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Konzernbehindertenvertrauensperson: formelle und materielle Freistellungsvoraussetzungen

HannesSchneller (Wien)
§§ 133, 135 ASVG; §§ 2, 3 und 49 ÄrzteG; § 7 MTD-G; § 4 Wr KAG 1987
  1. Es wird die Freistellung – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – bereits wirksam, wenn sie die Behindertenvertrauensperson beantragt, weil das Recht auf Freistellung der Belegschaftsvertretung zusteht, die durch die Erklärung, es in Anspruch zu nehmen, ein einseitiges Gestaltungsrecht ausübt, das eine Verpflichtung des Betriebsinhabers zum Vollzug auslöst.

  2. Anders als der Anspruch auf Freizeitgewährung gem § 116 ArbVG ist der Freistellungsanspruch gem § 117 ArbVG nicht von der individuellen Erforderlichkeit der Arbeitsversäumnis für betriebsrätliche Tätigkeiten abhängig. Der Gesetzgeber stellt bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 117 ArbVG die unwiderlegbare Vermutung auf, dass bei einer so großen Zahl von AN die Aufgaben bei der Vertretung der Belegschaftsinteressen die gesamte Arbeitszeit in Anspruch nehmen.

  3. Der Freistellungsanspruch des § 117 Abs 5 ArbVG kommt nur subsidiär zum Tragen, wenn nicht bereits eine Freistellung von Mitgliedern des BR (bzw des Zentralbetriebsrats [ZBR]) gem § 117 Abs 1 bis 3 ArbVG möglich ist. Daher kommt es auch bei sinngemäßer Anwendung des § 117 Abs 5 ArbVG für die Beurteilung des Freistellungsanspruchs nicht auf den Umstand an, dass die Tätigkeit der Konzernbehindertenvertrauensperson gem § 22a Abs 13 BEinstG „nur“ die Vertretung der Behinderteninteressen innerhalb der Konzernvertretung umfasst.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen. [...]

Der bei der Bekl als technischer Prüfer beschäftigte Kl wurde am 25.8.2011 als Konzernbehindertenvertrauensperson gem § 22a Abs 13 und 14 BEinstG gewählt. In der Sitzung vom 24.1.2012 beschloss die Konzernbehindertenvertretung, die gesetzliche Freistellung unter Fortzahlung des Entgelts ab 1.2.2012 für den Kl in Anspruch zu nehmen. Dies wurde der Bekl mit Schreiben vom 25.1.2012 mitgeteilt. Im Konzern, zu dem die Bekl gehört, sind mehr als 400 begünstigte Behinderte beschäftigt. Die Bekl lehnte den Antrag auf Dienstfreistellung telefonisch ab.

Der Kl begehrt die Feststellung, dass er als Konzernbehindertenvertrauensperson seit 1.2.2012 von der Arbeitsleistung unter Fortzahlung des Entgelts freizustellen sei, hilfsweise, dass ihm als Konzernbehindertenvertrauensperson die zur Erfüllung seiner Obliegenheiten erforderliche Freizeit unter Fortzahlung des Entgelts zu gewähren sei. Die für die Wahl zur Konzernbehindertenvertrauensperson aktiv und passiv wahlberechtigten Personen seien alle Behindertenvertrauenspersonen, für die § 22a Abs 10 BEinstG zur Anwendung gelange. Daher finde auch für den Kl § 117 Abs 5 ArbVG Anwendung. Der Konzern beschäftige mehr als 400 begünstigte Behinderte, eine Behindertenvertrauensperson sei nicht freigestellt. Die Bekl sei daher an den Freistellungsbeschluss der Konzernbehindertenvertretung gebunden.

Die Bekl wandte dagegen im Wesentlichen ein, dass der Kl als Konzernbehindertenvertrauensperson230 weder einen Freistellungsanspruch iSd § 117 Abs 5 ArbVG noch einen Anspruch auf Freizeitgewährung iSd § 116 ArbVG habe.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Die Bestimmungen des 4. Hauptstücks des II. Teils des ArbVG, in denen die Ansprüche auf Freistellung und Freizeitgewährung geregelt seien, seien gem § 22a Abs 10 BEinstG nur für die Behindertenvertrauensperson, nicht aber für die Konzernbehindertenvertrauensperson anwendbar. Deren rechtliche Stellung sei in § 22a Abs 13 und 14 BEinstG geregelt, die keinen Verweis auf § 22a Abs 10 BEinstG enthielten. Eine eine Analogie rechtfertigende Regelungslücke liege nicht vor.

Das Berufungsgericht gab der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung des Kl nicht Folge. Wortlaut und Systematik des § 22a BEinstG zeigten deutlich, dass der Gesetzgeber nur für Behindertenvertrauenspersonen, nicht aber für Zentralbehindertenvertrauenspersonen oder die Konzernbehindertenvertrauensperson einen Freistellungs- bzw Freizeitgewährungsanspruch statuieren wollte. Nur für die Behindertenvertrauensperson verweise § 22a Abs 10 BEinstG auf die Bestimmungen des 4. Hauptstücks des II. Teils des ArbVG, wo diese Ansprüche in den §§ 116, 117 ArbVG geregelt seien. Dieses Auslegungsergebnis widerspreche auch nicht Art 7 Abs 1 B-VG iVm § 7b Abs 1 Z 6 und 9 BEinstG und Art 3 Abs 1 lit c der RL 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Die Behindertenvertrauensperson habe die wirtschaftlichen, sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Interessen der begünstigten Behinderten im Einvernehmen mit dem BR auf Betriebsebene wahrzunehmen. Der mit der unmittelbaren Beratung und Vertretung in Großbetrieben verbundene Aufwand rechtfertige eine Freistellung bzw Freizeitgewährung der Behindertenvertrauensperson wie sie auch Betriebsräten zustehe. Die Tätigkeit der Konzernbehindertenvertrauensperson beschränke sich hingegen auf die Vertretung der Behinderteninteressen innerhalb der Konzernvertretung. Die Beanspruchung der Konzernbehindertenvertrauensperson sei daher nicht mit jener zu vergleichen, die die Behindertenvertrauensperson direkt auf Betriebsebene zu bewältigen habe. Im Hinblick auf diesen sachlichen Unterschied im Aufgabengebiet verletze die vom Gesetzgeber vorgenommene Differenzierung beim Freizeitgewährungs- bzw Freistellungsanspruch weder den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz, noch liege eine Diskriminierung iSd § 7b Abs 1 Z 6 oder 9 BEinstG vor.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil zur Frage des Freistellungs- bzw Freizeitgewährungsanspruchs der Konzernbehindertenvertrauensperson Rsp des OGH fehle.

Gegen dieses Urteil richtet sich die von der Bekl beantwortete Revision des Kl.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, sie ist iSd Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Voranzustellen ist, dass die Bekl vorgebracht hat, dass der Kl auch BR und Behindertenvertrauensperson im Betrieb der Bekl ist. Dieses Vorbringen hat der Kl nicht bestritten. Ausgehend davon erweist sich aber die Rechtssache aus folgenden Gründen als noch nicht entscheidungsreif:

1. Ausgangspunkt für die Beurteilung des vom Kl geltend gemachten Anspruchs ist die Bestimmung des § 22a BEinstG (vgl zur Regelungstechnik und Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung 9 ObA 41/08g). § 22a BEinstG idgF BGBl I 2010/111(BBG 2011) lautet auszugsweise:

„(1) Sind in einem Betrieb dauernd mindestens fünf begünstigte Behinderte (§ 2 Abs 1 und 3) beschäftigt, so sind von diesen nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen Behindertenvertrauenspersonen (Stellvertreter) als Organ zu wählen. ...

(10) Auf die persönlichen Rechte und Pflichten der Behindertenvertrauensperson (Stellvertreter) sind die Bestimmungen des 4. Hauptstückes des II. Teiles des Arbeitsverfassungsgesetzes bzw die in Ausführung der §§ 218 bis 225 des Landarbeitsgesetzes 1984, BGBl Nr 287, ergangenen landesrechtlichen Vorschriften sinngemäß anzuwenden.

(11) Besteht in einem Unternehmen ein Zentralbetriebsrat nach § 80 des Arbeitsverfassungsgesetzes, so sind von den Behindertenvertrauenspersonen und den Stellvertretern aus ihrer Mitte mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen eine Zentralbehindertenvertrauensperson und ein Stellvertreter zu wählen. [...]“

2. § 22a Abs 10 BEinstG stellt klar, dass auf die persönlichen Rechte und Pflichten der Behindertenvertrauensperson die Bestimmungen des 4. Hauptstücks des II. Teils des ArbVG, zu denen auch die vom Kl geltend gemachten Ansprüche gehören, sinngemäß anzuwenden sind. Der Behindertenvertrauensperson ist daher in sinngemäßer Anwendung des § 116 ArbVG die zur Erfüllung ihrer Obliegenheiten erforderliche Freizeit gegen Fortzahlung des Entgelts einzuräumen. Sie hat – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – auch Anspruch auf Freistellung iSd § 117 ArbVG. Da § 22a Abs 10 BEinstG die sinngemäße Anwendung der Bestimmung des § 117 ArbVG ohne weitere Einschränkung vorschreibt, ist ein Anspruch auf Freistellung nicht nur gem § 117 Abs 1 ArbVG zu beurteilen, sondern auch gemäß den weiteren Absätzen dieser Bestimmung, sodass ein solcher Anspruch auch in sinngemäßer Anwendung des § 117 Abs 5 ArbVG bestehen kann.

3.1 Gem § 22a Abs 11 BEinstG ist die Zentralbehindertenvertrauensperson (und deren Stellvertreter) aus dem Kreis der Behindertenvertrauenspersonen und deren Stellvertretern zu wählen. Gem § 22a Abs 13 BEinstG ist die Konzernbehindertenvertrauensperson (und deren Stellvertreter) aus dem Kreis der Zentralbehindertenvertrauenspersonen und deren Stellvertretern zu wählen. Der Gesetzgeber geht daher davon aus, dass die Behindertenvertrauensperson (bzw deren Stellvertreter) neben dieser Funktion auch die Funktion der Zentralbehindertenvertrauensperson bzw der Konzernbehindertenvertrauensperson mitausübt. Es gehört daher – worauf der Revisionswerber zutreffend hinweist – zu den Obliegenheiten der Behindertenvertrauensperson, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen die Tätigkeit als Zentralbehindertenvertrauensperson oder als Konzernbehindertenvertrauensperson231 neben ihrer Funktion als Behindertenvertrauensperson mitauszuüben. Damit vergleichbar zählt auch nach dem Arbeitsverfassungsgesetz die gem § 38 ArbVG iS einer umfassenden Interessenwahrnehmungspflicht (Gahleitner in

Cerny/ Gahleitner/Preiss/Schneller
, ArbVG II4 § 38, 319) zu verstehende Vertretung von AN-Interessen im ZBR oder in der Konzernvertretung zu den Obliegenheiten eines entsprechend den Vorschriften (vgl §§ 81 Abs 1, 88a Abs 6 ArbVG) in diese überbetrieblichen Belegschaftsorgane gewählten bzw entsendeten BRMitglieds (Floretta in
Floretta/Strasser
, ArbVG-Handkommentar 781).

3.2 Die Bestimmungen der §§ 115-122 ArbVG gelten für Betriebsratsmitglieder unabhängig von ihrer Funktion innerhalb des BR und unabhängig davon, in welchem Organ (zB ZBR, Konzernvertretung) sie tätig werden (Mosler in ZellKomm2 § 115 ArbVG Rz 4). Daher greift die Argumentation des Berufungsgerichts, § 22a Abs 10 BEinstG beziehe sich nur auf die Behindertenvertrauensperson, für die Konzernbehindertenvertrauensperson fehle in § 22a Abs 13 und 14 BEinstG eine vergleichbare Regelung, zu kurz: Auch im II. Teil des ArbVG sind die Ansprüche auf Freizeitgewährung und Freistellung im 4. Hauptstück über die Rechtsstellung der Mitglieder des BR geregelt und nicht in den Bestimmungen über den ZBR (§§ 80 ff ArbVG) oder die Konzernvertretung (§§ 88a, 88b ArbVG) enthalten.

3.3 Daraus folgt als Zwischenergebnis, dass einer Behindertenvertrauensperson dann, wenn sie eine weitere Funktion als Zentralbehindertenvertrauensperson oder – wie der Kl – als Konzernbehindertenvertrauensperson zu erfüllen hat, auch für die Erfüllung der daraus resultierenden zusätzlichen Obliegenheiten (§ 22a Abs 13 BEinstG) in sinngemäßer Anwendung des § 116 ArbVG die erforderliche Freizeit unter Fortzahlung des Entgelts einzuräumen ist (Floretta, aaO 781; vgl auch § 32 BRGO 1974) bzw ihr in sinngemäßer Anwendung des § 117 Abs 5 ArbVG ein Anspruch auf Freistellung grundsätzlich zukommen kann.

4.1 Die Bekl hat bereits im Verfahren erster Instanz nicht nur die grundsätzliche Anwendbarkeit, sondern auch das Vorliegen der formellen und materiellen Voraussetzungen des sinngemäß anzuwendenden § 117 Abs 5 ArbVG bestritten, sodass darauf näher einzugehen ist.

4.2 Zu den formellen Voraussetzungen:

4.2.1 Das Verfahren gem § 117 Abs 5 ArbVG ist zweistufig geregelt (näher Resch in

Strasser/Jabornegg/ Resch
, ArbVG § 117 Rz 85): In einem ersten Schritt ist der Beschluss der Konzernvertretung, dass ein in der Konzernvertretung vertretener BR (ZBR) für eines seiner Mitglieder die Freistellung von der Arbeitsleistung unter Fortzahlung des Entgelts in Anspruch nehmen kann, dem Betriebsinhaber schriftlich mitzuteilen, in dessen Betrieb das freizustellende Betriebsratsmitglied beschäftigt ist. In einem zweiten Schritt ist ein Freistellungsantrag dieses BR (ZBR) an den Betriebsinhaber erforderlich, der auch der Konzernleitung bekanntzugeben ist (vgl auch § 32a Abs 3 BRGO 1974). Die Freistellung wird wirksam, wenn die – noch näher zu erörternden – sonstigen Voraussetzungen des § 117 Abs 5 ArbVG vorliegen und der Antrag gestellt wird (§ 32a Abs 1 BRGO 1974; Floretta, aaO 791; Resch, aaO § 117 ArbVG Rz 85, 86 und 25 mwH).

4.2.2 Die Organe der Behindertenvertretung sind gem § 22a BEinstG die Behindertenvertrauensperson, die Zentralbehindertenvertrauensperson und die Konzernbehindertenvertrauensperson bzw deren Stellvertreter. Die Behindertenvertretung nach dem BEinstG ist (vergleichbar der Jugendvertretung, §§ 123 ff ArbVG) als zusätzliche Vertretung neben dem BR eingerichtet (Risak in

Mazal/Risak
, Arbeitsrecht III Rz 138). Da § 117 Abs 5 ArbVG gem § 22a Abs 10 BEinstG (nur) sinngemäß anzuwenden ist, hat daher die Fassung des Freistellungsbeschlusses auf Konzernebene durch die Konzernbehindertenvertrauensperson zu erfolgen. Dieser Beschluss wurde nach den Feststellungen durch den Kl gefasst.

4.2.3 Der im § 117 Abs 5 ArbVG vorgesehene Freistellungsantrag ist in sinngemäßer Anwendung dieser Bestimmung gem § 22a Abs 10 BEinstG von der Behindertenvertrauensperson als auf betrieblicher Ebene zuständiges Vertretungsorgan der begünstigten Behinderten zu stellen. Dieser Antrag wurde vom Kl – der wie ausgeführt unstrittig auch Behindertenvertrauensperson im Betrieb der Bekl ist – an die Bekl gestellt und von dieser abgelehnt. Nach den dargelegten Grundsätzen wird die Freistellung – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – bereits wirksam, wenn sie die Behindertenvertrauensperson beantragt, weil das Recht auf Freistellung der Belegschaftsvertretung zusteht (9 ObA 133/12t), die durch die Erklärung, es in Anspruch zu nehmen, ein einseitiges Gestaltungsrecht ausübt, das eine Verpflichtung des Betriebsinhabers zum Vollzug auslöst (VwGHGZ 0761/71 = Arb 9060 zur Vorgängerbestimmung des § 16 Abs 4 BRG 1947; vgl dazu Resch, aaO § 117 Rz 5 ff; 25; Winkler in

Tomandl
, ArbVG § 117 Rz 3). Daher ist für das Entstehen des Rechts auch gem § 117 Abs 5 letzter Satz ArbVG – bzw wie hier in dessen sinngemäßer Anwendung – neben der Beschlussfassung die Antragstellung an den Betriebsinhaber maßgeblich, die hier unstrittig erfolgt ist. Auf die vom Gesetz vorgesehene Verständigung der Konzernleitung von Freistellungsbeschluss und -antrag (vgl § 117 Abs 5 letzter Satz ArbVG; § 32a Abs 3 Satz 2 BRGO 1974) kommt es entgegen dem Vorbringen der Bekl für die Beurteilung dieser Frage nicht an, weil die gesetzliche Verpflichtung zur Freistellung des betroffenen Belegschaftsmitglieds den Betriebsinhaber und nicht die Konzernleitung trifft.

Zusammenfassend sind daher die formellen Voraussetzungen zur Durchsetzung des vom Kl hier geltend gemachten Freistellungsanspruchs erfüllt.

4.3 Zu den materiellen Voraussetzungen:

4.3.1 Zutreffend hat die Bekl bereits im Verfahren erster Instanz darauf hingewiesen, dass der Freistellungsanspruch des § 117 Abs 5 ArbVG nur subsidiär zum Tragen kommt, denn dieser Anspruch besteht nur dann, wenn nicht bereits eine Freistellung von Mitgliedern des BR (bzw des ZBR) gem § 117 Abs 1 bis 3 ArbVG möglich ist. Der Kl hat dazu vorgebracht, dass eine Freistellung einer Behindertenvertrauensperson im Konzern, dem die Bekl angehört, nicht erfolgt sei. Dem hat die Bekl bereits im Verfahren erster Instanz232 ua entgegengehalten, dass eine Zentralbehindertenvertretung bestehe, die einen Freistellungsanspruch in sinngemäßer Anwendung des § 117 Abs 3 ArbVG geltend machen könnte. Dazu haben die Vorinstanzen jedoch infolge ihres vom OGH nicht geteilten Rechtsstandpunkts bisher keine Feststellungen getroffen, sodass das Verfahren über den geltend gemachten Hauptanspruch auf Freistellung ergänzungsbedürftig ist.

4.3.2 Sind in Betrieben eines Unternehmens, in denen eine Freistellung von Betriebsratsmitgliedern gem § 117 Abs 1 und 2 ArbVG nicht möglich ist, mehr als 400 AN beschäftigt, so ist gem § 117 Abs 3 ArbVG auf Antrag des ZBR ein Mitglied desselben unter Fortzahlung des Entgelts von der Arbeitsleistung freizustellen. Im fortzusetzenden Verfahren wird zu prüfen sein, ob die hier sinngemäß anzuwendenden Voraussetzungen dieser Bestimmung vorliegen.

Nur in dem Fall, in dem eine Freistellung einer (Zentral-)Behindertenvertrauensperson in sinngemäßer Anwendung des § 117 Abs 1 bis 3 ArbVG danach nicht möglich ist, besteht der geltend gemachte Freistellungsanspruch zu Recht, weil die dafür erforderliche Schlüsselzahl von mehr als 400 beschäftigten begünstigten Behinderten im Konzern, dem die Bekl angehört, unstrittig erfüllt ist. Anders als der Anspruch auf Freizeitgewährung gem § 116 ArbVG ist der Freistellungsanspruch gem § 117 ArbVG nicht von der individuellen Erforderlichkeit der Arbeitsversäumnis für betriebsrätliche Tätigkeiten abhängig (Floretta, aaO 788 f), sodass es für die Beurteilung des Hauptbegehrens nicht auf die von der Bekl behauptete „weitreichende“ Gewährung von Freizeit für den Kl im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als BR und als Behindertenvertrauensperson ankommt. Der Gesetzgeber stellt bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 117 ArbVG die unwiderlegbare Vermutung auf, dass bei einer so großen Zahl von AN die Aufgaben bei der Vertretung der Belegschaftsinteressen die gesamte Arbeitszeit in Anspruch nehmen (Floretta, aaO 789; 9 ObA 133/12t; 8 ObA 20/08mmwH). Daher kommt es auch bei sinngemäßer Anwendung des § 117 Abs 5 ArbVG für die Beurteilung des Freistellungsanspruchs nicht auf den vom Berufungsgericht thematisierten Umstand an, dass die Tätigkeit der Konzernbehindertenvertrauensperson gem § 22a Abs 13 BEinstG „nur“ die Vertretung der Behinderteninteressen innerhalb der Konzernvertretung umfasst.

5. Da sich somit das Verfahren in der E über das Hauptbegehren als ergänzungsbedürftig erweist, war der Revision Folge zu geben und die Rechtssache zur ergänzenden Erörterung und neuerlichen E an das Erstgericht zurückzuverweisen. Da über das Eventualbegehren nur im Fall der Erfolglosigkeit des Hauptbegehrens zu entscheiden ist, ist darauf hier nicht weiter einzugehen (RIS-Justiz RS0037675 ua). [...]

Anmerkung

Das letzte Wort ist im vorliegenden, außergewöhnlichen Fall (im Konzern sind mehr als 400 begünstigte behinderte AN iSv § 2 BEinstG beschäftigt) noch nicht gesprochen. In seinem Zwischenergebnis, dem Zurückverweisungsbeschluss, ist dem OGH jedoch uneingeschränkt zuzustimmen. Auch wenn es manchen „materiell“ betrachtet, in Ansehung der geringen Mitbestimmungsbefugnisse und Aufgaben der Konzernbehindertenvertrauensperson, unbillig erscheinen mag: in claris non fit interpretatio. Die verfehlten teleologischen Reduktionen der Unterinstanzen waren in diesem Sinn wohl „materiell“ beeinflusst gewesen.

Als vorbildlich ist die Gliederung der rechtlichen Beurteilung in formelle und materielle Anspruchsvoraussetzungen zu bezeichnen. Die in letzter Zeit zu beobachtende Nummerierung bzw ziffernmäßige Gliederung der Entscheidungsgründe scheint jedoch entbehrlich zu sein. Denn im Gegensatz etwa zu jenen des EuGH, der sich seit langem dieser Enumerationstechnik bedient, mangelte es schon bisher den rechtlichen Beurteilungen des OGH nicht an Klarheit, Systematik und Schlüssigkeit in der Argumentationsabfolge.

Im vorliegenden Zusammenhang ist die in den Entscheidungsgründen erwähnte – höchstwahrscheinlich zum gleichen Konzern ergangene – E des OGH vom 29.6.2009, 9 ObA 41/08g (Unanfechtbarkeit einer Zentralbehindertenvertrauensperson-Wahl, Nichtigkeitsfeststellungsklage nach den allgemeinen Feststellungsinteressegrundsätzen des § 228 ZPO hingegen zulässig) absolut lesenswert. Das Höchstgericht setzt sich darin eingehend mit der historischen Entwicklung des § 22a BEinstG auseinander und erörtert die sachliche Rechtfertigung der unterschiedlichen gesetzlichen „Ausstattung“ von Sondervertretungen wie Jugendvertrauensrat und Behinderten-, Zentralbehinderten- und Konzernbehindertenvertrauensperson gegenüber dem Basisvertretungsmodell BR/ZBR/ Konzernvertretrung. Im Gegensatz zum Ergebnis dieser E, zu Kompetenzen und Wahlanfechtungsmöglichkeiten nämlich, werden jedoch im vorliegenden Fall hinsichtlich der persönlichen Rechtsstellung der MandatarInnen keine Abstriche gemacht. Das ordnet der Gesetzgeber mittels uneingeschränktem, aber undeutlich formuliertem Verweis an.

1.
Wortlaut des § 22a BEinstG und Systematik der verwiesenen Rechtsnorm: Die Tücken des Wörtchens „sinngemäß“

Aus § 22a Abs 11 und Abs 13 BEinstG ergibt sich, dass nur Mitglieder der Organe auf Betriebs- und auf Unternehmensebene zu Mitgliedern der „Konzernbehindertenvertretung“, also die Konzernbehindertenvertrauensperson bzw ihr Stellvertreter, gewählt werden können; auch das ist eine Parallelität des Organisationsrechts von BEinstG und ArbVG. Der Kl des gegenständlichen Verfahrens hatte daher gleichzeitig (mindestens) vier relevante Funktionen inne: Betriebsratsmitglied (siehe Satz 2 der rechtlichen Beurteilung) und Behindertenvertrauensperson in „seinem“ Betrieb, Zentralbehindertenvertrauensperson und Konzernbehindertenvertrauensperson. Aus welchem Grund auch immer, in seiner letztgenannten Funktion berufen sich er und auch sein Stellvertreter (dh „die Konzernbehindertenvertretung“) auf den Freistellungsanspruch, was – wie immer man darüber „mitbestimmungspolitisch“ denkt – unter dem geltenden Recht jedenfalls zulässig ist. Dem Verpflichteten – dieser ist sowohl233 gem § 22a BEinstG als auch gem §§ 115-117 ArbVG stets der Betriebsinhaber und nie das Unternehmen oder gar der Konzern – stehen keine materiell- oder formalrechtlichen Einwände zu.

Wenden wir uns dem die Unterinstanzen verwirrenden Wortlaut des § 22a Abs 10 BEinstG zu. Dieser nimmt tatsächlich nur auf die Behindertenvertrauensperson (und Stellvertreter) Bezug und erwähnt die „übergeordneten Organe“ mit keinem Wort. Die Crux des Problems lag also darin zu deuten, ob die materiell und formell Berechtigten (Personen, Organe) in der Verweisungsnorm enthalten sein müssen, oder ob sie sich (bloß? auch?) aus der verwiesenen Norm – hier also aus § 117 ArbVG – ergeben können. Regelmäßig bedient sich der Gesetzgeber, oder genauer „die Legistik“ als zumeist ministeriell geleitete Formulierungsinstanz, einer Rechtssatz-Textierung des Adjektivs „sinngemäß“. Das geschieht zumeist wohl zwecks folgender Vereinfachung und Textlesbarkeit: Es soll ein bereits andernorts vorhandener Tatbestand (der verwiesene Normtatbestand) zu jenem der nun neu geschaffenen Rechtsnorm erklärt werden, allerdings mit der dem Rechtsanwender/Normunterworfenen aufgetragenen gedanklichen Modifikation des „Einpassens“ in den neuen Regelungskontext. Das kann, wie hier, zu Unsicherheiten Anlass geben. Die vom Bundeskanzleramt herausgegebenen Legistischen Richtlinien 1990 unterstreichen das sogar (im Wortsinne! siehe RL 1990/54 unter http://www.bka.gv.at/site/3513/ default.aspx?wai=true) und empfehlen die Formulierung „nach/mit der Maßgabe“. Auch Schönherr (Sprache und Recht[1985] 14 f) wendet sich gegen das ähnlich verwendete „im Sinne von“ und empfiehlt stattdessen die Anführung jener Rechtsnormen, die gemäß der Verweisung gelten sollen, in Klammer.

Das Online-Wörterbuch Wiktionary ist zu entnehmen, dass die im allgemeinen Sprachgebrauch zumeist attributiv verwendete Bedeutung des Adjektivs „sinngemäß“ folgenden Informationsgehalt hat: „die Bedeutung einer Äußerung wiedergebend, nicht die Äußerung selbst“ oder „den wesentlichen Gehalt wiedergebend“. Ein ganz anderes „sinngemäß“ also, als die von den Legistischen Richtlinien verpönte, vom Gesetzgeber aber (ehemals?) so geliebte Verweisungsformulierung. Dass die §§ 115 bis 122 ArbVG sowie einschlägige landarbeitsrechtliche Vorschriften für die Individualorgane des § 22a BEinstG gelten sollen, hätte der Gesetzgeber durch Weglassen des gegenständlichen Adjektivs klarer ausdrücken können.

Der OGH löst die Sprachverwirrung hier jedenfalls recht pragmatisch und (sprach)logisch auf, und zwar mit den Worten „... da § 22a Abs 10 BEinstG die sinngemäße Anwendung der Bestimmung des § 117 ArbVG ohne weitere Einschränkung vorschreibt, ist ein Anspruch auf Freistellung nicht nur gemäß § 117 Abs 1 ArbVG zu beurteilen, sondern auch gemäß den weiteren Absätzen dieser Bestimmung ...“.

2.
Zum Subsidiaritätsverhältnis von § 117 Abs 5 ArbVG gegenüber Abs 1 bis 3 leg cit

Die Erstinstanz wird nun zu klären haben, ob nicht doch eine Freistellung von Behindertenvertrauensperson oder Zentralbehindertenvertrauensperson in Anwendung der Abs 1 bis 3 des § 117 ArbVG rechnerisch möglich ist (Betriebe bzw Unternehmen mit gesamt mehr als 150 bzw 400 begünstigt behinderten AN). Ganz klar wird die Rechtslage nach diesen Feststellungen aber auch nicht sein, denn zum subsidiären Anspruch von Konzernvertretung und ZBR (hier: Konzernbehindertenvertrauensperson und Zentralbehindertenvertrauensperson) bestehen Divergenzen im Schrifttum und es existiert keine höchstgerichtliche Judikatur.

Grund dafür ist zum einen, dass im BEinstG ebenso wie im ArbVG die konzernweit zuständige Vertretungseinrichtung gewissermaßen schwächer konstruiert ist als das Organ bzw die Vertretungspersonen ([Zentral]Behindertenvertrauensperson und Stellvertreter) auf Unternehmens- und Betriebsebene. Dies zeigt sich vor allem darin, dass konzernweit nur fakultativ errichtet (gewählt) werden kann, während ZBR sowie Zentralbehindertenvertrauensperson und Stellvertreter ebenso obligatorische Vertretungen sind wie BR und Behindertenvertrauensperson (und Stellvertreter). Zum anderen zeigt es sich im Vergleich der Formulierungen von Abs 3 und Abs 5 (gleichwie dieser: Abs 1) des § 117 ArbVG: BR und ZBR, Behindertenvertrauensperson und Zentralbehindertenvertrauensperson (inklusive Stellvertreter) können für „ein Mitglied desselben [derselben]“ die Freistellung beschließen und beantragen. Die Konzernvertretung bzw die Konzernbehindertenvertrauensperson (und Stellvertreter) können hingegen nur ein Mitglied der „Basisebene“, also ein Betriebsratsmitglied über das Organ (BR oder ZBR; siehe § 117 Abs 5 Satz 1 letzter Halbsatz ArbVG) oder hier eben modifiziert über die Individualorgane Behindertenvertrauensperson (Stellvertreter) oder Zentralbehindertenvertrauensperson (Stellvertreter) freizustellen beantragen. Dementsprechend bedarf es eines Beschlusses auf Konzernvertretungsebene bzw Konzernbehindertenvertrauensperson-( Stellvertreter-)Ebene sowie eines Freistellungsantrags des BR/ZBR bzw der Behindertenvertrauensperson/ Zentralbehindertenvertrauensperson (Stellvertreter).

Warum die Organqualität auf Konzernebene gegenüber jener auf Betriebs- und Unternehmensebene abgeschwächt ist, ist wohl nur historisch unter Berücksichtigung der Sozialpartnereinigungen nachzuvollziehen, die den Novellen BGBl 1986/394(Einführung der Arbeitsgemeinschaft von Betriebsräten im Konzern) und BGBl 1993/460zugrunde lagen. Fakt ist, dass in einigen Konzernen die Betriebsräte und Zentralbetriebsräte von der Errichtung einer Konzernvertretung mehrheitlich Abstand nehmen, weil anders als im ZBR keine ausgeklügelte Stimmgewichtung die Zusammensetzung des Organs bestimmt, um die betriebsdemokratischen Stimmverhältnisse der Wahlvorschläge (gewählten Listen) abzubilden. Zudem ist die Äquivalenz von repräsentierten AN und Mandaten nur äußerst grob gegeben (vgl demgegenüber beim BR die degressive Staffelung in § 50 Abs 1 ArbVG): Ein Unternehmen mit 490 AN wird ebenso von zwei Mandataren repräsentiert wie eines mit 20 AN; eines mit 990 AN hat bloß drei Mandate usw (§ 88a Abs 6 ArbVG).234

2.1.
Voraussetzungen für das subsidiäre Freistellungsrecht

Die Hauptproblematik, auch für den vorliegenden Fall, liegt nun darin, dass höchstgerichtliche Judikatur zu zwei Voraussetzungen für das subsidiäre Freistellungsrecht von Zentralbetriebsräten (subsidiär gegenüber Betriebsräten) und Konzernvertretung (subsidiär gegenüber ZBR und BR) fehlt:

  • Ist „eine Freistellung ... nicht möglich“ so zu verstehen, dass gar keine Freistellung (mehr als 150 AN in einem Betrieb) möglich ist, oder sind „Restgrößen zu summieren und bei Überschreitung von 400 kommt es zu einem zusätzlichen Freistellungsanspruch“?

  • Sind alle AN aus „nicht freistellungsfähigen“ Betrieben für die Schwellenzahl 400 heranzuziehen oder nur AN aus Betrieben, in denen ein BR existiert?

Nähere Überlegungen zu diesen Fragen können an dieser Stelle nicht angestellt werden. Der Wortlaut des § 117 ArbVG spricht mE für das „Plus“, also für zusätzliche Freistellungen, sobald – unter Subtraktion der AN von Betrieben mit freigestellten Mandataren – mehr als 400 AN im Unternehmen bzw Konzern von Betriebsräten vertreten werden, die keinen Freistellungsanspruch haben. Dass diese AN einen BR tatsächlich gewählt haben, setzt das Gesetz mit keinem Wort voraus. Zum Diskurs siehe mwN des Schrifttums Resch in

Strasser/Jabornegg/Resch
, ArbVG § 117 Rz 80-83. Bedauerlicherweise geht der OGH im vorliegenden, „sinngemäß“ gleichen Fall auf diese Fragen nicht näher ein. Wie die Erstinstanz entschieden hat und ob der dieser E zugrunde liegende Konflikt bereits gelöst ist, ist nicht bekannt.