist eine Wertungsfrage. Hantiert zB ein Beschäftigter in einer Bäckerei in der Mittagspause mit einem Revolver und wird dadurch ein Arbeitskollege verletzt, so liegt kein für das Bäckereigewerbe übliches (Fehl-)Verhalten vor (vgl OLG Wien15 R 59/69SVSlg 18.078). Hantiert allerdings ein Präsenzdiener mit seinem Sturmgewehr und verletzt damit einen Kameraden, so kann durchaus von einer Gefahr ausgegangen werden, die sich aus einem für die Tätigkeit üblichen Fehlverhalten ergibt. Das übliche114 Alltagsverhalten von Versicherten kann je nach Branche variieren und beinhaltet daher auch unterschiedlich übliche Fehlverhaltensweisen: Auf der Baustelle wird ein anderes Alltagsverhalten üblich sein als in einer Steuerberatungskanzlei. Von den Gefahren, die das Zusammenarbeiten von mehreren ArbeitskollegInnen mit sich bringen kann, sind Spielereien zwischen ArbeitskollegInnen zu unterscheiden, bei denen der Spieltrieb im Vordergrund steht. Das Privatinteresse der Versicherten gewinnt in diesen Fällen Oberhand und das Verhalten ist mit der versicherten Tätigkeit nicht mehr ohne weiteres vereinbar und damit nicht mehr vom Unfallversicherungsschutz erfasst. Zerbrechen Arbeiter mutwillig Bierflaschen in der Mittagspause und spielen damit oder beginnen Arbeitskollegen – wenn auch scherzhaft – miteinander zu raufen, so dominiert der Spieltrieb das Verhalten und drängt den örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Beschäftigung in den Hintergrund. Dasselbe gilt, wenn Lehrlinge sich mit Nägeln bewerfen (vgl auch Selb, Entscheidungsbesprechung, ZAS 1974, 59 [62]).
Der OGH hätte daher mE auch im vorliegenden Fall nach dem für die Branche üblichen (sozialadäquaten) (Fehl-)Verhalten zwischen ArbeitskollegInnen differenzieren müssen. Legt man in Anbetracht der Entscheidungen des OGH zu schulischen Ausbildungsverhältnissen und dem Straßenverkehr einen ähnlich großzügigen Maßstab an das Verhalten bei Aufräum- und Lagerarbeiten an, so wäre es durchaus auch vertretbar, Bezeichnungen wie „Pfosten“, leichte Hiebe auf den Kopf und scherzhafte Fußtritte ins Gesäß als übliches (Fehl-)Verhalten zu qualifizieren. Ebenso setzte der Kl kein überaus provokantes und sorgloses Verhalten, das mit der versicherten Tätigkeit nicht mehr ohne weiteres vereinbar wäre, vor allem auch, da die Neckerei mit einem Arbeitsauftrag des Arbeitskollegen an den Kl begonnen hatte. In der Verletzung verwirklichte sich daher mE im Ergebnis eine für diese Branche typische Gefahr, die sich auch daraus ergibt, dass Personen am Arbeitsplatz miteinander auskommen müssen. Die Verletzung durch die kollegiale Auseinandersetzung war daher mE vom Unfallversicherungsschutz erfasst.
Das Unfallversicherungsrecht ist geprägt von Einzelfallentscheidungen, kaum ein Sachverhalt gleicht dem anderen. Der OGH entscheidet nur, wenn sich eine erhebliche Rechtsfrage stellt. Die Wahrung der Einzelfallgerechtigkeit obliegt daher der zweiten Instanz. Es ist richtig, dass grundsätzlich die Gesamtumstände des Einzelfalls darüber entscheiden, ob das unfallbringende Verhalten der UV oder der Privatsphäre zuzurechnen ist und daher dieser Wertungsfrage in den meisten Fällen keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommen wird. Dennoch wäre eine systematische Auseinandersetzung mit den vom Unfallversicherungsschutz erfassten „üblichen (Fehl-) Verhaltensweisen“ von Erwachsenen in bestimmten Branchen wünschenswert gewesen.
In Rsp und Lehre kann die Zurechnung von Unfällen zum Schutzbereich der UV, insb auch bei Mehrfachverursachung, durch zwei dafür entwickelte Theorien gelöst werden. Entweder wird geprüft, ob eine innere, sinnhafte Verknüpfung zwischen Verletzung und versicherter Tätigkeit besteht (innerer Sinnzusammenhang), oder ob die aus der Risikosphäre der UV stammende und in einem Sinnzusammenhang mit der versicherten Beschäftigung stehende Ursache (neben anderen) für die Verletzung wesentlich war (Theorie der wesentlichen Bedingung).
Der OGH betont nun in der vorliegenden E, dass das Berufungsgericht aus der stRsp zum „inneren Zusammenhang“ das gleiche Ergebnis ableitet, das auch die Prüfung mittels der Theorie der wesentlichen Bedingung ergeben hätte. Seiner Ansicht nach wäre es auch vertretbar, den Unfallversicherungsschutz zu verwehren, weil der Kl sich in so hohem Maß gefahrenerhöhend verhalten habe und deshalb die versicherte Tätigkeit nicht mehr „wesentliche Bedingung“ für den Unfall gewesen sei. Da das Berufungsgericht zum gleichen Ergebnis kommt, war die Beurteilung „nicht zu beanstanden“.
Fraglich ist, was sich aus dieser Aussage im Allgemeinen ableiten lässt. Bedeutet es, dass der OGH jedenfalls nach der „Theorie der wesentlichen Bedingung“ prüft und eine Beurteilung nach dem „inneren Zusammenhang“ nur zulässt, wenn das Gericht zum „gleichen Ergebnis“ kommt? Konsequenterweise muss die Frage gestellt werden, ob es überhaupt möglich ist, bei gleicher Wertung zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sowohl die „Theorie der wesentlichen Bedingung“ als auch die Prüfung nach dem „inneren Zusammenhang“ eine gedankliche Hilfe ist, die eine Wertentscheidung erleichtern soll. Die Wertentscheidung, die getroffen werden muss, betrifft bei beiden Theorien das gleiche Zurechnungsproblem zum Unfallversicherungsschutz. Das muss daher auch bedeuten, dass es sich um die gleiche Wertungsfrage handelt, die bei gleicher Wertung nur zu dem gleichen Ergebnis führen kann. Ein unterschiedliches Ergebnis kann daher nur durch unterschiedliche Wertung entstehen und nicht durch Anwendung einer anderen gedanklichen Wertungshilfe. Im Allgemeinen lässt sich daher aus dieser Aussage nicht viel mehr ableiten, als bisher schon bekannt ist: Bei „unrichtiger rechtlicher Beurteilung“ der Wertungsfrage durch das Berufungsgericht ist die E vom OGH zu beanstanden (§ 503 Z 4 ZPO).
Vor dem Hintergrund älterer Entscheidungen des OGH und der Lehre erfasst die UV das übliche (sozialadäquate) (Fehl-)Verhalten von Menschen im Arbeitsleben. Davon zu unterscheiden sind Spielereien zwischen ArbeitskollegInnen, die vom Spieltrieb dominiert werden und daher nicht mehr mit der versicherten Tätigkeit vereinbar sind. Der OGH hätte auch im vorliegenden Fall danach differenzieren müssen, wobei mE ein ähnlich großzügiger Maßstab wie in den älteren Entscheidungen zu schulischen Ausbildungsverhältnissen oder dem Straßenverkehr anzulegen gewesen wäre. Dann wäre der Fall allerdings anders zu entscheiden gewesen.115