Europäische Entwicklungen im Kündigungsschutz (Grundrechtecharta und Rechtsvergleich)*
Europäische Entwicklungen im Kündigungsschutz (Grundrechtecharta und Rechtsvergleich)*
Vorgaben auf europäischer Ebene
Europäische Sozialcharta
Unionsrecht
Regelungskompetenz und Regelungen
Verbindlichkeit von Art 30 GRC für die Mitgliedstaaten?
Zum Inhalt
Entwicklung des Kündigungsschutzes im Rechtsvergleich
Relative Konstanz der Regelungen und Unterschiede
Bedeutung des Anwendungsbereiches
Schutzziel, Klagefrist und Sanktionen
Ausrichtung und Inhalt des Kündigungsschutzes
Zur Einordnung von Änderungen
Ausblick
Der Schutz der AN bei und gegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist eine der wichtigsten Fragen des Individualarbeitsrechts. Ich werde auf zwei Aspekte dieser Frage eingehen, die üblicherweise weniger Aufmerksamkeit finden; die Vorgaben auf europäischer Ebene und rechtsvergleichende Überlegungen. Aus Gründen der Darstellung gehe ich zuerst auf die Regelungen auf europäischer Ebene ein.
Auf europäischer Ebene ist chronologisch zuerst Art 24 der Revidierten Europäischen Sozialcharta aus 1996 zu nennen,* sowie die dazugehörigen Ausführungen des Anhangs,* der gem Art N RESC einen183 Bestandteil der Charta bildet. Österreich hat die revidierte Fassung 2011 ratifiziert. Die Charta erlaubt den Signatarstaaten, einzelne Bestimmungen nicht zu unterschreiben. Art 24 wurde insgesamt von etwa 25 der über 40 Mitgliedstaaten des Europarates unterschrieben, nicht zB von Österreich und Deutschland. Von den 28 Mitgliedstaaten der EU haben fünfzehn Art 24 akzeptiert, dreizehn nicht: neun haben die Revidierte Fassung überhaupt nicht ratifiziert,* vier weitere haben Art 24 nicht akzeptiert.* Art 24 RESC verpflichtet die Signatarstaaten insb dazu das Recht der AN anzuerkennen, „nicht ohne einen triftigen Grund gekündigt zu werden, der mit ihrer Fähigkeit oder ihrem Verhalten zusammenhängt oder auf den Erfordernissen der Tätigkeit des Unternehmens, des Betriebs oder des Dienstes beruht.“ Der Anhang nennt einige Gründe, die nicht als triftig angesehen werden sollen, wie „vorübergehende Abwesenheit von der Arbeit aufgrund einer Krankheit oder eines Unfalls“. Als Sanktion bei Kündigung ohne triftigen Grund wird „eine angemessene Entschädigung oder ein anderer zweckmäßiger Ausgleich“ verlangt. Die Sozialcharta ist ein völkerrechtlicher Vertrag. Sie ist als solcher nur in manchen Signatarstaaten unmittelbar anwendbar, in den meisten nicht, darunter Österreich. Die Sozialcharta sieht kein gerichtsförmiges Verfahren zu ihrer Durchsetzung vor, sondern „nur“ ein Gremium von Experten, das sich zu nationalen Berichten äußert.*
Art 153 Abs 1 lit d) AEUV gibt der Union die Kompetenz, den „Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrages“ zu regeln.* Allerdings kann die Union auf dieser Grundlage nur Mindestvorschriften erlassen, die Mitgliedstaaten können stets strengere Vorschriften erlassen. Auch eine Korridorregelung, die etwa für Kündigungsfristen Mindest- und Höchstfristen vorgibt, kann daher auf Basis des Art 153 AEUV nicht erlassen werden. Eine wirkliche Vereinheitlichung wäre also auf dieser Basis nicht möglich. Überdies ist für einen Beschluss nach Art 153 AEUV zum Schutz bei Beendigung Einstimmigkeit im Rat erforderlich.*
Auch wegen dieses normativen Hintergrundes kann nicht erstaunen, dass die Union den Allgemeinen Kündigungsschutz bislang nicht geregelt hat. Wie wir sehen werden, weichen die Regelungen der Mitgliedstaaten stark voneinander ab, was auf tiefe Unterschiede in den Vorstellungen zum erforderlichen und ausreichenden Schutz schließen lässt. Einstimmigkeit ist dann kaum zu erwarten. Die Kommission wurde bisher auf diesem Gebiet nicht initiativ, man kann sagen, sie meide das Thema. Auch die Europäischen Sozialpartner haben keine gemeinsamen Vorstöße unternommen. In nächster Zeit sind keine Initiativen zu erwarten.
Das Unionsrecht enthält daher derzeit nur punktuelle Bestimmungen zur Beendigung. Einschlägig sind insb die Verbote der Kündigung wegen eines Betriebsüberganges (Art 4 RL 2001/23/EG), wegen Mutterschaft (Art 10 RL 92/85/EWG), wegen eines Elternurlaubes (§ 5 Z 4 RL 2010/18/EU), aus einem diskriminierenden Grund (zB RL 2006/54/EG und 2000/78/EG). Zu nennen sind ferner die RL zu Massenentlassungen (RL 98/59/EG), die aber nur das Verfahren betrifft und keinen inhaltlichen Schutz verlangt, sowie die RL zu befristeten Arbeitsverhältnissen, die Schutz gegen den Missbrauch von Kettenbefristungen verlangt (Art 5 RL 1999/70/EG). Schließlich verbieten Richtlinien eine Kündigung wegen der Weigerung in Teilzeit zu arbeiten (§ 5 Z 2 RL 97/81/EG) und wegen eines Verhaltens, das dem Arbeitsschutz dient (Art 8, 11 RL 89/391/EWG).
In einem Spannungsverhältnis zu diesen nur punktuellen Regelungen steht, dass die Grundrechtecharta (GRC) in Art 30 sehr wohl etwas zum Kündigungsschutz sagt. Diese Charta ist seit dem Lissabonner Vertrag Bestandteil des Unionsrechts. Sie steht im Rang den Verträgen gleich und ist daher Teil des Primärrechts. Art 30 GRC bestimmt: „Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung: Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung.“* Mit Entlassung ist hier jede Auflösung erfasst, die einseitig durch den AG erfolgt, also auch eine Kündigung.* Zu Art 30 GRC ist primär fraglich, für wen und inwieweit diese Bestimmung verbindlich ist.
Die Charta bindet jedenfalls Organe der Union. Fraglich könnte sein, ob daraus eine Pflicht der Unionsorgane folgt, den Kündigungsschutz tatsächlich zu regeln.* Dagegen könnte sprechen, dass Art 30 184GRC auf das sekundärrechtliche Unionsrecht verweist. Ferner stehen die Bestimmungen des AEUV zu den Mehrheitserfordernissen auf derselben Stufe wie die Charta. Das Erfordernis der Einstimmigkeit im Rat könnte bedeuten, dass die Verwirklichung des Art 30 GRC durch die Union unter dem Vorbehalt dieser politischen Einigung steht. Die Frage führt jedenfalls in Grundfragen des Verhältnisses von Unionsgesetzgeber und EuGH, die noch kaum diskutiert werden. Manche werden vielleicht, als Ausweg, erwägen wollen, die RL zur Massenentlassung durch Art 30 GRC inhaltlich „aufzuladen“ und sagen: Obwohl diese RL nur das Verfahren bei Kündigungen regelt, verlange sie bei grundrechtskonformer Interpretation nun eine inhaltliche Kontrolle der Kündigungen. Diese These überschreitet aber die Grenzen primärrechtskonformer Interpretation von Richtlinien, weil sie sich über Wortlaut und Zweck der sekundärrechtlichen Regelung hinwegsetzen würde.* Von der Beschränkung der Massenentlassungs-RL auf Verfahrensfragen ist auch das Urteil Rodríguez Mayor aus 2009 ausgegangen. Die Vorlage fragte zu dieser RL, ob die spanische Regelung der Abfindungen bei Massenkündigungen mit Art 30 GRC vereinbar sei. Nach dem EuGH fällt diese Frage nicht unter die Massenentlassungs- RL.*
Fraglich ist, inwieweit die Charta auch die Mitgliedstaaten bindet. Nach Art 51 Abs 1 GRC „gilt [sie] für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“.* Die Auslegung dieser Bestimmung ist nur im Kernbereich klar. Die Charta ist für die Mitgliedstaaten jedenfalls verbindlich, wenn sie Sekundärrecht anwenden. Art 30 GRC ist daher etwa beim Verbot der Kündigung aus Anlass eines Betriebsüberganges anzuwenden. Allerdings wird Art 30 GRC kaum etwas zu den speziellen Regelungen der Richtlinien zum Kündigungsschutz beitragen, was nicht schon aus den Richtlinien selbst folgen würde. Dies gilt wohl auch in Bezug auf die Befristungs-RL. Zu dieser könnte man allenfalls erwägen, ob Art 30 GRC die Bedeutung des unbefristeten Arbeitsverhältnisses als Schutzgut dieser RL nicht nur unterstreicht, sondern verstärkt.*
Über diesen Kernbereich, die Anwendung von Richtlinien, hinaus ist die Bindung der Mitgliedstaaten hingegen weniger klar. Der EuGH sagt, dass die Mitgliedstaaten „im Anwendungsbereich des Unionsrechts“ an die Charta gebunden sind, also „in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen“, und verweist damit auf seine frühere Judikatur zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts.* Manche halten dagegen, die Verfasser der Charta wollten den Anwendungsbereich mit Art 51 GRC enger ziehen. Bedeutung und Legitimität der genannten Wendung sind schon im Zusammenhang mit Richtlinien strittig. Dies zeigt das Urteil Åkerberg Fransson aus 2013. Danach ist das Verbot der Doppelbestrafung aus Art 50 GRC für die Mitgliedstaaten verbindlich, wenn es um eine Bestrafung wegen Hinterziehung von Mehrwertsteuer geht, wohl weil die Mehrwertsteuer durch Richtlinien geregelt ist.16) Das deutsche BVerfG hat wenige Monate später darauf Bezug genommen und gesagt, eine nicht enge Auslegung dieses Urteils könnte einen unverbindlichen ultra-vires-Akt des EuGH darstellen.* Das sind harte Worte; der Anwendungsbereich der Charta ist also noch nicht ausdiskutiert.
In unserem Zusammenhang interessiert primär, ob aus den erwähnten punktuellen Regelungen zum Kündigungsschutz gefolgert werden kann, dass das Sekundärrecht den Allgemeinen Kündigungsschutz bereits implizit mitregelt. Manche bejahen dies,* wohl unter Berufung auf folgende Überlegung: Die Massenentlassungs- RL erfasse die Beendigung zumindest in Bezug auf das Verfahren; die Befristungs-RL setze implizit voraus, dass AN gegen eine unbegründete Kündigung zu schützen seien, weil eine Einschränkung der Kettenbefristung nur sinnvoll sei, wenn der AG nicht nach Belieben kündigen kann; die anderen punktuellen Regelungen zum Kündigungsschutz bestärken, dass die Union den Kündigungsschutz allgemein regle, wenn auch teilweise nur implizit. Wenn man dieser These folgte, so wäre Art 30 GRC bereits heute Maßstab für den Kündigungsschutz in den Mitgliedstaaten. ME geht die These aber eindeutig zu weit. Das Sekundärrecht enthält erkennbar keine Regelung zu inhaltlichen Vorgaben für jede Kündigung185,* und man sollte diese Regelung nicht durch gewagte Thesen über eine „implizite Verdichtung“ des Inhaltes des Sekundärrechts herbeizaubern. Es sei aber nicht verschwiegen, dass der EuGH das Unionsrecht zuweilen in einer Weise versteht, die zu ähnlich gewagten Thesen führt, wenn es ihm opportun erscheint.* Manche werden zur Rechtfertigung einer derartigen Vorgangsweise darauf verweisen, dass die Verträge den EuGH nach verbreiteter Auffassung zur Rechtsfortbildung ermächtigten und in der EU das Konzept der Gewaltenteilung nicht gelte.* Erstaunlicherweise machen sich die Vertreter dieser Auffassung kaum je die Mühe zu sagen, wo für sie Auslegung endet und Rechtsfortbildung beginnt. Im Übrigen ist die These, dass der EuGH stets zur Rechtsfortbildung berufen sei, keineswegs so gesichert, wie ihre Vertreter meinen. Darauf kann und muss hier aber nicht eingegangen werden.
Der EuGH bejaht den Anwendungsbereich des Unionsrechts, außer bei Durchführung von Sekundärrecht, noch für zumindest eine weitere Fallgruppe, nämlich wenn die Mitgliedstaaten eine Grundfreiheit beeinträchtigen. Diese Fallgruppe ist allerdings keineswegs klar und zum Teil auch in der Lehre umstritten.* Man wird mit Recht sagen können, dass eine nationale Regelung vor der Grundfreiheit nicht gerechtfertigt werden kann, wenn sie selbst mit einem Grundrecht nicht vereinbar ist. Darum geht es hier aber nicht. Hier ginge es darum, ob schon aus der möglichen Beeinträchtigung einer Grundfreiheit durch den nationalen Kündigungsschutz folgt, dass Art 30 GRC für dessen Regelungen verbindlich ist. Nun kann man wohl sagen, dass ein starker Kündigungsschutz in Italien geeignet ist, dieses Land als Standort für AG weniger attraktiv zu machen, und daher die Niederlassungsfreiheit beeinträchtigt, wenn auch nicht notwendig verletzt. Ferner könnte ein schwacher Kündigungsschutz in Österreich es für AN aus Italien weniger attraktiv machen, nach Österreich zu wechseln, und daher die AN-Freizügigkeit beeinträchtigen. Beeinträchtigungen in dieser Intensität reichen nach der Judikatur des EuGH im Allgemeinen durchaus aus, den Tatbestand dieser Grundfreiheiten zu eröffnen und eine Rechtfertigung zu verlangen, auch wenn dies bislang für Regelungen zum Individualarbeitsrecht kaum je und zum Kündigungsschutz nie vor dem EuGH relevant geworden ist.* ME wäre es aber verfehlt, aus einem Eröffnen des Tatbestandes einer Grundfreiheit schon zu schließen, dass die Grundrechtecharta deshalb auf die beeinträchtigenden Vorschriften voll anwendbar ist. Das würde gerade bei der Niederlassungsfreiheit zu einem seltsamen Ergebnis führen. Die Niederlassungsfreiheit richtet sich (zumindest tendenziell) gegen einen zu hohen Kündigungsschutz. Gleichzeitig würde die Niederlassungsfreiheit dann aber zur Anwendung von Art 30 GRC und damit potentiell zu einer Verstärkung des Schutzes führen. Für eine Durchführung des Unionsrechts iSd Art 51 GRC ist mE erforderlich, dass eine andere Norm des Unionsrechts als die Charta in concreto anwendbar ist, und nicht nur abstrakt dieselbe Frage betrifft.* Auf dieser Linie lag auch das Urteil Rodríguez Mayor. Vorgelegt war, ob die gegebene Höhe der Abfindungen bei Kündigung mit Art 30 GRC vereinbar sei. Der EuGH sagte nur, diese Frage falle nicht unter die Massenentlassungs-RL, und schloss daraus kuRz und bündig, dass sie daher auch nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts falle, ohne auf die Grundfreiheiten einzugehen.* Ob der EuGH auf dieser Linie bleibt, ist aber offen.
Folgt man den Ausführungen zum Anwendungsbereich des Art 30 GRC, so ist diese Bestimmung also mE derzeit für die Mitgliedstaaten nur verbindlich, soweit sie den Kündigungsschutz im Rahmen einer RL regeln, also insb nicht für den Allgemeinen Kündigungsschutz. Manche werden meinen, dieses Ergebnis werde dem Charakter eines Grundrechtskataloges nicht gerecht, weil es Art 30 (und manche andere Bestimmungen der GRC) bis zum Erlass von einschlägigem Sekundärrecht leerlaufen lasse. So ein Ergebnis sei dogmatisch nicht zumutbar. Diese Einschätzung mag nach den Maßstäben des österreichischen Rechts manches für sich haben, wenngleich auch die österreichische Verfassung reichlich unverbindliche Staatszielbestimmungen kennt. Für das Unionrecht als unvollständige Rechtsordnung, das überdiese nach verbreiteter Auffassung einem „Projekt im Werden“ dient, sind aber jedenfalls derzeit die Grenzen dessen, was man als „widersprüchlich“ hinnehmen muss, wohl noch bedeutend weiter gezogen. Speziell zur GRC ist überdies zu bedenken, dass ihr Text vor dem Jahr 2000 unter der Prämisse erarbeitet und verhandelt wurde, es handle sich um eine unverbindliche Erklärung, die „nur“ grundlegende Wertvorstellungen zum Ausdruck bringe.
Würde man anderes entscheiden, so wäre im Übrigen nicht nur Art 30 GRC, sondern auch Art 16 GRC verbindlich, welcher die „unternehmerische Freiheit“ absichert. Der EuGH hat daraus im Urteil Alemo- Herron jüngst abgeleitet, dass beim Betriebsübergang eine Bindung des Erwerbers an den KollV des Übergebers186 in dessen jeweiliger Fassung unzulässig wäre.* Diese Auffassung hat in manchen anderen Ländern großes Befremden ausgelöst, in Österreich ist sie praktisch nicht relevant; ich erwähne das Urteil hier nur, um anzudeuten, dass auch die Anwendung der Charta keine Einbahnstraße ist.
Auch wenn Art 30 GRC mE derzeit für den Allgemeinen Kündigungsschutz nicht greift, gehe ich auf manche Fragen zum Inhalt des Art 30 GRC ein, schon weil manche anderer Auffassung sein werden. Ist dies ein Arbeitsgericht, so kann es den EuGH befassen.
Art 30 GRC erfasst, wie gesagt, jede Beendigung des Arbeitsvertrages durch den AG. In Bezug auf die Struktur der Grundrechte der Charta ist, wie insb aus Art 52 Abs 5 GRC hervorgeht, zwischen Rechten und Grundsätzen zu unterscheiden.* Rechte sind zu achten, an Grundsätze sollen sich Union und Mitgliedstaaten halten (Art 51 Abs 1 GRC). Grundsätze begründen keine direkten Ansprüche, sondern sollen durch Akte der Gesetzgebung umgesetzt werden, können von Gerichten aber nur bei der Auslegung dieser Akte herangezogen werden (Art 52 Abs 5 GRC). Die Vorgaben eines Grundsatzes sind daher weniger intensiv als jene eines Rechts. Die Charta selbst sagt jedoch nicht ausdrücklich, welche Bestimmungen ein Recht und welche einen Grundsatz enthalten. Auch die Erläuterungen geben eher nur Beispiele für Bestimmungen, die Grundsätze sind; Art 30 wird dazu nicht genannt. Die Einordnung als Recht oder Grundsatz ist allerdings für viele Folgefragen relevant.
Fraglich ist, welche Bedeutung (auch in diesem Zusammenhang) die auch in Art 30 GRC enthaltene Wendung hat, wonach das Recht auf Schutz vor ungerechtfertigter Kündigung „nach dem Unionsrecht und nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften“ gewährleistet ist. Man nennt diese Wendung meist „Refrain“. Die Lehre vertritt zur Bedeutung des Refrains ganz unterschiedliche Positionen, die von der Irrelevanz des Refrains bis zur durch ihn bewirkten Wirkungslosigkeit des Grundrechts reichen.* Der EuGH hat sich noch nicht eindeutig positioniert. Im Jänner 2013 deutet das Urteil Sky Österreich zum Recht auf Unternehmerische Freiheit (Art 16 GRC), das den Refrain auch aufweist, treffend an, dass daraus ein größerer Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers folge.* Im Jänner 2014 hat sich der EuGH erstmals mit einem sozialpolitischen Grundrecht mit Refrain näher befasst; das Urteil Association de médiation sociale betrifft Art 27 GRC zur Anhörung der AN. Das Urteil sagt: „Aus dem Wortlaut von Art 27 der Charta geht klar hervor, dass er, damit er seine volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss.“* Allerdings sagt das Urteil nicht, ob Art 27 GRC deshalb nur einen Grundsatz oder doch ein Recht normiert. Der Mangel an voller Wirksamkeit könnte seine Ursache nämlich nicht allein im Refrain haben, sondern schon darin, dass die Bestimmung sagt, „für die Arbeitnehmer ... muss auf den geeigneten Ebenen eine rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatliche Rechtsvorschriften vorgesehen sind.“ Der Refrain ist hier also integraler Bestandteil des Textes, weil man ihn sprachlich nicht weglassen könnte. In Art 30 GRC und anderen Bestimmungen ist der Refrain hingegen nur ein Zusatz, der Normtext wäre auch ohne ihn vollständig.
Für die Qualifikation des Art 30 GRC als „Recht“ sprechen die Verwendung des Wortes „Anspruch“ – im englischen Text „right“ – und die Eignung der Bestimmung für die Qualifikation als Recht. Allerdings ist auch die Einordnung als „Grundsatz“ nicht ausgeschlossen.
Art 30 GRC erfasst AN iSd Unionsrechts. Der ANBegriff des Art 30 deckt sich im Wesentlichen mit jenem des österreichischen Arbeitsvertragsrechts.* Art 30 GRC gibt dann all diesen AN – folgt man dem Gesagten – im Anwendungsbereich des Unionsrechts ein Recht auf Schutz vor ungerechtfertigter Kündigung. Aus Art 47 GRC folgt, dass dieser Schutz durch ein Gericht zu erfolgen hat. In der Folge lassen sich zum Inhalt des Art 30 GRC mehrere Problemfelder nennen: die personelle Reichweite und damit die Zulässigkeit des Ausschlusses mancher AN-Gruppen; die Anforderungen an den Maßstab, nach dem zu prüfen ist, ob eine Kündigung gerechtfertigt ist; die Anforderungen an die Sanktionen bei ungerechtfertigter Kündigung; schließlich die unmittelbare Anwendung zwischen Privaten.
Art 30 GRC ist inhaltlich deutlich weniger bestimmt als Art 24 RESC. Allerdings sagen die Erläuterungen zur GRC, der Text des Art 30 „lehnt sich an Artikel 24 der RESC an“, „draws on Article 24“. Nach Art 6 Abs 3 EUV ist die Charta unter „gebührender Berücksichtigung“ der Erläuterungen, „in denen die Quellen“ der Charta-Bestimmungen „angegeben sind“, auszulegen. Fraglich ist, wie genau der Inhalt des Art 24 RESC die Auslegung von Art 30 GRC prägt. Die Tatsache, dass – wie erwähnt – fast die Hälfte der Mitgliedstaaten der EU Art 24 RESC nicht akzeptiert haben, ist für den EuGH wohl kein Hindernis für eine Übernahme.
Die strukturellen Probleme von Art 30 GRC lassen sich schon am ersten Problemfeld, dem personellen Anwendungsbereich, zeigen. Art 30 GRC gilt unterschiedslos für alle AN und verlangt einen Schutz vor „ungerechtfertigter“ Kündigung. Orientiert man sich an Art 24 RESC, so verlangt Art 30 GRC jedenfalls,187 dass der AN verlangen kann, dass ein Gericht die Begründung des AG für die Kündigung überprüft. Eine Kontrolle nur auf Sittenwidrigkeit hin würde dieser Vorgabe kaum genügen, wenn man Sittenwidrigkeit hier so versteht wie sonst in Österreich. Art 30 GRC verlangt also eine Überprüfung auf nachvollziehbare Gründe des AG, ohne dass damit schon etwas über das Niveau der Anforderungen gesagt wäre.
Art 30 GRC enthält nun Ausnahmen weder für leitende Angestellte noch für AN in Kleinbetrieben noch für AN während einer Probe- bzw Wartezeit. Alle drei genannten Einschränkungen finden sich beim österreichischen allgemeinen Kündigungsschutz; auch die Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten enthalten eine oder mehrere dieser Einschränkungen. Das Fehlen einer ausdrücklichen Einschränkung in Art 30 GRC bedeutet aber nicht, dass eine Regelung, die manche AN vom Kündigungsschutz ausnimmt, schon deshalb mit Art 30 GRC unvereinbar wäre. Art 52 Abs 1 GRC erlaubt nämlich Einschränkungen der Chartarechte unter bestimmten Voraussetzungen.* Erste Voraussetzung ist eine gesetzliche Regelung. In inhaltlicher Hinsicht muss der Wesensgehalt des Rechts geachtet werden. Ferner ist erforderlich, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird, also dass die Einschränkungen „erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“.
Eine Wartefrist verletzt mE nicht den Wesensgehalt, weil sie nichts daran ändert, dass das Arbeitsverhältnis grundsätzlich einem Kündigungsschutz unterliegt. Die RESC erlaubt eine „angemessene“ „Warte- oder Probezeit“ für das Eingreifen des Kündigungsschutzes. Fraglich ist, ob eine Wartefrist von sechs Monaten verhältnismäßig ist.* Das Expertenkomitee zur Sozialcharta hat 2012 eine Probezeit von sechs Monaten als Verletzung der Sozialcharta gesehen, wenn sie unabhängig von der Qualifikation der AN besteht.* Allerdings sagen uns diese Experten nicht, warum sie sechs Monate für unangemessen halten. Die Wohlmeinung des Komitees sollte mE nicht auf Art 30 GRC übertragen werden. Erstens besteht bei Abschluss des Arbeitsvertrages eine Informationsasymmetrie; der AN kennt seine Fähigkeiten und Leistungsbereitschaft weit besser als der AG diese einschätzen kann. In vielen Fällen kann der AG sie erst nach einigen Monaten verlässlich beurteilen, auch bei eher einfachen Tätigkeiten; überdies würde eine Abgrenzung von Tätigkeiten, bei denen wegen geringerer Anforderungen eine kürzere Frist vielleicht ausreichen könnte, nur neue Probleme bereiten. Zweitens gibt es zu Art 30 GRC, anders als zu Art 24 RESC, einen Eingriffsvorbehalt in Art 52 GRC. Dieser Vorbehalt darf mE nicht ignoriert werden, auch wenn die Erläuterungen zur GRC auf Art 24 RESC als Vorbild verweisen. Drittens kann das Expertenkomitee seine Auffassung ohne die Last realer Verantwortung bilden, sodass man seine Äußerungen nicht als für die GRC maßgebend ansehen sollte.*
Schwieriger zu rechtfertigen ist das Fehlen jedes Schutzes bei Kleinstbetrieben und bei leitenden AN.* Manche werden hier schon den Wesensgehalt des Art 30 GRC angesprochen sehen. Auch wenn man dies verneint, bleibt fraglich, ob das Fehlen jedes Schutzes unverhältnismäßig ist. Schon der Blick nach Deutschland zeigt, dass man in beiden Fällen einen Kündigungsschutz mit geringeren Anforderungen an die Rechtfertigung durch den AG als beim normalen Allgemeinen Kündigungsschutz verwirklichen kann. Die Beurteilung wird auch für beide Gruppen – Leitende und AN in Kleinstbetrieben – gleich ausfallen müssen, weil die Interessen des AG – auch wenn sie jeweils unterschiedlich sind – doch in etwa gleich schwer wiegen.
Anzusprechen ist auch die Möglichkeit des BR, die Anfechtung einer Kündigung wegen Sozialwidrigkeit durch Zustimmung zu verhindern (§ 105 Abs 6 ArbVG). Dies entspricht der kollektivrechtlichen Wurzel des österreichischen Allgemeinen Kündigungsschutzes. Bei Art 30 GRC deuten hingegen Wortlaut und Vorbild der RESC darauf hin, dass es sich um ein Individualrecht der einzelnen AN handelt. § 105 Abs 6 ArbVG schränkt dann dieses Individualrecht ein.* Nach der Judikatur des OGH wird die Zustimmung des BR allerdings unwirksam sein, wenn sie rechtsmissbräuchlich erfolgt.* Die gerichtliche Überprüfung der Zustimmung könnte bewirken, dass das „Sperrecht“ mit Art 30 GRC doch vereinbar ist. Allerdings sind die Hürden dafür hoch. Erstens wäre erforderlich, dass die Zustimmung nicht nur bei kollusivem Zusammenwirken von BR und AG nichtig ist, sondern schon bei rechtmissbräuchlicher Zustimmung; es dürfte auch nicht auf einen Vertrauensschutz des AG ankommen.* Ferner dürften die Anforderungen an Missbrauch nicht allzu hoch sein. Ein Individualschutz iSd Art 30 GRC besteht nur, wenn bei der Prüfung auf Rechtsmissbrauch ein Gutteil jener Überlegungen maßgebend ist, die auch bei Anfechtung wegen Sozialwidrigkeit zum Tragen kommen; nur gewisse Abweichungen des Prüfungsmaßstabes zum Nachteil des Gekündigten lassen sich im Hinblick auf die vom BR repräsentierten Interessen der Belegschaft rechtfertigen. Schließlich wäre es problematisch, wenn der AN die volle Beweislast dafür tragen müsste, dass die Zustimmung missbräuchlich ist.*188
Wenn man meint, eine bestimmte Ausnahme vom Allgemeinen Kündigungsschutz sei mit Art 30 GRC nicht vereinbar, und überdies annimmt, dieser Schutz läge schon jetzt im Anwendungsbereich des Unionsrechts, würde sich die Frage stellen, ob sich die Gekündigte vor dem Arbeitsgericht unmittelbar darauf berufen kann, dass das österreichische Recht nicht mit Art 30 GRC vereinbar ist. Es geht um die unmittelbare Anwendung der Charta zwischen Privaten, genauer um die Verdrängung einer Bestimmung des nationalen Rechts (zB Anwendung des § 36 Abs 2 Z 3 ArbVG im Rahmen des § 105 ArbVG) durch eine Bestimmung des Unionsrechts.* Der EuGH hat diese Verdrängungswirkung für andere Normen des Unionsrechts wiederholt bejaht, insb zu Grundfreiheiten und Diskriminierungsverboten. Zur GRC hat er sich damit erstmals im Urteil AMS vom Jänner 2014 befasst. Er hat die Verdrängungswirkung dort verneint, weil Art 27 GRC, wie gesagt, nicht ausreichend konkret sei, um zwischen Privaten unmittelbar angewendet zu werden.* Aus diesem Urteil kann man aber wohl ableiten, dass der EuGH eine Verdrängungswirkung auch bei anderen Bestimmungen der Charta als bei Diskriminierungsbestimmungen grundsätzlich für möglich hält. Er wird diese Wirkung aber wohl nur bejahen, wenn die fragliche Norm ausreichend deutlich schon aus dem Grundrecht folgt. Dies ist bei Art 30 GRC zweifelhaft. Gegen die ausreichende Bestimmtheit könnte wie bei Art 27 GRC sprechen, dass Art 30 GRC auf das Recht der Union und der Mitgliedstaaten verweist. Auf der anderen Seite könnte Art 30 GRC in Bezug auf das Verbot des Ausschlusses einer ganzen Gruppe, wie der AN in Kleinstbetrieben, doch ausreichend konkret sein, jedenfalls wenn man darin eine Verletzung des Wesensgehaltes sehen sollte. Es liegt nahe anzunehmen, dass die Verdrängungswirkung nicht für eine Charta-Bestimmung einheitlich bejaht oder verneint werden kann, sondern dass nach der konkreten Rechtsfrage zu differenzieren ist. Die Rechtslage zu Art 30 GRC ist aber jedenfalls noch nicht hinreichend klar, um ein österreichisches Gericht unter Berufung darauf von der Bindung an das Gesetz (Art 18 B-VG) zu befreien. Auch wenn man eine Verdrängungswirkung zu Art 30 GRC bejahen sollte, darf ein österreichisches Gericht diese derzeit daher mE erst bejahen, wenn es vorher den EuGH gefragt hat.
Auf weitere Fragen zum Inhalt des Art 30 GRC gehe ich im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kündigungsschutzes ein, der ich mich nun zuwende. Soweit ich etwas zur Vereinbarkeit einer Regelung mit Art 30 GRC sage, wird dessen Verbindlichkeit für die Mitgliedstaaten unterstellt. Die Bezugnahme auf Art 30 GRC dient im Folgenden zum einen dazu, Beispiele für mögliche Probleme aufzuzeigen. Zum anderen erweitert der Blick auf die einzelstaatlichen Regelungen die Erkenntnisquellen zur Auslegung des Art 30 GRC, weil der EuGH jedenfalls bei Auslegung des Primärrechts auch rechtsvergleichende Überlegungen anstellt, wenn auch nicht immer offenlegt.*
Die Regelung der Beendigung und des Kündigungsschutzes erfolgt noch weitgehend durch die Mitgliedstaaten.* Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf den Allgemeinen Kündigungsschutz, also jene Regelungen welche für die AN im Allgemeinen gelten. Die Rechtslage zum Allgemeinen Kündigungsschutz war und ist in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich. Dies betrifft die Anforderungen an das Verfahren, die Gründe, aus denen der AG kündigen kann und die Folgen einer unzulässigen Kündigung. Die einzelstaatlichen Rechtslagen zum Allgemeinen Kündigungsschutz waren in den letzten Jahrzehnten aber relativ konstant. Die mitunter beträchtlichen Änderungen, welche die Krise im Arbeitsrecht einiger Länder veranlasst hat, haben stärker andere Fragen als den Allgemeinen Kündigungsschutz betroffen, wie die Bedeutung kollektiver Regelungen, die Arbeitszeit und partiell den Rückbau von Sonderkündigungsschutz.*189
Größere Reformen beim Allgemeinen Kündigungsschutz hat es im letzten Jahrzehnt nur in wenigen Mitgliedstaaten gegeben. Spanien hat den Allgemeinen Kündigungsschutz ab 2003 in mehreren Schritten gelockert (dazu später), in Portugal geschah dies ab 2009. In Estland wurde das Arbeitsgesetzbuch aus 1992, das vor allem Großunternehmen vor Augen hatte, 2012 durch ein neues Gesetzbuch ersetzt. Dieses nimmt zur Kenntnis, dass die große Mehrzahl der Unternehmen dort heute Klein- und Mittelbetriebe sind.* In einigen Ländern, insb in Italien, gab es partielle Änderungen zum Allgemeinen Kündigungsschutz.* In Ungarn trat 2012 ein neues Arbeitsgesetzbuch in Kraft,* das zur Beendigung vor allem die Folgen einer unrechtmäßigen Kündigung abschwächte.*
Der Kündigungsschutz ist nur ein Teil der Regelungen zur Beendigung. Er wendet sich nur gegen unzulässige Kündigungen. Für ein Gesamtbild genauso wichtig sind die Regelungen zur zulässigen Kündigung, insb zur Länge der Kündigungsfristen und zur Pflicht des AG, eine Abfertigung auch bei rechtmäßiger Kündigung zu zahlen; diese zwei Regelungen haben ja einen ähnlichen Zweck. Portugal, Griechenland und die Slowakei haben ab 2009 beide Formen der Absicherung reduziert, Spanien hat die – schon vorher kurzen – Kündigungsfristen weiter verkürzt. Dänemark und Belgien haben hingegen eher niedrige Abfertigungen eingeführt. Funktionell den Kündigungsfristen verwandt ist auch die Frist, die zwischen Ankündigung und Aussprechen von Massenkündigungen verstreichen muss; manche Länder (zB Spanien, Großbritannien) haben die Frist verkürzt. Überdies sind auch die Regelungen zur inneren Flexibilität relevant, insb inwieweit der AG versetzen, die Arbeitszeit verschieben oder das Arbeitsverhältnis einseitig für bestimmte Zeit suspendieren kann. Die Regeln dazu wurden aus Anlass der Krise in manchen Staaten vorübergehend geändert, in Spanien aber auf Dauer gelockert.
Beim rechtsvergleichenden Blick auf den Allgemeinen Kündigungsschutz sollte man stets dessen faktischen Anwendungsbereich beachten. Als erstes ist die Schattenwirtschaft zu nennen. Deren Anteil am Bruttosozialprodukt der Mitgliedstaaten liegt zwischen 8 % (Luxemburg) und 31 % (Bulgarien).* In vielen Ländern, darunter Italien, liegt der Anteil über 20 %. In manchen Ländern sind viele Leute auch im Haupterwerb in der Schattenwirtschaft tätig, und nicht nur – wie in Österreich – überwiegend als Nebenerwerb. Mit einem hohen Anteil an Schattenwirtschaft korreliert häufig eine hohe Arbeitslosenrate. Zweitens ist, innerhalb der offiziellen Erwerbsarbeit, der Anteil der freien Mitarbeiter unterschiedlich hoch. Zahlen gibt es nur für die Gruppe der self-employed insgesamt. Der EU-Durchschnitt liegt hier bei 13,7 %,* in einigen Ländern ist der Anteil bedeutend höher (zB Griechenland 34 %, Rumänien 32 %, Italien 23 %, Polen 22 %). Insb in Italien gibt es viele freie Mitarbeiter auch dort, wo man sie aus unserer Sicht nicht vermutet, etwa in Gaststätten. Drittens fallen befristete Arbeitsverhältnisse in aller Regel nicht unter den Allgemeinen Kündigungsschutz.* Der EU-Durchschnitt des Anteils dieser Arbeitsverhältnisse liegt bei 13,7 %. In manchen Ländern ist der Anteil weit höher,* etwa in Polen (24 %) und Spanien. In Spanien lag er zeitweise bei 30 % und bei über 90 % aller neuen Arbeitsverhältnisse; heute liegt der Anteil bei 23 %. In den 1990-Jahren wurde eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes primär durch die Erleichterung von Befristungen realisiert. Dieser Trend hat sich in der EU seither nach Auffassung der OECD nicht fortgesetzt.* Mehrere Länder wenden die Regeln zur Gleichbehandlung nun strenger an. Spanien hat die Höchstgrenze für wiederholte Befristungen ohne Prüfung des Sachgrundes auf drei Jahre verringert. 2011 wurden allerdings die Regeln für das Vorliegen einer wiederholten Befristung wieder gelockert.* Slowenien hat die Regeln zur Kettenbefristung verschärft. Mehrere Staaten haben sie allerdings gelockert, so Portugal, Griechenland, Rumänien, Polen und die Niederlande.* Viertens ist beim Anwendungsbereich des Allgemeinen Kündigungsschutzes zu beachten, dass es in mehreren Ländern, zB Italien und Frankreich, zwei Stufen des Allgemeinen Kündigungsschutzes gibt, die nach der Größe des Unternehmens unterscheiden. So gilt der strenge Allgemeine Kündigungsschutz in Italien nur in Unternehmen mit mehr als 15 AN, was weithin als Hemmnis für die Expansion kleinerer Unternehmen gesehen wird.
Alle vier Faktoren verringern die faktische Bedeutung des jeweiligen Allgemeinen Kündigungsschutzes bzw des starken Schutzes. Der Anteil der vom Allgemeinen Kündigungsschutz Geschützten an der Gesamtgruppe der wirtschaftlich abhängig Erwerbstätigen ist verschieden hoch. In manchen Ländern ist die Segmentierung des Arbeitsmarktes – in offizielle Erwerbsarbeit und Schattenwirtschaft, in AN und freie190 Mitarbeiter sowie in AN mit unbefristetem und befristetem Vertrag – sehr hoch. Der starke Allgemeine Kündigungsschutz kommt dann vielleicht nur einer Minderheit zugute. Die Folgen der Banken-, Schulden- und Währungskrisen, die Europa seit 2008 heimsuchen und die nun den Arbeitsmarkt in Österreich erreichen, haben den Anteil der Erwerbsfähigen, welche vom Allgemeinen Kündigungsschutz faktisch geschützt werden, weiter verringert, uzw aufgrund aller vorhin genannten Faktoren. Nur die Unterschiede zwischen unbefristeten und befristeten Arbeitsverhältnissen wurden zumindest in manchen Ländern verringert.
Man kann rechtspolitisch diskutieren, was besser ist: Ein starker Schutz für eine Minderheit von Insidern bei Schutzlosigkeit von vielen Outsidern oder ein schwächerer Schutz für die Mehrheit. Aus meiner Sicht ist die Antwort eindeutig: Das Gesetz sollte eine Regelung bieten, die nicht nur für Monopole und staatlich geschützte oder subventionierte Unternehmen, sondern für die große Mehrheit der Beschäftigten passt, und Verstärkungen des Schutzes den branchenspezifischen Regelungen überlassen.
In rechtlicher Sicht hat sich bei den Anwendungsbereichen des nationalen Allgemeinen Kündigungsschutzes in den letzten Jahren wenig geändert. Die wichtigste Änderung erfolgte wohl in Großbritannien. Dort gibt es seit jeher eine lange Wartefrist für das Eingreifen des Allgemeinen Kündigungsschutzes. Diese wurde 2013 wieder von einem Jahr auf zwei Jahre erhöht.* In Anbetracht des auch in Großbritannien steigenden Anteils kurzfristiger Arbeitsverhältnisse fällt damit ein beträchtlicher Teil der AN heraus. In keinem anderen Mitgliedstaat ist die Wartefrist so lang. Rechtlich dürfte eine zweijährige Wartefrist mit Art 30 GRC nicht vereinbar sein, weil sie nicht erforderlich ist, um dem AG die bei Einstellung fehlenden Kenntnisse über Fähigkeiten und Leistungsbereitschaft der AN zu verschaffen.
Der Allgemeine Kündigungsschutz kann entweder als ex-post-Kontrolle nach Kündigung oder als ex-ante- Kontrolle ausgestaltet sein. Ex ante bedeutet, dass für die Kündigung vorweg die Genehmigung einer Behörde erforderlich ist. Fast alle Mitgliedstaaten verwirklichen beim Allgemeinen Kündigungsschutz heute eine ex-post-Kontrolle. Nur in zwei Ländern ist noch eine Genehmigung erforderlich. In Griechenland ist dies so, wenn der AG eine Mehrzahl von AN kündigen will, außer die Vertretung der AN stimmt den Kündigungen zu; die behördliche Bewilligung wurde in der Vergangenheit kaum je erteilt.* Im Zuge der Krise wurden in Griechenland zwar alle Sonderkündigungsbestimmungen aufgehoben, nicht aber das Genehmigungserfordernis.* Ferner gibt es das Erfordernis in den Niederlanden, wo die Genehmigung aber bei Vorliegen eines Grundes regelmäßig erteilt wird. Im Februar 2014 wurde dort das Verfahren der Genehmigung stark vereinfacht. Insb ist nun für die Genehmigung einer wirtschaftsbedingten Kündigung zuerst nur mehr die Verwaltungsbehörde, für jene aus anderen Gründen nur mehr das Gericht zuständig.*
Bei ex-post-Kontrolle kann der Schutz entweder auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, also die Vernichtung der Kündigung, oder auf Entschädigung zielen. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten sieht Fortsetzung, die Minderheit von Anfang an nur Entschädigung vor.* Blickt man näher, so wird das Bild allerdings differenzierter. Viele Staaten, welche eine Klage auf Fortsetzung kennen, geben nämlich dem AG oder dem Gericht die Möglichkeit, von der Fortsetzung bei Zahlung einer Entschädigung abzugehen. Manche Staaten verringerten in den letzten Jahren die Möglichkeiten, Fortsetzung zu verlangen. So gibt Spanien dem AG seit 2003 generell die Möglichkeit, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu vermeiden, wenn er zu Beginn des Prozesses eine Abfindung zahlt, allerdings in beträchtlicher Höhe. Estland schaffte das Recht auf Fortsetzung 2009 ab. In Italien war das Recht auf Fortsetzung besonders stark und der Eckpfeiler des Allgemeinen Kündigungsschutzes; das Recht auf Fortsetzung bedeutet dort tatsächlich die Wiedereingliederung in den Betrieb, weil die Sanktionen sehr hoch sind, wenn der AG den AN nicht tatsächlich wieder beschäftigt. 2012 wurde das Recht auf Fortsetzung aber auf bestimmte Fälle beschränkt.* Bei Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen kann Fortsetzung nun nur verlangt werden, wenn der KollV dies vorsieht oder die Kündigung offensichtlich unbegründet ist. Dies wird wohl wieder Anlass für Streitigkeiten geben. In Ungarn konnte das Gericht früher stets auf Fortsetzung erkennen. Seit der Reform 2012 ist dies nur mehr in Ausnahmefällen möglich, insb wenn die Kündigung das Gleichbehandlungsgebot verletzt.
Im Ergebnis geben daher heute nur wenige Staaten den Gekündigten wirklich die Möglichkeit, Fortsetzung zu verlangen, insb Portugal, Griechenland, Österreich, Tschechien, die Niederlande und partiell Italien. Auch in diesen Ländern kann der AN die faktische Fortsetzung aber kaum je durchsetzen, sei es, weil der AG wie in Österreich letztlich nur zur Entgeltzahlung verpflichtet ist, sei es, weil die Wiedereingliederung nicht durchsetzbar ist. In den anderen Ländern müssen sich die AN schon von vornherein aus rechtlicher Sicht uU mit einer Entschädigung begnügen. Art 30 GRC wird, so wie die RESC, als Rechtsfolge einer ungerechtfertigten Kündigung nicht die Fortsetzung verlangen, sondern nur eine angemessene Sanktion, die auch in einer Entschädigung bestehen kann.
Die Höhe der Entschädigung bei ungerechtfertigter Kündigung ist nur in jenen Ländern gesetzlich festgelegt, die Entschädigung vorsehen. Sie differiert beträchtlich.191 Außergewöhnlich hoch ist sie in Schweden, wo der AG zB nach zehn Dienstjahren 32 Monatsentgelte zu zahlen hat. In Frankreich beträgt die Entschädigung stets sechs Monatsentgelte plus Ersatz des tatsächlichen Schadens, was zu hohen Summen führen kann. In Italien beträgt die Entschädigung, wenn der AN nicht Wiedereingliederung verlangen kann, zwischen zwei und sechs Monatsentgelten. In Großbritannien beträgt die Entschädigung hingegen nur einen Wochenlohn je Dienstjahr. Vor allem in Spanien wurde die Höhe der Entschädigung jüngst reformiert und reduziert. Früher betrug sie 45 Tagesentgelte je Dienstjahr, seit 2012 sind es 33 Tagesentgelte.* In Ungarn schuldet der AG seit der Reform 2012 zwar vollen Schadenersatz für die Folgen einer unrechtmäßigen Kündigung, der Ersatz ist aber auf zwölf Monatsentgelte begrenzt.*
Art 30 GRC räumt bei der Ausmessung der Entschädigung mE einen beträchtlichen Ermessensspielraum ein. Die britische Lösung – ein Wochenlohn je Dienstjahr ohne Anspruch auf Fortsetzung – liegt aber an der unteren Grenze, wenn nicht schon darunter, weil sie kaum geeignet scheint, einen durchschnittlichen AG von einer ungerechtfertigten Kündigung abzuhalten. In Ländern, in denen das Gesetz ein Recht auf Fortsetzung kennt, ergibt sich die Höhe einer Entschädigung primär aus den Vergleichsverhandlungen, die im Schatten der Prozesse geführt werden. In Deutschland indizieren Gesetz und Praxis eine Entschädigung von einem halben Monatsentgelt je Dienstjahr. Es wäre interessant zu hören, wie die Lage dazu in Österreich ist. Für alle genannten Länder fällt eines auf: Die Höhe der Entschädigung hängt nicht von der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens ab.
Große Unterschiede bestehen ferner bei der Frist für Klagen wegen ungerechtfertigter Kündigung. In Deutschland beträgt die Frist drei Wochen. Portugal hatte eine Frist von einem Jahr und verkürzte sie jüngst auf sechzig Tage. In Italien muss der AN der Kündigung binnen 60 Tagen widersprechen. Bis vor kurzem stand ihm für die Klage dann eine Frist von fünf Jahren offen. In Anbetracht der meist langen Verfahrensdauer und der Pflicht, das Entgelt bei Erfolg der Klage nachzuzahlen, hatte dies einen stark abschreckenden Effekt auf die AG. 2012 wurde die Frist auf 270 Tage verkürzt. In Österreich beträgt die Klagefrist nun zwei Wochen. In Bezug auf Art 30 GRC dürfen die einzelstaatlichen Regelungen die Durchsetzung eines vom Unionsrecht eingeräumten Rechts jedenfalls nicht unmöglich machen; dies folgt aus dem Gebot der Effektivität des Unionsrechts. Die Zweiwochenfrist liegt hier jedenfalls an der Untergrenze des danach Zulässigen, wenn nicht schon darunter.
Gegenstand heftiger Diskussionen in vielen Ländern ist ferner die Pflicht des AG, bei Obsiegen des AN das Entgelt für die Dauer des Prozesses nachzuzahlen. In Ländern, in denen Verfahren oft Jahre dauern, ist dies – iVm der Unsicherheit des Prozessausgangs – aus Sicht des AG oft das größte Hindernis für eine Kündigung. Dies ist insb in Italien relevant. Dort dauern erstinstanzliche Verfahren in Zivilsachen durchschnittlich 600 Tage (in Österreich 120).* Italien hat 2012 daher die Höchstdauer der Zeit, für die das Entgelt nachzuzahlen ist, begrenzt. Aus ähnlichen Gründen hat Ungarn die Höhe der Gesamtentschädigung bei ungerechtfertigter Kündigung auf zwölf Monatsentgelte begrenzt.*
Fraglich kann sein, ob solche Begrenzungen der Nachzahlung mit Art 30 GRC vereinbar sind. Das Expertenkomitee zur ESC hat 2012 in der slowakischen Regelung, welche die Höchstdauer auf zwölf Monate begrenzt, eine Verletzung von Art 24 RESC gesehen.* Das Expertenkomitee entfernt sich damit aber ohne Begründung weit vom Text der Sozialcharta, der für das Ausmaß der Entschädigung klar auf die nationalen Vorschriften verweist. Zu Art 30 GRC ist schon fraglich, ob diese Bestimmung überhaupt das Nachzahlen des Entgelts verlangt. Auch wenn man dies bejaht, wird Art 30 GRC kaum eine Nachzahlung verlangen, die über jenen Betrag hinausgeht, der bei Nichtanfechtung als Entschädigung gebührt, gebühren würde oder gebühren sollte. Überdies erlaubt Art 52 GRC eine Einschränkung des Schutzes, wenn diese verhältnismäßig ist. Dabei ist zu bedenken, dass eine lange Prozessdauer keiner der beiden Parteien zurechenbar ist. ME erscheint eine Beschränkung auf zwölf Monate daher nicht unverhältnismäßig.
Für die Gesamtheit der Regelungen zur Beendigung stellt sich stets die Frage nach deren Ausrichtung. Insb für die Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen kann man innerhalb der Mitgliedstaaten mE zwei Grundhaltungen erkennen.
In der einen Ländergruppe werden wirtschaftliche Kündigungen als „normales“ Phänomen der Wirtschaft betrachtet. Die Kündigung ist insb auch zulässig, wenn Betrieb und Unternehmen positive Ergebnisse erzielen und der Unternehmer nur sein Kapital anders oder anderswo einsetzen will. Zu dieser Gruppe zählt die Mehrheit der „alten“ Mitgliedstaaten (EU-15), ua Großbritannien, die skandinavischen Staaten, Belgien und Österreich, sowie in der Praxis Deutschland und die Niederlande, wo letztlich Pragmatismus vorherrscht. Der Kündigungsschutz wird hier eher als Schutz vor einer Kündigung gesehen, für die der AG keinen vernünftigen Grund angeben kann. In Großbritannien konzentrieren sich die Anforderungen überhaupt eher auf das Einhalten eines Verfahrens, denn auf eine Überprüfung des Grundes.
In der zweiten Gruppe von Ländern scheint eine andere Grundhaltung vorzuherrschen, nämlich dass jedes Arbeitsverhältnis bis zur Pension andauern soll, wenn der AN dies wünscht. Die Möglichkeit zur wirtschaftsbedingten192 Kündigung wurde und wird hier weithin als anstößige Härte gesehen, die nur als Konzession an einen unfreundlichen Zeitgeist ertragen werden muss, und die daher so weit wie möglich zu behindern sei. Zu dieser Gruppe zählten aus den EU-15 Griechenland, Spanien und Portugal sowie in etwas geringerer Intensität Frankreich und Italien.* In der Praxis ist auch in den meisten dieser Länder eine Kündigung wegen Arbeitsmangels zwar zulässig. Allerdings sind die Hürden für den AG höher, insb wenn das Unternehmen prosperiert, und auch eine gerechtfertigte Kündigung kostet den AG weit mehr als in Ländern der ersten Gruppe. An dieser Grundhaltung wurde in diesen Ländern trotz der zunehmenden Segmentierung des Arbeitsmarktes lange festgehalten.
Erst im letzten Jahrzehnt trat hier in manchen Ländern ein gewisser Wandel ein. Den Anfang machte Spanien, indem es 2003 dem AG, wie gesagt, ermöglichte, die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses durch Zahlung einer Abfindung zu vermeiden. 2012 wurden die Anforderungen an die Rechtfertigung der Kündigung gelockert. Während die wirtschaftsbedingte Kündigung früher die wirtschaftliche Gefährdung des Unternehmens voraussetzte, reicht nun aus, dass der Arbeitsbedarf aufgrund einer Verringerung der Geschäftsaktivitäten sinkt. Auch das Erfordernis einer behördlichen ex-ante- Genehmigung von Massenkündigungen wurde in Spanien 2012 beseitigt; Portugal tat dies schon etwas früher. In Griechenland wurden verschiedene Formen des Sonderkündigungsschutzes beseitigt und die Kündigungsfristen deutlich verkürzt. Das Erfordernis einer behördlichen Genehmigung für Massenkündigungen besteht für die Privatwirtschaft aber nach wie vor. Allerdings könnte es praktisch abgeschwächt worden sein, weil nun auch Betriebsgewerkschaften diese Zustimmung erteilen können. In Italien wird seit Jahren über eine tiefgreifende Reform des Kündigungsschutzes geredet, der dort in Betrieben mit mehr als 15 AN sehr streng war und wohl noch immer ist. Jede Regierung plant diese Reform. Bisher wurden nur Teilfragen neu geregelt, insb eine Begrenzung der Pflicht des AG, das Entgelt für die Dauer des Prozesses nachzuzahlen, und die partielle Einschränkung des Rechts auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, all dies aber in reichlich komplizierter und unübersichtlicher Weise. Zu sehen ist all dies vor dem Hintergrund, dass Prozesse gerade in Italien lange dauern. Eine lange Prozessdauer verändert die Lage der Beteiligten gravierend. Die italienische Regierung wollte daher 2012 das Recht auf Fortsetzung bei wirtschaftsbedingten Kündigungen noch weiter einschränken als geschehen, und durch eine – vergleichsweise – hohe Entschädigung ersetzen. Sie scheiterte aber am Widerstand der Gewerkschaften. Insgesamt kann man für die genannten Länder aber eine Tendenz zur Lockerung des Kündigungsschutzes ausmachen, welche diese Länder näher an jene der ersten Gruppe heranbrachte. In Griechenland und Portugal hat dazu das Wirken der Troika beigetragen.
In Frankreich war die Tendenz in letzter Zeit unklar. Auf der einen Seite wurde 2013 Massenkündigungen erleichtert, wenn diese mit der Gewerkschaft abgesprochen oder von der Behörde gebilligt wurden. Auf der anderen Seite wurde 2014 wieder der Plan aufgegriffen, wirtschaftsbedingte Kündigungen zu erschweren, wenn das Unternehmen Gewinne macht. Schon 2001 wurde ein Gesetz verabschiedet, das Kündigungen in diesem Fall verbot. Das Verfassungsgericht untersagte jedoch die Regelung wegen Verletzung der unternehmerischen Freiheit. Im Februar 2014 wurde nun beschlossen, dass ein Unternehmen vor Schließung eines Betriebes drei Monate lang ernsthaft nach einem Käufer für den Betrieb suchen muss.* Sanktion ist eine Buße in Höhe des Vierfachen des gesetzlichen Mindestlohnes für einen Monat (insgesamt ca € 5000,–) für jeden weggefallenen Arbeitsplatz.
Weitere Ausführungen würden weitere Unterschiede in vielen Details zum Schutz bei und gegen Kündigung zeigen. Schon das bisher Gesagte lässt aber zweifeln, dass es beim Allgemeinen Kündigungsschutz so etwas wie einen gemeinsamen Kern von Regelungen im Rahmen der EU gibt. Die Grundeinstellungen scheinen stark zu divergieren.
Spätestens diese Feststellung wirft die Frage auf, welches Niveau an Kündigungsschutz Art 30 GRC verlangt. Die Norm enthält keine detaillierten Vorgaben zu den Anforderungen an die Begründetheit einer Kündigung.* Legt man Art 30 GRC in Anlehnung an Art 24 ERSC aus, so genügen „triftige Gründe“, in den verbindlichen Sprachfassungen „valid reasons“ und „motif valable“.* Dazu zählen nur die in Art 24 Abs 1 RESC genannten Fälle also „valid reasons connected with their capacity or conduct or based on the operational requirements of the undertaking, establishment or service“.* Man kann erwarten, dass der EuGH193 zu Art 30 GRC sich daran orientieren wird. Allerdings kann die Vorgabe der RESC sehr unterschiedlich ausgelegt werden, streng oder weniger streng. Ein Beispiel dazu ist die Obliegenheit des AG, den AN auf einem anderen Arbeitsplatz weiter zu beschäftigen. Diese Obliegenheit ist ein wesentliches Element der Kündigung als ultima ratio. Portugal und Slowenien haben die Obliegenheit weitgehend beseitigt.*
Schon die Art der Regelung könnte aber im Hinblick auf Art 30 GRC problematisiert werden. Geht man davon aus, dass Art 30 GRC ein Recht (und nicht einen Grundsatz) enthält, so ist daran zu erinnern, dass Einschränkungen der Chartarechte durch Gesetz erfolgen müssen. Es ist dann fraglich, inwieweit dies auch für die Kriterien gilt, anhand derer die Berechtigung einer Kündigung zu prüfen ist; diese sind genaugenommen ja keine Einschränkung des Rechts, sondern dessen Ausgestaltung. In der Sache ist primär fraglich, wie genau das Gesetz dann die Kündigungsgründe selbst umschreiben muss. In manchen Mitgliedstaaten gibt es mitunter recht lange Listen dazu, andere umschreiben die zulässigen Gründe eher allgemein. ME genügt dem Art 30 GRC eine eher allgemeine Umschreibung, die dann von den Gerichten konkretisiert wird (der EGMR akzeptiert selbst zu den Gesetzesvorbehalten der EMRK in den Ländern des common law auch Richterrecht). Auch wenn man dem folgt, ist fraglich, ob die Umschreibung nicht doch etwas konkreter sein müsste als in § 105 Abs 3 Z 2 ArbVG.
Fraglich ist überdies, ob aus Art 30 das Gebot folgt, dass der AG die Kündigung schriftlich erklärt und sogleich den Kündigungsgrund so nennt, dass das Wesentliche erkennbar ist. In fast allen Mitgliedstaaten besteht für die Kündigung das Erfordernis der Schriftform, viele Mitgliedstaaten verlangen auch die Angabe des Grundes in der schriftlichen Kündigung. Beide genannten Anforderungen ergeben sich nicht bereits aus dem Text des Art 30 GRC. Sie könnten daher nur aus Überlegungen zu dessen Zweck folgen. Orientiert man sich an den bekannten Überlegungen des EuGH zur „praktischen Wirksamkeit“ des Unionsrechts (effet utile),* so liegt es nahe, dass der EuGH zu folgendem Ergebnis kommen wird: Art 30 GRC verlange, dass der AN sogleich bei der Kündigung einschätzen kann, ob erstens eine Situation vorliegt, in der das Recht des Art 30 GRC relevant ist,* und ob der AG zweitens einen Grund vorbringt, der uU berechtigt sein kann; dies setze dann eine schriftliche Angabe von Kündigung und Grund voraus, auch damit der AN Rechtsrat einholen kann.
Für die inhaltlichen Vorgaben des Art 30 GRC wird es entscheidend auf den Zweck ankommen, den der EuGH dem Kündigungsschutz beimisst. Dazu kann ich hier nur kuRz Stellung nehmen. Art 30 GRC verlangt, dass der AG die Kündigung jedenfalls im Prozess begründet. Als Rahmenbedingung ist ferner Art 16 GRC zur unternehmerischen Freiheit sowie die Ausrichtung der Union auf eine – wenn auch soziale – Marktwirtschaft zu beachten (Art 3 Abs 3 EUV). Die Regelungen zum Allgemeinen Kündigungsschutz beeinflussen die Produktivität der Unternehmen entscheidend. Zu wenig Schutz kann die AN demotivieren, zu viel Schutz die Unternehmen. Bei Kündigungen aus wirtschaftlichen Gründen ist zu bedenken, dass Kündigungsschutz keine Arbeitsplätze schafft, sondern nur bestehende erhalten kann. In nicht subventionierten Unternehmen ist dies aber nur möglich, wenn das Unternehmen insgesamt positiv wirtschaftet. Nach verbreiteter, wenn auch umstrittener Auffassung kann ein zu starker Allgemeiner Kündigungsschutz überdies Unternehmen davon abhalten, AN einzustellen, insb wenn es sich um kleinere Unternehmen handelt oder die Wirtschaftslage unsicher erscheint.* Die Anforderungen an die Begründung sollten daher auf der einen Seite sicherstellen, dass der AG nachvollziehbare wirtschaftliche Gründe hat. Auf der anderen Seite sollten sie aber auch nicht höher sein, als für die Funktionsfähigkeit der Unternehmen insgesamt zuträglich ist.* Die Intensität des Kündigungsschutzes sollte sich an194 dem orientieren, was das durchschnittliche Unternehmen tragen kann, und nicht an dem, was sehr starke Unternehmen noch verkraften. Der österreichische Standard scheint mir dieses Maß gut zu treffen. Auch die Gründe für eine Kündigung aus Gründen in der Person und im Verhalten haben primär einen wirtschaftlichen Aspekt, weil sie die Effizienz der Unternehmen beeinflussen. Daneben prägen sie die sozialen Strukturen und Verhaltensstandards einer Gesellschaft. Gerade bei diesen Kündigungsgründen sollte daher der Verweis auf die einzelstaatlichen Vorschriften in Art 30 GRC relevant, die Vorgabe des Unionsrechts weniger intensiv sein. Insgesamt sollten daher mE die im Vergleich zu manch anderen Ländern niedrigen Prüfungsstandards von Ländern, wie den Niederlanden, Dänemark und Österreich, mit Art 30 GRC vereinbar sein.
Das bisher Gesagte erlaubt überdies, ein allgemeines Problem der Beurteilung von Änderungen beim Allgemeinen Kündigungsschutz aufzuzeigen. Aus nationaler Sicht lässt sich jede Veränderung leicht einordnen, aus der Perspektive der AN als Verbesserung oder Verschlechterung, aus jener der AG umgekehrt. Bei einem Blick von außen sind zwei Vorbehalte vorzubringen.
Zum einen sind die einzelnen Regelungen nur jeweils Bausteine eines Systems. Ihre Bedeutung und die Bedeutung einer Änderung kann daher aus vergleichender und rechtspolitischer Sicht nur im Rahmen dieses Systems voll gewürdigt werden.* Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine solche Gesamtschau auch für die Frage relevant wäre, ob eine Regelung dem Art 30 GRC genügt. Hier wird ein Verrechnen günstiger mit ungünstigen Abweichungen nur beschränkt möglich sein.
Der zweite Vorbehalt betrifft die Einordnung einer Änderung aus einer europäischen – rechtsvergleichenden und rechtspolitischen – Perspektive. Als erstes Beispiel diene die Verlängerung der Wartefrist für das Eingreifen des Allgemeinen Kündigungsschutzes in Großbritannien. Dies ist nicht nur aus nationaler Sicht eine Verschlechterung der AN-Positionen, die zweijährige Wartefrist ist auch aus übergreifender Sicht eine „schlechte“ Regelung. Zum einen ist schon eine einjährige Wartefrist im Vergleich recht lang; in vielen Mitgliedstaaten greift der Allgemeine Kündigungsschutz sofort nach Ablauf einer kurzen Probezeit. Zum anderen ist der britische Allgemeine Kündigungsschutz im Vergleich ohnehin sehr schwach, wohl der schwächste innerhalb der alten Mitgliedstaaten. Die britische Änderung ist daher auch dann eine deutliche Verschlechterung, wenn man die nationale Ausgangslage und die Lage in anderen Ländern berücksichtigt. Anders muss die Beurteilung von Änderungen ausfallen, wenn die nationale Ausgangslage im Vergleich aus dem Rahmen fällt. Als Beispiel diene die Beseitigung des Erfordernisses, dass eine Massenkündigung behördlich genehmigt werden muss, in Spanien und Portugal. Dieses Erfordernis gab es damals nur mehr in zwei weiteren Ländern. Es würde daher seltsam sein, wenn man die Beseitigung des Erfordernisses aus europäischer oder österreichischer Sicht als massive Verringerung der AN-Rechte beklagt, weil eine singuläre Rechtslage kaum als besonders würdig erscheint, durch Außenstehende verteidigt zu werden.
Bisher ging es nur um den Allgemeinen Kündigungsschutz. Zu Regelungen, die einen stärkeren Schutz für manche Gruppen vorsehen, sei nur Folgendes angemerkt. Manche Länder haben bestimmte Formen des besonderen Kündigungsschutzes im Zuge der Krise partiell abgebaut. Tendenziell ist der besondere Schutz aber eher im Vormarsch, vor allem dank des Einbeziehens der AN im Elternurlaub. Dazu tritt die wachsende Bedeutung des Verbotes diskriminierender Kündigung.
Bevor ich zum letzten Teil komme, möchte ich noch eine Entwicklung in Belgien erwähnen, die nicht unmittelbar den Allgemeinen Kündigungsschutz betrifft, aber aus österreichischer Sicht interessant ist. In Belgien ist der Allgemeine Kündigungsschutz vergleichsweise schwach ausgeprägt, der Schutz erfolgte bisher vor allem über lange Kündigungsfristen. Allerdings gab es diese nur für Angestellte, nicht für Arbeiter; sie betrugen bei hohem Gehalt oft deutlich über ein Jahr. Das belgische Verfassungsgericht hat es nun im dritten Anlauf geschafft, diese Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern wegen Gleichheitswidrigkeit zu beseitigen.* Die kürzlich beschlossene Neuregelung sieht ein einheitliches System vor, das einen Mittelweg geht.* Seither gibt es nur mehr drei Mitgliedstaaten, in denen die Unterscheidung von Arbeitern und Angestellten auf Gesetzesebene im Individualarbeitsrecht relevant ist: Österreich, Dänemark und Griechenland.
In Bezug auf die Perspektiven ist zuerst zu fragen, ob es zum Allgemeinen Kündigungsschutz einen Trend in der EU gibt. Nimmt man alle Mitgliedstaaten in den Blick, so kann man für einen längeren Zeitraum sagen: Es hat keine sehr großen Veränderungen gegeben, und die beträchtlichen Unterschiede in der EU bestehen nach wie vor. Auch die langjährige Zugehörigkeit zum Binnenmarkt hat an den großen Unterschieden kaum etwas geändert. Dies belegt zum einen, dass es auch wirtschaftlich relevante Rechtsbereiche gibt, in denen der Binnenmarkt keine Annäherung der Rechtslagen bewirkt, und zeigt zum anderen, dass die Ausgestaltung des Kündigungsschutzes offenbar stark verwurzelte Präferenzen widerspiegelt.
Die EU-Kommission hat, jedenfalls einige Zeit lang, das Konzept der Flexicurity hochgehalten. Zum Kündigungsschutz wendet sich dieses Konzept gegen einen allzu rigiden Schutz. Die Politik der Staaten mit195 rigidem Allgemeinen Kündigungsschutz hat darauf bislang nur, aber immerhin partiell reagiert. Auch die OECD spricht für die letzten fünf Jahre von einer Tendenz zur Lockerung des Allgemeinen Kündigungsschutzes.* Eher unverständlich ist allerdings, dass auch Länder wie Großbritannien mit einem ohnehin schwachen Allgemeinen Kündigungsschutz meinen, diesen weiter lockern zu müssen.
Die Entwicklung beim Allgemeinen Kündigungsschutz wird aber bei Kündigung einzelner AN durch eine andere begleitet, wenn nicht überlagert, nämlich dem Ausbau des Diskriminierungsschutzes. Wird glaubhaft gemacht, dass die Kündigung aufgrund eines missbilligten Merkmals erfolgt, so muss der AG sachliche Gründe für die Kündigung vorbringen. Die Bedeutung dieses Diskriminierungsverbotes würde weiter steigen, sollten sich einmal alle sechzehn durch Art 21 GRC missbilligten Merkmale im Kündigungsschutz wiederfinden. Art 21 nennt etwa auch „genetische Merkmale“, sodass man dann auch rechtlich diskutieren müsste, inwieweit etwa Fähigkeiten, Leistungsbereitschaft und Temperament auf solchen Merkmalen beruhen.
Das Flexicurity-Konzept hat auch einen zweiten Teil, die Security. Konkret geht es um die Absicherung der Gekündigten durch Leistungen an Arbeitslose und deren Unterstützung bei Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit und Jobsuche. Die Lage in Österreich entspricht, vergleichend betrachtet, schon länger dem Flexicurity-Konzept. Der Allgemeine Kündigungsschutz ist eher im unteren Drittel der Regelungen anzusiedeln, die Leistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik werden als Vorbild gepriesen, und die Geldleistungen an Arbeitslose sind in Bezug auf die Dauer im Spitzenfeld, in Bezug auf die Höhe im Mainstream. Eine gute Absicherung der Arbeitssuchenden kann rechtlich allerdings nicht kompensieren, wenn der Allgemeine Kündigungsschutz hinter dem von Art 30 GRC Geforderten zurückbleibt.* Rechtspolitisch ist aber sehr wohl von Interesse, wie die Lage bei Leistungen an Arbeitssuchende war und wie sie sich verändert hat. In manchen Ländern, wie Italien, wurde der rigide Kündigungsschutz, auch wenn er nur manchen zugute kommt, als Ersatz für das dort früher sehr geringe Arbeitslosengeld gesehen; die Ersatzrate lag dort unter 30 %. In den letzten Jahren wurden die Leistungen angehoben. Aus anderen Ländern gibt es hingegen kaum Verbesserungen bei den Leistungen an Arbeitssuchende zu vermelden. Jedenfalls Portugal hat vielmehr sowohl Kündigungsfristen und Abfindungen als auch die Arbeitslosenleistungen gekürzt.*
Eine Vereinheitlichung der Regelungen zum Allgemeinen Kündigungsschutz in der Union ist jedenfalls durch Gesetzgebungsakte der Union kaum zu erwarten. Auch für eine autonome, von den Mitgliedstaaten selbst bewirkte Angleichung der Regelungen gibt es wenig Anzeichen. Die nationalen Traditionen sind hier noch sehr stark. Art 30 GRC kann nur in einer Richtung iS einer Angleichung wirken, nämlich durch Anheben eines danach ungenügenden einzelstaatlichen Schutzes. In den meisten Ländern dürften die materiellen Prüfstandards für die Rechtfertigung einer Kündigung aber den Anforderungen des Art 30 GRC genügen. In anderen Details, wie dem Ausschluss mancher AN vom Anwendungsbereich des Allgemeinen Kündigungsschutzes, könnte Art 30 GRC aber Änderungen erfordern, sollte er einmal im Bereich des Allgemeinen Kündigungsschutzes als für die Mitgliedstaaten verbindlich angesehen werden. Allerdings sind dazu noch sehr viele Fragen offen. Im Übrigen müssen AN und Unternehmen noch länger mit unterschiedlichen Regelungen leben.196