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Geminderte Arbeitsfähigkeit setzt Eintritt ins Erwerbsleben voraus

WALTER JPFEIL (SALZBURG)
§§ 236 Abs 4 Z 3, 255 Abs 1, 3 bzw 7, 273 ASVG
  1. Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit führen.

  2. Dafür maßgebender Zeitpunkt ist die erstmalige Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung.

  3. Für diesen Vergleichszeitpunkt ist nicht allein auf die Begründung einer Pflichtversicherung (etwa auf Grund des Lehrlingsstatus im Rahmen einer Schulungsmaßnahme) abzustellen, sondern – kombiniert – auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts und den Eintritt in die Pflichtversicherung.

Der am 20.10.1983 geborene Kl besuchte die Volks- und Hauptschule sowie das Polytechnikum. In der Zeit vom 8.1. bis 23.9.2001 nahm er an einer überbetrieblichen Maßnahme der Lehrausbildung teil, die in den ersten drei Monaten eine Orientierungsphase inklusive Bewerbungs- und Kompetenztraining im Rahmen einer 30-Stunden-Woche beinhaltete. Anschließend absolvierte er eine Grundausbildung im Umfang einer 40-Stunden-Woche mit Aussicht auf eine Lehrstelle als Maler/Anstreicher, die er am 23.9.2001 abbrach. Da er während dieser Maßnahme Lehrlingsstatus hatte, erwarb der Kl insgesamt neun Monate an Pflichtversicherungszeiten.

Seit seinem 18. Lebensjahr konsumierte er (auch intravenös) Drogen. Aufgrund der Beschaffungskriminalität wegen des Drogenkonsums war der Kl vom 16.7.2007 bis 8.5.2009 in Haft, wobei er vom 26.3.2008 bis 8.5.2009 seiner Arbeitspflicht nachging.

Als Folge des intravenösen Drogen-Konsums besteht beim Kl, der sich seit dem Jahr 2003 im Substitutionsprogramm befindet, eine Hepatitis-C-Infektion. Seit 2003 leidet er an epileptischen Anfällen und inzwischen auch an einer multiplen Persönlichkeits122störung in Exacerbation, Polytoxikomanie (im Substitolprogramm) mit zusätzlich bestehendem massiven Kokainabusus. Einem normalen Arbeitstempo ist er nicht gewachsen. Der Zustand des Kl hat sich seit April 2010 zunehmend verschlechtert. Es handelt sich um einen Dauerzustand. Eine Arbeitsfähigkeit kann nicht mehr erreicht werden.

Mit Bescheid vom 25.6.2007 lehnte die Bekl den Antrag auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ab, mit weiterem Bescheid vom 18.11.2009 wies die Bekl den Antrag des Kl vom 4.11.2009 wegen entschiedener Rechtssache zurück. Das gegen diesen Bescheid erhobene, auf Pensionsgewährung in der gesetzlichen Höhe „ab dem Stichtag“ gerichtete Klagebegehren begründete der Kl im Wesentlichen damit, dass er während seiner „Lehrzeit“ und während der Haft (noch) arbeitsfähig gewesen sei. Während der ersten acht Monate seiner Lehre sei er als „vollständiger AN“ eingesetzt worden. Erst in den letzten zwei bis vier Wochen der Lehre sei es zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands gekommen, weshalb er die Lehre habe abbrechen müssen. Aufgrund der bestehenden Beschwerden sei er nicht mehr in der Lage, einer geregelten Tätigkeit nachzugehen.

Die Bekl beantragte Klagsabweisung und wendete im Wesentlichen ein, dass der Kl auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufgrund seines Zustands (nach Drogensucht seit dem 14. Lebensjahr samt den festgestellten Folgen) gar nie arbeitsfähig gewesen sei. Er habe nur neun Beitragsmonate der Pflichtversicherung erworben und sei bereits vor erstmaliger Aufnahme einer Beschäftigung außer Stande gewesen, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen.

Der Versicherungsfall der Invalidität habe daher niemals nicht eintreten können.

Das Erstgericht erkannte das Klagebegehren ab 1.5.2007 als dem Grunde nach zu Recht bestehend und trug der Bekl eine vorläufige monatliche Zahlung von 50 € ab diesem Zeitpunkt auf. Es stellte noch fest, der Kl sei zwar wegen seiner „drogenbedingten Beeinträchtigung“ der Lehre als Maler/Anstreicher körperlich nicht gewachsen gewesen, hätte (jedoch) intellektuell eine Bürolehrausbildung absolvieren können und diese Tätigkeit auch körperlich geschafft, weil (ihm) einfache körperliche Tätigkeiten zumutbar gewesen seien, dies auch über einen 8-Stunden-Tag. Rechtlich beurteilte es die getroffenen Feststellungen dahin, dass der Kl beim Eintritt in das Erwerbsleben arbeitsfähig gewesen sei. Da er bei der Maßnahme „Lehrlingsstatus“ gehabt habe und auch pflichtversichert gewesen sei, sei das Erfordernis des Eintritts in das Erwerbsleben erfüllt. Seine Leistungsfähigkeit sei damals mindestens über der Hälfte derjenigen einer gesunden Vergleichsperson gelegen. Erst über die Jahre und aufgrund des fortbestehenden Drogenkonsums habe sich sein Zustand so weit verschlechtert, dass nunmehr eine regelmäßige Arbeitsleistung nicht mehr zumutbar sei.

Das Berufungsgericht wies in Stattgebung der Berufung der Bekl das Klagebegehren ab. Es schloss sich im Wesentlichen dem in der E 10 ObS 144/10i vertretenen Standpunkt an, wonach es für die Beurteilung des maßgeblichen Vergleichszeitpunkts am Beginn der Erwerbskarriere nicht allein auf die Begründung einer Pflichtversicherung (wie bei Schulungsmaßnahmen nach dem AMFG) ankomme, sondern beide Elemente, nämlich die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und der Eintritt in die Pflichtversicherung, kombiniert werden müssten. Dass ein bloßer Erwerb von Beitragszeiten (noch) keine Arbeitstätigkeit begründe, sei evident. Umso weniger sei Arbeitsfähigkeit anzunehmen, wenn Beitragsmonate nur deshalb erworben würden, weil ein Versicherter eine Umschulung nach dem AMFG absolviere. Der Kl habe anlässlich der einzig erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung zunächst nur eine Orientierungsphase absolviert und sei auch danach in einer Schulungsphase für eine Tätigkeit verblieben, der er körperlich gar nicht gewachsen gewesen sei. Auch wenn er während dieser Maßnahme Lehrlingsstatus gehabt habe und pflichtversichert gewesen sei, war er damit nach Auffassung des Berufungsgerichts noch gar nicht in das Erwerbsleben eingetreten.

Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil gesicherte Rsp zur Frage fehle, ob unter einem „Eintritt in das Erwerbsleben“ auch Schulungsmaßnahmen, die einen „Lehrlingsstatus“ gewähren, zu verstehen seien.

In seiner wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Revision beruft sich der Kl darauf, dass die beiden in der E 10 ObS 144/10i genannten Elemente (Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und Eintritt in die Pflichtversicherung) gegeben seien, sodass auch der maßgebliche Vergleichszeitpunkt für die Beurteilung vorliege, ob sich die Arbeitsfähigkeit des Kl verschlechtert habe. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Berufsunfähigkeitspension gem § 273 ASVG lägen daher vor. Die Bekl hält dem entgegen, dass wie im Sachverhalt in der E 10 ObS 44/10i keine Tätigkeit unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts ausgeführt worden sei. Aus dem Umstand, dass der Kl während der Maßnahme Lehrlingsstatus gehabt habe und auch pflichtversichert gewesen sei, könne nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass damit bereits ein Eintreten in das Erwerbsleben erfolgt wäre.

Der OGH bejahte die Zulässigkeit der Revision, hielt sie aber für nicht berechtigt und führte dazu aus:

1. Nach § 236 Abs 4 Z 3 ASVG ist die Wartezeit für eine Leistung aus einem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit auch dann erfüllt, wenn der Versicherungsfall vor der Vollendung des 27. Lebensjahres des Versicherten eingetreten ist und bis zu diesem Zeitpunkt mindestens sechs Versicherungsmonate, die nicht auf einer Selbstversicherung gem § 16a ASVG beruhen, erworben sind.

1.1. Diese – zunächst nur für Versicherte unter 21 Jahren geltende – Bestimmung wurde durch die 9. ASVG-Novelle (vgl § 235 Abs 3 lit b ASVG idF BGBl 1962/13) geschaffen und sollte dieser Personengruppe, die die sonst vorgeschriebene Wartezeit vielfach schon altersmäßig nicht erreichen kann, einen besonderen Schutz gewähren. Durch die 41. ASVG-Novelle (BGBl 1986/111) wurde die Altersgrenze von 21 Jahren, um den Versicherungsschutz eines Behinderten im Zusammenhang mit seinen Bestrebungen nach beruflicher Eingliederung zu verbessern, auf das 27. Lebensjahr angehoben (vgl 10 ObS 26/90, SSV-NF 4/60).123

1.2. Die 50. ASVG-Novelle (BGBl 1991/676) legte fest, dass für die Erfüllung der Wartezeit (§§ 235 Abs 2 und 3 lit b, 236 Abs 4 ASVG) Zeiten einer Selbstversicherung nach § 16a ASVG nicht herangezogen werden sollen, da ihr Hauptzweck darin liegt, die Voraussetzungen für eine Weiterversicherung in der PV zu schaffen. Mit der 55. ASVG-Novelle (BGBl 1998/138) wurde die Begünstigung hinsichtlich der Wartezeit für in jungen Jahren invalid bzw berufsunfähig gewordene Personen in § 236 Abs 4 Z 3 ASVG in Form einer sogenannten „ewigen Anwartschaft“ geregelt. Danach ist die Wartezeit jedenfalls auch dann erfüllt (und bleibt der Pensionsanspruch gewahrt), wenn der Versicherungsfall vor dem 27. Geburtstag eingetreten ist und der Versicherte bis zur Erreichung dieses Alters die besagten sechs Versicherungsmonate aufweist, gleichgültig, wann der Pensionsantrag gestellt wird (10 ObS 33/12v; vgl RV 1234 BlgNR 20. GP 36).

1.3. Dies ist hier – unstrittig – erfüllt, weil der bereits vor seinem 27. Geburtstag nicht arbeitsfähige Kl bis dahin neun Pflichtversicherungsmonate erworben hat.

2. Darüber hinaus setzt der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit – sowohl nach § 255 ASVG wie auch nach § 273 ASVG – jedoch voraus, dass sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn seiner Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat. Es ist daher immer auch entscheidungswesentlich, ob der Kl ursprünglich arbeitsfähig war und seine Arbeitsfähigkeit durch eine nachträglich eingetretene Verschlechterung beeinträchtigt wurde („herabgesunken“ ist). Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis mitgebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit führen (10 ObS 33/12v; 10 ObS 170/10p je mwN; RIS-Justiz RS0085107; vgl auch § 255 Abs 7 ASVG).

2.1. Maßgebend für den Zeitpunkt des Eintritts in das Berufsleben (Erwerbsleben) ist die „erstmalige Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung“ (§ 255 Abs 7 ASVG; RIS-Justiz RS0085107 [T13]).

3. In dem zu 10 ObS 33/12v entschiedenen Fall war für den Eintritt in das Versicherungsverhältnis auf den Beginn des Zivildienstes des dortigen Kl abzustellen (RIS-Justiz RS0084829 [T26]). Es blieb jedoch im weiteren Verfahren zu prüfen, ob angesichts des noch festzustellenden Gesundheitszustands des dortigen Kl der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit iSd Invalidität oder der Berufsunfähigkeit schon für einen Zeitpunkt wenige Monate nach Zurücklegung der gesetzlichen Mindestzahl von sechs Versicherungsmonaten von Anfang an medizinisch vorhersehbar war; dann müsste nämlich davon ausgegangen werden, dass der Kl von Anfang an als nicht arbeitsfähig angesehen werden konnte und die Arbeitsfähigkeit des Kl auch nicht „herabsank“, als die von Anfang an voraussehbaren und latent vorhandenen Beschwerden zunahmen. Bestand schon bei Antritt des Zivildienstes durch den dortigen Kl die Gewissheit, dass schon nach kurzer Zeit Arbeitsunfähigkeit iSd Invalidität oder der Berufsunfähigkeit eintreten wird, so entsteht kein Anspruch auf Invaliditätspension oder Berufsunfähigkeitspension, wenn dieser Zustand in der Folge tatsächlich eintritt (10 ObS 26/90, SSV-NF 4/60). Die objektive Beweislast dafür, dass die Arbeitsfähigkeit herabgesunken ist, trifft den Versicherten (10 ObS 168/02g, SSV-NF 16/66; 10 ObS 33/12v).

3.1. An diesen Grundsätzen hat der erkennende Senat auch jüngst (10 ObS 105/12g) festgehalten und dazu auf E 10 ObS 144/10i, SSV-NF 24/82 verwiesen, in der – im Zusammenhang mit dem maßgebenden Beginn der Erwerbskarriere – bereits zum Besuch von Schulungskursen Stellung genommen wurde.

3.2. Nach stRsp ist demnach für die Beurteilung des Vergleichszeitpunkts am Beginn der Erwerbskarriere (wie die Revision zutreffend festhält) nicht allein auf die Begründung einer Pflichtversicherung (etwa bei „Schulungsmaßnahmen“ nach dem AMFG) abzustellen, sondern auf beide Elemente – Aufnahme der Erwerbstätigkeit und Eintritt in die Pflichtversicherung – kombiniert (RIS-Justiz RS0084829 [T25]). Mangels exakter Feststellungen darüber, welche Tätigkeiten der dortige Kl im Rahmen der festgestellten Schulungsmaßnahmen verrichtet hatte, wurde zu 10 ObS 144/10i, SSV-NF 24/82 davon ausgegangen, dass es sich um „diverse Kurse handelte, mit denen die Arbeitssuche des Kl gefördert werden sollte“.

3.3. Auf dieser Grundlage wurden die (dortigen) 14 Beitragsmonate der Pflichtversicherung, die der Kl als Umschüler im Rahmen des AMFG erworben hatte, nicht bereits als ein die Pflichtversicherung begründender Eintritt in das Erwerbsleben beurteilt (10 ObS 105/12g mit Hinweis auf 10 ObS 144/10i, SSV-NF 24/82).

4. Davon ausgehend kann die hier festgestellte dreimonatige „Orientierungsphase“ des Kl, in der er ab 8.1.2001 eine „Berufsschulvorbereitung“ iS eines Bewerbungs- und Kompetenztrainings absolvierte – schon angesichts des allgemeinen Schulungs- Charakters (im Rahmen des nationalen Aktionsplans für Beschäftigung) – ebenfalls nicht als solcher Eintritt beurteilt werden. Frühestens könnte er daher erst nach dieser Phase, mit dem Beginn einer Grundausbildung im Umfang einer 40-Stunden-Woche in das Erwerbsleben eingetreten sein.

4.1. Auch diese „Grundausbildung“ diente jedoch ganz offenbar bloß der Vorbereitung für eine Aufnahme des Kl in den Lehrberuf „Maler/Anstreicher“. Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes war damit ganz offensichtlich nicht verbunden, zumal der Kl nach der weiteren Feststellung des Erstgerichts der Lehre als „Maler/Anstreicher“ wegen seiner „drogenbedingten Beeinträchtigung“ körperlich gar nicht gewachsen war. Zum Abschluss eines Lehrvertrags mit dem Kl und der tatsächlichen Aufnahme einer Tätigkeit des Kl im Rahmen eines Lehrverhältnisses ist es – unbestritten – auch in der Folge nicht gekommen.

4.2. Dem Standpunkt des Erstgerichts, der Kl sei in das Erwerbsleben eingetreten und (theoretisch) „arbeitsfähig“ gewesen, weil er „intellektuell“ eine Bürolehrausbildung hätte absolvieren können und diese Tätigkeit auch körperlich geschafft hätte, hat sich daher schon das Berufungsgericht – zu Recht – nicht angeschlossen:

4.3. Nach der auch auf den vorliegenden Fall anwendbaren Rsp wäre für diese Beurteilung nämlich124 die Feststellung erforderlich gewesen, dass der Kl auch tatsächlich eine die Pflichtversicherung in der PV nach dem ASVG begründende Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts (10 ObS 114/01i, SSV-NF 15/62 = RIS-Justiz RS0084829 [T15]) aufgenommen hätte, sodass ein maßgeblicher Vergleichszeitpunkt für die Veränderung der Arbeitsfähigkeit heranzuziehen und gegebenenfalls für diesen Zeitpunkt das Maß der Arbeitsfähigkeit des Kl festzustellen gewesen wäre, wobei dieser auch nachzuweisen gehabt hätte, dass zum Zeitpunkt seines Eintritts in das Erwerbsleben seine Arbeitsfähigkeit zumindest die Hälfte der eines gesunden Versicherten erreicht hätte (10 ObS 144/10i, SSV-NF 24/82 mwN).

4.4. Eine solche Tatsachengrundlage kann dem dazu festgestellten – unstrittigen – Sachverhalt aber jedenfalls nicht entnommen werden: Weder die bloße Meldung zur Pflichtversicherung im Rahmen der Schulungsmaßnahme noch der Umstand, dass der Kl „Lehrlingsstatus“ hatte, haben zur Folge, dass das erforderliche Element der tatsächlichen Ausübung einer Erwerbstätigkeit erfüllt wäre. Im Ergebnis ist somit der Rechtsansicht der Bekl beizupflichten, dass der vorliegende Fall einen der E 10 ObS 144/10i durchaus vergleichbaren Sachverhalt betrifft.

5. Der Revision des Kl muss daher ein Erfolg versagt bleiben. [...]

Anmerkung
1.
Problemstellung

Die vorliegende E zu einem strittigen Pensionsanspruch berührt im Wesentlichen zwei Problemkreise. Zum einen, wie mit einer bereits bei Beginn einer Erwerbstätigkeit bestehenden Einschränkung der Arbeitsfähigkeit umzugehen ist. Zum anderen, wie der maßgebende Zeitpunkt für die Bewertung dieser Arbeitsfähigkeit zu bestimmen und welcher Maßstab dabei anzulegen ist. Zu beiden Fragen liegt bereits relativ gefestigte Judikatur vor, die zudem in der Literatur bisher kaum auf Kritik gestoßen ist. Dennoch ist die Situation vielleicht doch nicht so klar, wie der OGH offenbar annimmt. Auch wenn seiner Entscheidung im Ergebnis wohl zugestimmt werden kann, muss die Begründung kritisch gesehen werden. Das gilt sowohl für den grundsätzlichen Ansatz, Versicherte mit „originärer Invalidität“ jenseits von § 255 Abs 7 ASVG vom Anspruch auf eine Invaliditäts- oder Berufungsunfähigkeitspension auszuschließen (Leitsatz 1, dazu 2.), als auch die strenge Beurteilung der Voraussetzungen, die für das Vorliegen dieser Einschränkung maßgebend sein sollen (3.). Die mit Jahresbeginn wirksam gewordene Neugestaltung der Pensionen bei geminderter Arbeitsfähigkeit legt schließlich die Frage nahe, ob der vorliegende Sachverhalt nach der nunmehrigen Rechtslage anders entschieden werden könnte oder vielleicht gar müsste (4.)

2.
Grundsätzlich keine Pension bei geminderter Arbeitsfähigkeit bei „originärer Invalidität“

Der OGH hat bereits früh vor allem aus dem Wortlaut von §§ 255 Abs 1 bzw 273 Abs 1 ASVG abgeleitet, dass der Anspruch auf eine entsprechende Pension eine wesentliche Verschlechterung der Arbeitsfähigkeit voraussetzt, letztere also früher bestanden haben muss (grundlegend OGH10 ObS 44/87 SSV-NF 1/33, inzwischen RS0085107). Dieser Ausschluss von Versicherten mit „originärer Invalidität“ hat den Gesetzgeber in BGBl I 2003/145 zur Schaffung der besonderen Zugangsmöglichkeit zur Invaliditätspension nach § 255 Abs 7 ASVG (bzw bei den anderen Formen geminderter Arbeitsfähigkeit § 273 Abs 3 ASVG, § 133 Abs 6 GSVG bzw § 124 Abs 4 BSVG) veranlasst. Bei Versicherten, deren Arbeitsfähigkeit von vornherein unter jener Schwelle liegt, die sonst für die Anerkennung einer geminderten Arbeitsfähigkeit maßgeblich ist (vgl zuletzt Födermayr in

Mosler/Müller/Pfeil
[Hrsg], Der SV-Komm [80. Lfg 2013] § 255 ASVG Rz 224 ff), besteht demnach ein Pensionsanspruch unabhängig von einer weiteren Verschlechterung (vgl nur OGH10 ObS 114/05wSSV-NF 19/74 = ZAS 2007/4 [Heckenast]), wenn 120 Beitragsmonate zur Pflichtversicherung vorliegen.

Es erscheint zunächst nicht unsachlich, ja sogar plausibel, das a-priori-Fehlen einer relevanten Arbeitsfähigkeit durch etwas strengere Anforderungen bei den Versicherungszeiten zu kompensieren. Das bewirkt jedoch zum einen Unstimmigkeiten in der Behandlung von Teilversicherungszeiten, die zur Vermeidung einer Ungleichbehandlung gegenüber den früheren Ersatzzeiten nicht als Beitragsmonate iSd § 255 Abs 7 ASVG anzurechnen seien (vgl noch einmal nur Födermayr in

Mosler/Müller/Pfeil
[Hrsg], Der SV-Komm § 255 ASVG Rz 235 mwN). Zum anderen entsteht ein krasses Missverhältnis, wenn man die (unverminderten) Beitragspflichten dieser Personen und ihren deutlich erschwerten Zugang zu Pensionsansprüchen in Rechnung stellt, und zwar umso mehr bei Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich hier durchwegs um Menschen mit Behinderungen handelt. Diese nicht zuletzt verfassungsrechtliche Problematik wurde von mir vor kurzem in dieser Zeitschrift aufgezeigt (Pfeil, Systemfragen der geminderten Arbeitsfähigkeit, DRdA 2013, 363 [368 f]). Födermayr (in
Mosler/Müller/Pfeil
[Hrsg], Der SV-Komm § 255 ASVG Rz 234) hat sich diesen Bedenken jüngst angeschlossen, sieht aber den Ausweg nicht in einer Reduzierung der Wartezeit, sondern in einer Senkung der Beitragspflicht. Das wird freilich ohne frühzeitige (uU bereits bei Aufnahme einer versicherungspflichtigen Tätigkeit erforderliche) Feststellung des Vorliegens „originärer Invalidität“ nicht möglich sein. Dafür kämen rechtspolitisch eine gesonderte Prüfung in Ergänzung der nun in §§ 255a bzw 273a ASVG vorgesehenen Feststellungsmöglichkeit (unter Rückgriff auf das Kompetenzzentrum Begutachtung!) bzw das Anknüpfen an eine bereits anderweitig festgestellte Behinderung (bestimmten Ausmaßes) in Betracht (siehe aber auch unten 4.).

Zum Ausgangssachverhalt zurückkehrend ist zu unterstreichen, dass die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung im Hinblick auf Pensionen bei geminderter Arbeitsfähigkeit nicht nur in einer grundsätzlich doppelt so langen Wartezeit (als nach § 236 Abs 1 Z 1 ASVG) und – jedenfalls nach der Rsp – der Nichtanerkennung aller nicht aus einer Erwerbstätigkeit resultierenden Versicherungszeiten besteht. Auch125 die Vergünstigung für Versicherte, die das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, kommt im Ergebnis nicht zur Anwendung. Statt sechs Monaten nach § 236 Abs 4 Z 3 ASVG müssen Menschen mit „originärer Invalidität“ das 20-fache dieses Zeitraums (noch dazu) an Beitragszeiten erfüllen (vgl noch einmal Pfeil, DRdA 2013, 369).

3.
Zeitpunkt und Maßstab für das Vorliegen der Beeinträchtigung

Genau auf diese Vergünstigung hat sich der Kl im vorliegenden Fall berufen. Der OGH hat deren Anwendbarkeit verneint, da der dafür erforderliche Versicherungsfall eben gar nicht eingetreten sei, weil es – ganz iS von Leitsatz 1 – zu der entscheidenden Minderung der Arbeitsfähigkeit nicht erst nach dem Eintritt in das Erwerbsleben gekommen ist. Diesem Ansatz ist – ungeachtet der (oben 2.) geäußerten Bedenken – grundsätzlich zuzustimmen, hat der Gesetzgeber diese Judikatur doch gerade durch die Schaffung von § 255 Abs 7 ASVG bestätigt.

Das Höchstgericht will aus dieser Bestimmung aber auch den Zeitpunkt gewinnen, an dem der Eintritt ins Erwerbsleben festzumachen ist, und sieht diesen in der „erstmaligen Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung“ (vgl Leitsatz 2, Hervorhebung im Original). Dass hier ein systematischer Zusammenhang besteht, ist nicht zu bestreiten. Bei genauerer Betrachtung entstehen aber Zweifel, ob aus diesem Tatbestandsmerkmal der teilweise doch ganz anders ansetzenden (siehe noch einmal oben 2.) Sonderregel des § 255 Abs 7 ASVG wirklich Rückschlüsse auf den Grundtatbestand geminderte Arbeitsfähigkeit gezogen werden können. Der OGH sieht hier keinen besonderen Begründungsbedarf (vgl neben der vorliegenden E vor allem OGH10 ObS 59/05gSSV-NF 19/49, bzw OGH10 ObS 64/09ySSV-NF 23/43 = DRdA 2010/32 [Enzlberger]).

Das weckt zunächst nur diffuses Unbehagen, das freilich stärker wird, wenn man die weiteren Anforderungen betrachtet, die hier gestellt werden (vgl Leitsatz 3), und vor allem, wie sie im vorliegenden Fall angewendet werden: Für die „erstmalige Aufnahme einer die Pflichtversicherung begründenden Beschäftigung“ komme es nämlich zum einen nicht bloß auf die Begründung einer Pflichtversicherung in der PV an, vielmehr muss auch die Aufnahme einer Beschäftigung (oder allgemeiner: einer Erwerbstätigkeit) vorliegen. Und zum anderen muss diese Beschäftigung „unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts“ (Hervorhebung wieder bereits im Original) erfolgen. Beide Kriterien sind grundsätzlich berechtigt, sie werden hier aber etwas aus dem ursprünglichen Kontext gerissen und in einer vergröbernden Weise verwendet, wenn nicht sogar überbeansprucht.

Was zunächst die geforderte Verknüpfung von Pflichtversicherung und Erwerbstätigkeit betrifft, ist in der Tat zu bedenken, dass der Gesetzgeber mehrfach zum Ausdruck gebracht hat, dass etwa Teilversicherungszeiten, die keinen Bezug zu einer versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit aufweisen, nicht nur keinen Berufsschutz begründen, sondern auch für sich allein keinen Pensionsanspruch auslösen können (vgl nur §§ 255 Abs 2 oder 236 Abs 4a ASVG). Es liegt daher nahe, bei der Prüfung des Vorliegens des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit nicht bloß auf das Bestehen einer Pflichtversicherung abzustellen, sondern auch auf die tatsächliche Ausübung einer entsprechenden Tätigkeit. Die beide Elemente verknüpfende Definition des „Stichtages“ in § 255 Abs 7 ASVG könnte somit eigentlich nur als Klarstellung verstanden werden.

Auf der anderen Seite reichen für die oben angeführte Begünstigung des § 236 Abs 4 Z 3 ASVG sogar Ersatzzeiten, zB auf Grund eines vor 2005 geleisteten Zivildienstes (vgl jüngst OGH10 ObS 33/12vSSV-NF 26/28). Da aber die Tätigkeit als Zivildiener kaum als Maßstab für die Beurteilung der Minderung der Arbeitsfähigkeit herangezogen werden kann, muss eine andere Anknüpfung gefunden werden, um festmachen zu können, ob überhaupt Arbeitsfähigkeit im relevanten Ausmaß bestanden hat. Den Zeitpunkt dafür legt der OGH mit der Aufnahme des Zivildienstes fest, worauf hier aber ebenso wenig eingegangen werden kann wie auf die in der vorliegenden E (unter 3. – und eigentlich ohne Not) wiedergegebenen „Verrenkungen“, mit denen der Ausschluss eines Anspruchs auf Berufsunfähigkeitspension nur auf Grund von Zivildienstzeiten gerechtfertigt wird.

Beim Kl im vorliegenden Fall hätte der maßgebende Zeitpunkt für die Prüfung, ob er überhaupt jemals ausreichend arbeitsfähig war, nicht konstruiert werden müssen. Da seine Tätigkeiten im Rahmen der Arbeitspflicht während der Strafhaft nicht zu berücksichtigen sind (letztere gilt nicht einmal als neutrale Zeit, vgl § 234 Abs 1 Z 9 ASVG), kann dafür nur sein Zustand zu Beginn der überbetrieblichen Lehrausbildung in Betracht kommen, wird doch auch bei einer herkömmlichen Berufsausbildung auf den Beginn der Lehrzeit abgestellt (vgl nur OGH10 ObS 279/97wSSV-NF 11/117). Der OGH hält dagegen frühestens den Zeitpunkt nach Abschluss der dreimonatigen Orientierungsphase für maßgebend (vgl Pkt 4. der E). In der Folge argumentiert er mit einer Mischung aus dem – in der Tat fragwürdigen – Gesundheitszustand des Kl und einer offenkundigen Skepsis gegenüber der Wertigkeit einer überbetrieblichen Lehrausbildung.

Dabei wird recht großzügig auf frühere Entscheidungen verwiesen, obwohl diese etwa nicht die Frage, ob überhaupt Arbeitsfähigkeit bestanden hat, sondern die Anerkennung einer Umschulung nach dem AMFG für einen allfälligen Berufsschutz nach § 255 Abs 1 ASVG betreffen (so OGH

2
10
2012
, 10 ObS 105/12g). Auch die Wendung, die Erwerbstätigkeit müsse unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erbracht werden, stand ursprünglich nur im Kontext, dass Arbeitsfähigkeit nicht bereits dann angenommen werden kann, wenn der AG besonders entgegenkommend ist (vgl OGH10 ObS 114/01iSSV-NF 15/62). Stattdessen hätte es hier einer genaueren Auseinandersetzung mit dem Charakter der Überbetrieblichen Lehrausbildung bedurft, die nicht nur einen „Lehrlingsstatus“ begründet, sondern auch sonst weitestgehend einer herkömmlichen Lehre zu entsprechen hat (vgl § 30 BAG).

Möglicherweise haben hier jene Vorbehalte durchgeschlagen, die in der arbeitsrechtlichen Judikatur des126 OGH zu „Transitarbeitskräften“ bestehen, denen – zu Unrecht (vgl jüngst Schrattbauer/Pfeil, Rechtsfragen der gemeinnützigen Arbeitskräfteüberlassung, DRdA 2014, 3 ff) – pauschal die Qualifikation als Arbeitsverhältnis abgesprochen wird. In jedem Fall entsteht ein eklatanter Widerspruch zu jenen Entscheidungen des sozialrechtlichen Senats, die bei einer acht-, ja sogar bei einer zweitägigen „Ferialpraxis“ einen (für die Annahme geminderter Arbeitsfähigkeit ausreichenden) Eintritt ins Erwerbsleben angenommen haben (vgl OGH10 ObS 90/97aSSV-NF 11/47 bzw OGH10 ObS 59/05gSSV-NF 19/49).

Auch wenn insgesamt Vieles dafür spricht, dass der Kl wirklich nie arbeitsfähig war, erweist sich die Begründung der E somit als wenig überzeugend. Die darin enthaltenen Elemente sollten daher nicht verallgemeinert oder als Referenz für weitere Entscheidungen verwendet werden, umso weniger, als der Eindruck nicht ganz ausgeräumt werden kann, dass die Drogensucht des Kl – gleichsam als selbstverschuldete Arbeitsunfähigkeit – für das Ergebnis nicht unwesentlich war.

4.
Andere Beurteilung nach der neuen Rechtslage?

Unter der Annahme, dass der Kl nie arbeitsfähig war (und auch die Voraussetzungen nach § 255 Abs 7 ASVG nicht erfüllt), hätte er auch nach dem neuen Regime für Pensionen bei geminderter Arbeitsfähigkeit, das für ihn als mittlerweile Dreißigjähriger anzuwenden ist (vgl § 669 Abs 1 Z 2 und Abs 5 ASVG), keinen Anspruch auf eine Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension. UU ergibt sich aber nun eine andere Möglichkeit, die (oben unter 2. problematisierte) Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu vermeiden:

So wie die Schaffung des § 255 Abs 7 ASVG die Rsp offenbar ein wenig dazu verleitet hat, außerhalb dieser Begünstigung die Anforderungen für Menschen, die bereits vor Aufnahme einer Beschäftigung beeinträchtigt waren, eher zu verschärfen, könnten die neuen Rahmenbedingungen vielleicht zu einem etwas großzügigeren Verständnis führen. Die Anerkennung geminderter Arbeitsfähigkeit bei Menschen mit Behinderung hätte nun nämlich nicht zwangsläufig einen dauerhaften Pensionsanspruch zur Folge. Vielmehr könnte durch Einsatz von beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen oder – gerade bei (vormals) Drogenabhängigen – durch medizinische Maßnahmen der Rehabilitation (§ 253f ASVG) eine dauerhafte Arbeitsfähigkeit (wieder)hergestellt werden. Auch ohne explizite gesetzliche Änderung könnte (und sollte) der Invaliditäts- bzw Berufsunfähigkeitsbegriff also überdacht werden.