40 Jahre Arbeitsverfassungsgesetz*

JOSEFCERNY (WIEN)
Die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen hängt zu einem wesentlichen Teil von den gesetzlichen Rahmenbedingungen ab. In Österreich sind diese seit nunmehr 40 Jahren in einem Gesetz geregelt, das – obwohl es kein Verfassungsgesetz ist, sondern nur im Rang eines einfachen Gesetzes steht – als „Grundgesetz der Arbeit“ bezeichnet wird. Das ArbVG wurde am 14.12.1973 vom Nationalrat beschlossen und ist am 1.7.1974 in Kraft getreten.Im vorliegenden Beitrag wird versucht, die Entstehungsgeschichte des ArbVG in Erinnerung zu rufen, das gesellschaftliche, soziale, politische und ökonomische Umfeld des Zustandekommens zu skizzieren, das inhaltliche Konzept des ArbVG in den Grundzügen darzustellen und die Entwicklung des Arbeitsverfassungsrechts in den letzten 40 Jahren kritisch zu beleuchten. Ein kurzer Ausblick in die Zukunft geht von einem erheblichen Reformbedarf aus.

Übersicht

  1. Entstehungsgeschichte des ArbVG

  2. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

  3. Politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in Österreich

    1. SPÖ-Alleinregierung

    2. Blütezeit der Sozialpartnerschaft

    3. Starke Arbeitnehmervertretungen

    4. Verstaatlichte Unternehmen

    5. Hochkonjunktur

  4. Demokratisierung als politisches Ziel

  5. Das Grundkonzyept des ArbVG

  6. Weitere Entwicklung

  7. Reformbedarf

1.
Entstehungsgeschichte des ArbVG

Die Vorgeschichte des ArbVG* hängt eng mit den Bemühungen um eine Kodifikation des österreichischen Arbeitsrechts zusammen.* Anfang der 1960er-Jahre versuchte der damalige Sozialminister Anton Proksch, die jahrzehntelange Forderung des ÖGB nach einer Zusammenfassung, Vereinheitlichung und Reform des österreichischen Arbeitsrechts zu realisieren, indem er zwei seiner Beamten, Oswin Martinek und Walter Schwarz, beide hervorragende Juristen und Pioniere der damals sich erst entwickelnden Arbeitsrechtswissenschaft, mit der Erstellung der legistischen Grundlagen für einen Arbeitsrechtskodex beauftragte. Der I. Teilentwurf, betreffend das Individualarbeits478recht, wurde 1960 der Öffentlichkeit vorgelegt, der II., das kollektive Arbeitsrecht* betreffend und damit das Arbeitsverfassungsrecht, zwei Jahre später. Die beiden Teilentwürfe fanden zwar wegen ihrer legistischen Qualität in der Fachwelt Beachtung und Anerkennung, ihre politische Realisierung scheiterte aber am heftigen Widerstand der AG-Verbände und am mangelnden Konsens innerhalb der Koalitionsregierung.

Nach einigen Jahren des Stillstands kamen die Arbeiten an einer Kodifikation 1967 durch eine parlamentarische Entschließung zur Einsetzung einer Kodifikationskommission, bestehend aus Vertretern der Wissenschaft, der Ministerien sowie der AG- und der AN-Verbände, wieder in Gang. Unter der Sozialministerin Grete Rehor, einer engagierten Christgewerkschafterin, begann die Kommission ihre Beratungen über die kollektive Rechtsgestaltung, insb auch über deren verfassungsrechtliche Grundlagen. Es stellte sich aber bald heraus, dass zwischen den Normen über die kollektive Rechtsgestaltung und jenen über die Betriebsverfassung, etwa beim Fragenkomplex BV, ein so enger Zusammenhang besteht, dass eine weitere Diskussion ohne Einbeziehung des Betriebsverfassungsrechts nicht sinnvoll erschien. Ab dem Jahr 1970 dehnte deshalb die Kommission ihre Beratungen auf das gesamte Arbeitsverfassungsrecht aus.

Inzwischen hatten sich die politischen Verhältnisse in Österreich grundlegend geändert (Näheres siehe unten 3.). Der ÖVP-Alleinregierung Klaus folgte 1970 zunächst eine SPÖ-Minderheitsregierung und danach ab 1971 eine SPÖ-Alleinregierung unter Kanzler Bruno Kreisky, Vizekanzler und Sozialminister war ab 1970 der Vizepräsident des ÖGB Rudolf Häuser. Auf die Arbeit der Kodifikationskommission hatte diese Änderung der politischen Verhältnisse zunächst keinen Einfluss: Die Kommission* setzte ihre Beratungen über das Arbeitsverfassungsrecht fort, an einige Wissenschaftler wurden Gutachten und „Kontrastentwürfe“ in Auftrag gegeben.*

Neben den Beratungen der Kodifikationskommission setzte Häuser als Sozialminister in den Jahren 1971 und 1972 konkrete Gesetzesinitiativen auf dem Gebiet des Betriebsverfassungsrechts, die später auch in das ArbVG Eingang fanden: 1971 wurde das Betriebsrätegesetz umfassend novelliert, und 1972 beschloss das Parlament ein Jugendvertrauensrätegesetz, mit dem erstmals in Österreich die Jugendvertretung in den Betrieben ein gesetzliches Mitspracherecht erhielt.

Die Beratungsergebnisse der Kodifikationskommission, die Experten-Entwürfe, das vom 7. Bundeskongress (1971) beschlossene Mitbestimmungsprogramm des ÖGB und die zwischenzeitlich erfolgten Änderungen des Betriebsverfassungsrechts bildeten die Grundlage für den Entwurf eines neuen ArbVG, der im Dezember 1972 vom Sozialministerium zur Begutachtung vorgelegt wurde.* Er folgte weitestgehend, vor allem was die dogmatischen Grundlagen des Arbeitsverfassungsrechts und die Gesetzessystematik betrifft, den Empfehlungen der Kodifikationskommission. Nur in einigen Punkten, bei denen sich in der Kommission keine Mehrheitsmeinung gebildet hatte, brachte der Ministerialentwurf Änderungen bzw Ergänzungen. Diese betrafen vor allem Bestimmungen über die rechtliche Verbindung zwischen betrieblicher und überbetrieblicher Interessenvertretung der AN und punktuelle Erweiterungen der Mitwirkungsrechte.*

Trotz der langen und gründlichen Vorarbeiten, an denen auch Vertreter der AG-Verbände – wenn auch nicht immer zustimmend – mitgewirkt hatten, stieß der „Häuser-Entwurf“ auf deren heftigen, zum Teil überaus aggressiven Widerstand.*

In dieser politisch heiklen, durch die Medienberichterstattung weiter aufgeheizten Situation traten erstmals in der Entstehungsgeschichte des ArbVG die Sozialpartner (mit)entscheidend auf den Plan: Ein „Präsidentengipfel“ der AG- und der AN-Verbände sollte die Diskussion versachlichen und den Konflikt beilegen. Es wurde beschlossen, einen Verhandlungsausschuss einzusetzen, der die Konsensmöglichkeiten ausloten sollte. Obwohl die Regierung im Parlament über eine Mehrheit verfügt hätte, um ein Gesetz nach den Vorstellungen des Sozialministers zu beschließen, erklärte sich Sozialminister Häuser bereit, eine allfällige Einigung der Sozialpartner anzuerkennen.

Damit waren die Weichen für jene Sozialpartnerverhandlungen gestellt, die auch heute noch mit der Entstehungsgeschichte des ArbVG prägend in Verbindung gebracht werden (zur Rolle der Sozialpartner siehe später unter 3.2). In zahlreichen, schwierigen, intensiven, bis ins Detail gehenden Verhandlungsrunden gelang es dem Verhandlungskomitee, über die meisten offenen Fragen Einvernehmen – häufig in Kompromissform – zu erzielen. Einige interessenpolitisch besonders heikle Punkte konnten in einem weiteren Präsidentengespräch im November 1973 einvernehmlich geklärt werden. Die Ergebnisse der Sozialpartnerverhandlungen wurden in (weit479 über hundert) Abänderungsanträgen zu der bereits im Juni 1973 dem Nationalrat zugeleiteten RV* vom Sozialausschuss des NR in einer einzigen Sitzung beschlossen und in den Gesetzestext eingearbeitet. Das ArbVG wurde schließlich am 14.12.1973 vom NR einstimmig beschlossen* und ist am 1.7.1974 in Kraft getreten.

2.
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Die 1960er- und 70er-Jahre sind geprägt von den größten gesellschaftlichen Veränderungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Eine neue Generation, repräsentiert vor allem in der Studentenbewegung, versuchte, die Mauern der Nachkriegsgesellschaft niederzureißen. Ihr Protest und Kampf richtete sich gegen Autoritäten, insb im Bildungs- und Erziehungsbereich, gegen patriarchalische Strukturen in der Familie und im Verhältnis der Geschlechter, gegen Rassismus, Faschismus, Kapitalismus und Kriegstreiberei. Ziel war es, die traditionellen Schranken zu überwinden und einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Die Welt sollte freier und gerechter werden.

Zum Symbol des Wunsches nach Veränderung wurden das Jahr 1968 und die nach diesem Jahr benannte „68er-Bewegung“. Darunter ist eine Vielzahl von, in ihren Zielen und Aktionen durchaus heterogenen, Protestbewegungen zu verstehen, an deren Spitze in erster Linie StudentInnen standen. In den USA waren es vor allem Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg sowie Bürgerrechts- und Anti-Rassismus- Bewegungen als Folge der Ermordung von Martin Luther King, in Europa Studentenproteste und -demonstrationen, wobei es, zB in Frankreich, teilweise auch zur Solidarisierung mit der Arbeiterbewegung kam. Zentren des Studentenprotests waren vor allem Paris („Mai 1968“), Berlin und Frankfurt, wo die „Frankfurter Schule“ die theoretischen Grundlagen für die Protestbewegung lieferte.

Dramatische Ereignisse erschütterten die Welt und bewirkten einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel: Der Vietnamkrieg; die Kulturrevolution in China; die Revolution in Kuba und der Tod von Che Guevara; die Ermordung von Martin Luther King; der „Prager Frühling“ und dessen brutale Niederschlagung durch die Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten; die Selbstverbrennung von Jan Paluchauf dem Prager Wenzelsplatz; Generalstreiks in Frankreich und Italien; Ausnahmezustand in Spanien etc.

Die gesellschaftlichen Veränderungen der 1960er- und 70er-Jahre fanden auch Ausdruck in der entstehenden und erstarkenden Frauenbewegung, in der Jugendbewegung mit einer eigenen, spezifischen Jugendkultur (Musik, Kleidung, Lebensformen) und in anderen neuen sozialen Bewegungen, die eine Reform der gesellschaftlichen Normen unabhängig vom etablierten Parteien- und Institutionensystem umsetzen wollten.

Insgesamt waren also die Jahre rund um das Entstehen des ArbVG eine weltweit sehr bewegte und unruhige Zeit, eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und Aufbruchs.

3.
Politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in Österreich

In Österreich war die Studentenbewegung im Vergleich zu Frankreich und Deutschland relativ schwach („Mai-Lüfterl“). Zwar kam es auch hier zu Solidaritätskundgebungen nach dem Attentat auf den deutschen Studentenführer Rudi Dutschke zu Störaktionen bei der Maifeier auf dem Wiener Rathausplatz und zur Besetzung der Universität Wien im Mai 1968, die politische Sprengkraft der Bewegung war aber vergleichsweise gering.*

Unabhängig davon fand aber in den 1960er- und 70er-Jahren eine grundlegende Änderung des politischen Systems in Österreich statt. Seit 1945 hatte es ausschließlich Koalitionsregierungen von ÖVP und SPÖ, jeweils unter Führung eines ÖVP-Kanzlers, gegeben. Bei der Nationalratswahl am 6.3.1966 erreichte die ÖVP mit 48,35 % der Stimmen und 85 (von damals 165) Sitzen im Nationalrat die absolute Mehrheit, und Kanzler Josef Klaus konnte nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen mit der SPÖ erstmals in der Zweiten Republik eine Einparteienregierung bilden. Während der ÖVP-Alleinregierung begannen auch die Arbeiten der 1967 unter Sozialministerin Grete Rehor eingesetzten Kodifikationskommission (siehe oben 1.).

Hatte man die Beendigung der Großen Koalition und die Bildung einer Alleinregierung zunächst eher als „Betriebsunfall“ im österreichischen politischen System eingeschätzt,* stellte sich bald heraus, dass damit eine neue Periode wechselnder Regierungsformen und -zusammensetzung begonnen hatte.

3.1.
SPÖ-Alleinregierung

Gestützt auf umfangreiche programmatische Vorarbeiten „Für ein modernes Österreich“ (unter Mitwirkung von Kreiskys legendären „1400 Experten“) wurde bei der nächsten Nationalratswahl am 1.3.1970 (und deren Wiederholung am 4.10.1970 in drei Wiener Wahlkreisen aufgrund eines Urteils des VfGH) die SPÖ mit 48,4 % der Stimmen stärkste Partei, erreichte aber mit 81 Mandaten keine absolute Mehrheit im Nationalrat. Da auch dieses Mal die Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP scheiterten, bildete Bruno Kreisky als Kanzler mit Unterstützung der FPÖ aufgrund der Zusage einer Wahlrechtsreform die erste und bisher einzige Minderheitsregierung der Zweiten Republik.

Bereits im Juli 1971 stellte die SPÖ im Nationalrat einen Antrag auf vorzeitige Beendigung der Legislaturperiode, der von der FPÖ unterstützt wurde. Bei der daraufhin durchgeführten Neuwahl am 10.10.1971 erreichte die SPÖ mit knapp über 50 % der Stimmen und 93 der durch die Wahlrechtsreform auf 183 erhöhten Mandate die absolute Mehrheit. Bruno Kreisky konnte erstmals eine sozialdemokratische Alleinregierung bilden, die auch im Parlament nicht mehr480 auf die Unterstützung durch eine andere Partei angewiesen war.

Sozialminister wurde wieder Rudolf Häuser, der auch zugleich – wie schon im Kabinett Kreisky I – die Funktion des Vizekanzlers ausübte. Da er weiterhin Vorsitzender der Angestelltengewerkschaft und Vizepräsident des ÖGB blieb, hatten die AN-Interessen innerhalb der Bundesregierung und in deren Politik besonderes Gewicht.*Häuser setzte dieses Gewicht ua dazu ein, die Arbeiten am Entwurf eines neuen ArbVG zu beschleunigen und der Öffentlichkeit einen Gesetzentwurf vorzulegen, der (auch) die Beschlüsse des 7. ÖGB-Bundeskongresses realisieren sollte (siehe oben 1.).

3.2.
Blütezeit der Sozialpartnerschaft

Obwohl die SPÖ aufgrund ihrer parlamentarischen Mehrheit die Möglichkeit gehabt hätte, einfache Gesetze allein zu beschließen, wurde das bewährte Modell der Sozialpartnerschaft auch während der Zeit der Alleinregierung nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Bundeskanzler Kreisky erklärte unmittelbar nach dem Regierungsantritt seine Bereitschaft zur Fortsetzung der Sozialpartnerschaft.

In den 1960er-Jahren bis etwa Mitte der 1970er-Jahre erlebte die Sozialpartnerschaft, repräsentiert und personifiziert durch die Präsidenten des ÖGB Anton Benya und der Wirtschaftskammer Rudolf Sallinger, beide mit Handschlagqualität und erheblichem Einfluss innerhalb ihrer Partei ausgestattet, ihre Blütezeit.* In allen wesentlichen Politikbereichen waren die Sozialpartner mitgestaltend und mitentscheidend tätig, die letzten Entscheidungen in Schlüsselfragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik wurden vom Duo Benya/Sallinger getroffen.

Das Konfliktlösungsmodell der Sozialpartnerschaft spielte insb auch bei der Entstehung des ArbVG eine entscheidende Rolle. Nach den heftigen Auseinandersetzungen um den „Häuser-Entwurf“ zogen die Sozialpartner – mit Zustimmung des Sozialministers, der sich zur Anerkennung sozialpartnerschaftlicher Verhandlungsergebnisse bereit erklärte – die weiteren Verhandlungen zur Konfliktlösung an sich und konnten in einem schwierigen Verhandlungsprozess letztlich einen Konsens über die gesamte Materie erzielen, der in der Folge Grundlage des Gesetzesbeschlusses im Nationalrat wurde (siehe oben 1.).

Das Verfahren bei der Entstehung des ArbVG und vor allem die Rolle der Sozialpartner dabei wurden zum Gegenstand zahlreicher politikwissenschaftlicher Diskussionen und zum Teil auch heftiger Kritik.* Unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten wurde kritisiert, dass das Gesetz fast zur Gänze im vorparlamentarischen Raum zustande gekommen sei. Das Schlagwort von der „Sozialpartnerschaft als Nebenregierung“ wurde in diesem Zusammenhang immer wieder verwendet, es wurde behauptet, das Parlament sei zum „Staatsnotar der Sozialpartner“ degradiert oder überhaupt schlichtweg durch die Sozialpartner „entmündigt“ worden.

Tatsache ist, dass der Inhalt des vom NR letztlich beschlossenen ArbVG weitestgehend den Ergebnissen der Sozialpartnerverhandlungen entsprach. Es war aber keineswegs so, dass diese Verhandlungen „am Parlament vorbei“ geführt worden wären. Auf beiden Seiten der Sozialpartner standen maßgebliche Funktionäre an der Spitze des Verhandlungskomitees, die zugleich Abgeordnete zum NR waren und dazu das Mandat ihres jeweiligen parlamentarischen Klubs hatten, nämlich Alfred Dallinger für die SPÖ und Walter Hauser für die ÖVP. Die Verbindung zwischen den Sozialpartnern und dem Gesetzgeber war also bereits im Vorfeld der parlamentarischen Beratungen durchaus gegeben. Auch die Beratungen im Sozialausschuss des NR waren bei weitem nicht so oberflächlich, wie das von manchen Unbeteiligten behauptet wurde.

Von linken Gruppierungen wurde darüber hinaus kritisiert, dass das ArbVG von der ÖGB-Spitze ohne Befassung der Basis über die Köpfe der Betroffenen hinweg in Geheimverhandlungen „ausgepackelt“ und letztlich an die Unternehmerseite „verkauft“ worden sei.*

Diese Kritik mag aus ideologischer Sicht verständlich sein, sie entspricht aber – zumindest in dieser Schärfe – nicht der Realität. Innerhalb der Gremien der Sozialpartnerorganisationen wurde regelmäßig über den Stand der Verhandlungen berichtet, darüber hinaus gab es unzählige Informationsveranstaltungen und Diskussionen mit Betriebsräten und AN, zum Teil sogar in Betriebsversammlungen. Richtig ist allerdings, dass in bestimmten Phasen, vor allem zuletzt, als es um die Suche nach Konsensmöglichkeiten in den entscheidenden Fragen ging, die Verhandlungen in „Klausur“ und ohne mediale Begleitung geführt wurden. Nur so war es überhaupt möglich, zu einem Konsens zu kommen.

Richtig ist auch, dass das ArbVG ein „Kompromissgesetz“ ist. Kompromisse schließen heißt aber Abstriche von den eigenen Vorstellungen zu machen, und so ergibt sich allein schon aus der Art des Zustandekommens, dass das ArbVG den Idealvorstellungen der AN-Organisationen weder vor 40 Jahren entsprochen hat und heute noch viel weniger entspricht (siehe dazu unter 7.) Dennoch war es mE richtig, bei dieser Materie, die unmittelbar die Interessen der AN und der AG betrifft, den Konsens der Sozialpartner zu suchen. Es wäre zwar möglich gewesen, ein aus ANSicht inhaltlich besseres Gesetz mit parlamentarischer Mehrheit zu beschließen, die Wahrscheinlichkeit, dass dann Norm und Realität bei der praktischen Anwendung des Gesetzes in vielen Fällen auseinandergefallen wären, erscheint aber ziemlich hoch.

Im Übrigen muss die Kritik an der Rolle der Sozialpartner bei der Regelung der Arbeitsverfassung im internationalen Vergleich gesehen werden. Es geht hier um481 den Kernbereich der kollektiven Arbeitsbeziehungen, und in den meisten europäischen Ländern werden Fragen der kollektiven Rechtsgestaltung und der Betriebsverfassung nicht durch den Gesetzgeber, sondern von den Sozialpartnern autonom in Verträgen geregelt.*

3.3.
Starke Arbeitnehmervertretungen

Aufgrund der geänderten politischen Verhältnisse hatten ÖGB und AK innerhalb der Sozialpartnerschaft zusätzlich an Stärke gewonnen. Obwohl die Regierung den Primat der Sozialpartner bei der Regelung der Arbeitsbeziehungen anerkannt hatte, bedeutete allein schon die Möglichkeit des Einsatzes der parlamentarischen Mehrheit für ein den Vorstellungen der AN-Verbände entsprechendes Gesetz eine Stärkung der Position der AN-Seite in den Verhandlungen um das ArbVG.

Dazu kommt, dass der ÖGB zu Beginn der 1970er-Jahre über eine beachtliche organisatorische Dichte und Stärke und über hohe Mobilisierungskraft verfügte: Im Jahr 1970 hatten die Gewerkschaften bzw der ÖGB mehr als 1,5 Millionen Mitglieder, der Organisationsgrad lag bei über 60 %. Die Mobilisierungsfähigkeit wurde ua bei dem im Jahr 1969 von der SPÖ initiierten, hauptsächlich aber von der Gewerkschaftsbewegung getragenen Volksbegehren für eine Arbeitszeitverkürzung unter Beweis gestellt. Fast 900.000 Menschen unterstützten dieses Volksbegehren. Im Rahmen der vor allem auf die Zielgruppe Jugend gerichteten „Aktion M – wie Mitbestimmung“ wurden mehr als 50.000 Unterschriften gesammelt und auf diese Weise erheblicher politischer Druck für das Zustandekommen des Jugendvertrauensrätegesetzes 1972 aufgebaut.

Ein wichtiger Faktor für die Stärke der AN-Vertretungen war – und ist auch heute – die bewährte Zusammenarbeit und enge personelle Verflechtung zwischen Gewerkschaften bzw ÖGB und Arbeiterkammern. Mit den Arbeiterkammern steht der Gewerkschaftsbewegung ein „Braintrust“ mit beachtlichen personellen und finanziellen Ressourcen zur Seite. Diese Ressourcen konnten auch in den Verhandlungen über das ArbVG optimal genutzt werden: Der Sozialpolitische Referent des ÖGB und spätere Sozialminister Gerhard Weißenberg war von 1968 bis 1976 auch Leiter des Sozialpolitischen Bereichs der Arbeiterkammer und konnte daher sowohl bei der Grundlagenarbeit als auch bei den Sozialpartnerverhandlungen über das ArbVG auf die Expertise der AK zurückgreifen.

3.4.
Verstaatlichte Unternehmen

Besondere Bedeutung für Österreichs Wirtschaft und für die Entwicklung der Mitbestimmung der AN hatten die Verstaatlichten Unternehmen.* 1970 waren (noch) 125.000 Arbeiter (20 % aller Industriebeschäftigten) in Verstaatlichten Unternehmen tätig, die Verstaatlichte Industrie erzielte 25 % der österreichischen Exporterlöse.

Forderungen nach einer grundlegenden Reorganisation der Verstaatlichten Industrie wurden von den Interessenvertretungen der AN unterstützt, wobei dem Ausbau der Mitbestimmung besonderes Gewicht beigemessen wurde.* Mit der ÖIG-Gesetz-Novelle 1969* wurde die ÖIG in die Österreichische Industrieverwaltungs-AG (ÖIAG) umgewandelt. Die Bildung dieser Aktiengesellschaft hat den Einfluss der Betriebsräte wesentlich verstärkt. Das BG zur Zusammenfassung der Unternehmungen der verstaatlichten Eisen- und Stahlindustrie* brachte dann – noch vor dem Inkrafttreten des ArbVG – die Drittelbeteiligung der AN-Vertreter im Aufsichtsrat.*) Damit spielten die Verstaatlichten Unternehmen eine Vorreiterrolle für die Erweiterung der wirtschaftlichen Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerschaft im Rahmen des allgemeinen Arbeitsverfassungsrechts.* Aber auch sonst ging der faktische Einfluss der Betriebsräte in den Verstaatlichten Unternehmen, deren Vorsitzende meistens zugleich führende Funktionäre der Gewerkschaften und der Arbeiterkammern, oftmals auch politische Mandatare waren, zum Teil weit über den gesetzlichen Rahmen hinaus.*

3.5.
Hochkonjunktur

Die österreichische Wirtschaft erreichte 1970 den Höhepunkt eines unerwartet langen und kräftigen Konjunkturaufschwungs. Die Kapazitäten waren besonders stark ausgelastet, der Arbeitsmarkt völlig ausgeschöpft.* Das reale Wirtschaftswachstum lag 1969 bei 6,2 % und 1970 bei 7,1 %. Das BIP erhöhte sich von 1969 auf 1970 real um 7,1 %, die Industrieproduktion stieg real um 8,9 %, die Bruttoverdienste in der Industrie um 9,4 %, die Lohn- und Gehaltssumme um 9,7 % (bei einem Preisanstieg um 4,5 %). Die Tariflöhne erhöhten sich im Durchschnitt um 6 %, unter Berücksichtigung der in diesem Jahr wirksam gewordenen Arbeitszeitverkürzung von 45 auf 43 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich um 11 %.* Die Finanzschuld des Bundes war mit 15 % des BIP vergleichsweise niedrig.*482

Der Arbeitsmarkt war im Jahr 1970 äußerst angespannt, das Arbeitskräfteangebot zur Gänze ausgeschöpft. Bei ca 2,4 Millionen unselbständig Beschäftigten (darunter ca 75.000 „im Kontingent beschäftigte Fremdarbeiter“) gab es im Jahresdurchschnitt etwas über 59.000 vorgemerkte Arbeitsuchende, denen ca 45.000 offene Stellen gegenüberstanden. Die Arbeitslosenrate lag im Jahresdurchschnitt bei 2,4 %, im August 1970 bei nur 1,3 %.*

Die günstige Wirtschaftslage, vor allem die Arbeitskräfteknappheit, stärkte die Position der AN auf dem Arbeitsmarkt, aber auch jene ihrer Interessenvertretungen in den Verhandlungen mit der AG-Seite.

4.
Demokratisierung als politisches Ziel

Die Forderung der 68er-Bewegung nach einem Abbau hierarchischer und autoritärer Strukturen und nach einer Demokratisierung der Gesellschaft fand Ende der 60er-Jahre auch Eingang in die politische Programmatik. In seiner Regierungserklärung vom 28.10.1969 sagte der neue deutsche Bundeskanzler Willy Brandt den berühmt gewordenen Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, und wenig später, am 22.11.1969, bei der Präsentation der Programme „Für ein modernes Österreich“ sprach Bruno Kreisky, der über ein besonderes Sensorium für die gesellschaftlichen Umbrüche dieser Zeit verfügte,* die ebenfalls legendär gewordenen Worte von der „Durchflutung aller Bereiche der Gesellschaft mit mehr Demokratie“.* In der Regierungserklärung vom 27.4.1970 bekundete die Minderheitsregierung ihre Absicht „alle Bestrebungen der weiteren Demokratisierung unserer Gesellschaft (zu) unterstützen“.*

Mit dieser Zielsetzung wurden in den 70er-Jahren weitreichende Reformprojekte in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen realisiert.* Besonders tiefgreifend, gesellschaftsverändernd und bis heute relevant waren die Reformen von Justizminister Christian Broda auf den Gebieten des Strafrechts und des Familienrechts.

Die „Demokratisierung der Arbeitswelt“* sollte durch das ArbVG vorangetrieben werden.

5.
Das Grundkonzept des ArbVG

In seiner ursprünglichen Fassung bestand das ArbVG aus vier Teilen: Teil I regelt die Kollektive Rechtsgestaltung* (KollV, Satzung, Mindestlohntarif,* Lehrlingsentschädigung, BV), Teil II die Betriebsverfassung, Teil III enthält Bestimmungen über Behörden und Verfahren und Teil IV Schluss- und Übergangsbestimmungen.

In der ersten Phase der Beratungen der Kodifikationskommission gab es eine lebhafte Diskussion über die Frage, ob über diese Teilgebiete des kollektiven Arbeitsrechts hinaus auch weitere Bereiche, die von der Arbeitsrechtslehre der Arbeitsverfassung zugeordnet werden, nämlich das Koalitionsrecht, die gesetzlichen Interessenvertretungen (Kammern) sowie die freiwilligen Berufsvereinigungen, in einem neuen ArbVG geregelt werden sollten. Letztlich wurde aber vor allem aus verfassungsrechtlichen* und rechtssystematischen Erwägungen von einem solchen Vorhaben Abstand genommen und der Regelungsumfang des ArbVG auf die engeren Bereiche der Arbeitsverfassung beschränkt.*

Mit dem Inkrafttreten des ArbVG haben mehrere Gesetze, insb das KollektivvertragsG, das BetriebsräteG, das JugendvertrauensräteG und das MindestlohntarifG, ihre Wirksamkeit verloren (§ 162 Abs 1 ArbVG). Mit der Zusammenfassung, Vereinheitlichung und Systematisierung der Normen in einem einheitlichen Gesetz hat das ArbVG jedenfalls in formaler Hinsicht die Anforderungen erfüllt, die an eine (Teil-) Kodifikation zu stellen sind.

Inhaltlich brachte das ArbVG in einigen Bereichen tiefgreifende Änderungen der früheren Rechtslage, ohne jedoch die Grundlagen des kollektiven Arbeitsrechts entscheidend zu verändern.*

Auf dem Gebiet der kollektiven Rechtsgestaltung sind vor allem die Beseitigung der Arbeitsordnung und483 deren Ersetzung durch ein differenziertes System einzelner Betriebsvereinbarungen als wesentliche Änderung anzuführen. Die Bestimmungen über die BV als Rechtsquelle (Begriff, Wirksamkeitsbeginn, Rechtswirkungen und Geltungsdauer) finden sich im I. Teil des Gesetzes, während der materielle Regelungsbereich von Betriebsvereinbarungen als Instrument der Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft* im II. Teil, Betriebsverfassung, im Rahmen der Mitwirkung in sozialen Angelegenheiten festgelegt ist.

Eine weitere wichtige Änderung betrifft den Umfang der Regelungsbefugnis der Kollektivvertragspartner. Das ArbVG hat ihn gegenüber dem vorher geltenden KollektivvertragsG wesentlich erweitert.* Ausdrücklich werden die durch KollV entstandenen Rechtsansprüche aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschiedener AN (§ 2 Abs 2 Z 2), gemeinsame Einrichtungen der Kollektivvertragsparteien (§ 2 Abs 2 Z 6) und bestimmte Angelegenheiten der Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerschaft (§ 2 Abs 2 Z 4 und 5) einer Regelung durch KollV zugänglich gemacht. Die RV zum ArbVG* hatte darüber hinaus auch generell die Möglichkeit vorgesehen, betriebsverfassungsrechtliche Bestimmungen zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerschaft durch KollV zu regeln. Das Fehlen einer gleichartigen Regelung im endgültig beschlossenen Gesetz ist eines der Hauptargumente für die These vom absolut zwingenden Charakter des Betriebsverfassungsrechts.*

Abgesehen von diesen Änderungen hält das ArbVG an den Grundlagen der kollektiven Rechtsgestaltung fest:

  • Autonomie der Kollektivvertragspartner unter Ausschluss staatlicher Zwangsschlichtung;

  • Primat des KollV bei der Entgeltregelung;

  • Vorrang der freiwilligen Berufsverbände als Kollektivvertragspartner;

  • Branchen-KollV – Betriebs-KollV nur als Ausnahme;

  • Günstigkeitsprinzip – Unabdingbarkeit;

  • Normwirkung;

  • Außenseiterwirkung;

  • beschränkte Zulässigkeit von normativ wirkenden Betriebsvereinbarungen.

Auf dem Gebiet des Betriebsverfassungsrechts beschränkt sich das ArbVG nicht auf die Änderung einzelner Bestimmungen des vorher geltenden – durch die BRG-Novelle 1971 noch weiter verbesserten – Betriebsrätegesetzes, sondern bringt diesen Bereich des kollektiven Arbeitsrechts unter Verwertung dogmatischer Erkenntnisse und der umfangreichen Judikatur in eine völlig neue, systematisierte Ordnung.* Der Dualismus Vertrauensmänner – Betriebsräte wird beseitigt, die Organisation der Arbeitnehmerschaft unter Einschluss der Jugendvertretung neu geregelt. Es wird klargestellt, dass die Mitwirkungsrechte der gesamten Arbeitnehmerschaft zustehen und von deren Organen ausgeübt werden, der Umfang der Mitwirkungsrechte wird in nahezu allen Bereichen, vor allem in sozialen Angelegenheiten, erweitert und die Zusammenarbeit zwischen den Organen der Arbeitnehmerschaft auf betrieblicher Ebene mit den überbetrieblichen Interessenvertretungen der AN rechtlich abgesichert.

Trotz dieser weit gehenden Änderungen knüpft aber das ArbVG auch im Bereich der Betriebsverfassung an die bisherigen Grundlagen an:

  • traditioneller AN-Begriff;

  • organisatorische Grundlage Betrieb bzw Unternehmen;

  • langfristig stabile Organisationseinheiten und Beschäftigungsverhältnisse;*

  • Gliederung der Arbeitnehmerschaft in Arbeiter und Angestellte.

Ebenso wie vorher das BRG geht auch das ArbVG von einem grundsätzlich antagonistischen Konzept aus:* Betriebsinhaber und Arbeitnehmerschaft stehen einander als soziale Gegenspieler mit unterschiedlichen Interessen gegenüber. Ziel der Bestimmungen über die Betriebsverfassung ist ein Ausgleich der unterschiedlichen Interessen (§ 39 Abs 1 ArbVG), nicht aber die Überwindung des Interessengegensatzes. Anders als etwa das deutsche Betriebsverfassungsgesetz (§ 74 Abs 2 BetrVG)* normiert das ArbVG weder eine betriebsverfassungsrechtliche Friedenspflicht* noch ein Arbeitskampfverbot.*

Zusammenfassend kann man mit Strasser feststellen:

Das ArbVG hat zwar viel Neues gebracht, es war aber zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens keine fundamentale Änderung des bis dahin geltenden kollektiven Arbeitsrechts, sondern lediglich eine „behutsame evolutionäre Reform dieser Rechtsmaterie“.*484

6.
Weitere Entwicklung

Die gesetzliche Neuregelung der Arbeitsverfassung hat in den folgenden Jahren zu einer umfangreichen Auseinandersetzung mit dieser Materie in der Lehre und Rsp geführt. Das Schrifttum zum Arbeitsverfassungsrecht ist kaum noch überschaubar, trotz unterschiedlicher Positionen in manchen Fragen ist das Arbeitsverfassungsrecht dogmatisch weitgehend ausgelotet. Auch die Judikatur hat zur Klärung offener Fragen Wesentliches beigetragen.*

Auf den ersten Blick beeindruckend ist auch, was der Gesetzgeber zur weiteren Entwicklung des ArbVG geleistet hat: Seit dem Inkrafttreten ist das Gesetz mehr als fünfzig (!) Mal geändert worden.* Die qualitative Substanz kann allerdings mit der Quantität dieser Änderungen nicht Schritt halten.Von den zahlreichen Novellen haben vor allem folgende größere inhaltliche Änderungen gebracht:

  • Mit der Novelle vom 7.7.1976, BGBl 1976/387, wurde der Kündigungsschutz für ältere AN verbessert;

  • Durch das BG vom 2.7.1981, BGBl 1981/354, wurden die Mitwirkungsrechte im Zusammenhang mit dem Nachtschicht-SchwerarbeitsG erweitert.

Besondere Bedeutung hatte die Novelle vom 3.7.1986, BGBl 1986/394. Aufgrund eines Forderungskatalogs von ÖGB und AK („29-Punkte-Katalog“) legte Sozialminister Dallinger einen Gesetzentwurf vor, der nach ähnlich schwierigen Sozialpartnerverhandlungen, wie jenen zum Stammgesetz, letztlich mit einigen Abstrichen als Kompromiss vom NR beschlossen wurde und in wichtigen Bereichen einen weiteren Ausbau der Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerschaft, insb bei der Einführung und beim Einsatz neuer Technologien, bei den Informations- und Beratungsrechten sowie bei der Mitwirkung in personellen Angelegenheiten, brachte. Zugleich wurde die Funktionsperiode der Betriebsräte verlängert und das Ausmaß der Bildungsfreistellung erhöht. Schließlich enthielt die Novelle auch erste Ansatzpunkte für die Mitwirkung auf Konzernebene (Arbeitsgemeinschaften nach § 88a), die dann im Jahr 1990 zur Einrichtung einer Konzernvertretung führten.

Durch das BG vom 1.10.1986, BGBl 1986/563, wurden die Bestimmungen des ArbVG an die neue Organisation und an die Neuregelung des Verfahrens durch das ASGG angepasst. Kernpunkt der Neuregelung war die Überführung der betriebsverfassungsrechtlichen Streitigkeiten in die Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte.*

Im Zusammenhang mit dem Arbeitskräfteüberlassungsgesetz (AÜG) vom 23.3.1988, BGBl 1988/196, wurden Mitwirkungsrechte des BR bei der Beschäftigung von überlassenen AN normiert.

Im Jahr 1990 waren gleich vier Änderungen des ArbVG zu verzeichnen,* die wichtigsten davon betrafen neben der Einrichtung einer Konzernvertretung eine Änderung des Kündigungs- und Entlassungsschutzes in Richtung einer stärkeren Individualisierung sowie eine Erweiterung der Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerschaft in sogenannten Tendenzbetrieben.

In den 90er-Jahren ist das Arbeitsverfassungsrecht durch eine Reihe von Gesetzesänderungen, zum Teil in Anpassung an das EU-Recht, weiterentwickelt worden. Die meisten davon finden sich als leges fugitivae in anderen Gesetzen als dem ArbVG in „Maßnahmenpaketen“ mit anderen inhaltlichen Schwerpunkten. Diese für die praktische Rechtsanwendung höchst problematische Methode der Gesetzgebung hat die Übersichtlichkeit des Arbeitsverfassungsrechts erheblich beeinträchtigt.

Die ArbVG-Novelle vom 17.6.1993, BGBl 1993/460, enthielt Regelungen zur Absicherung und Stärkung der Mitbestimmungsmöglichkeiten bei Umstrukturierungen sowie zum weiteren Ausbau der Mitbestimmung auf Konzernebene.

Durch das AVRAG, BGBl 1993/459, wurden (auch) Schutzbestimmungen für den Fall des Wechsels der Kollektivvertragsangehörigkeit infolge eines Betriebsüberganges geschaffen.

Weitgehende Änderungen des Arbeitsverfassungsrechts brachte die Novelle BGBl 1996/601. Neben zahlreichen Einzelbestimmungen ist mit dieser Novelle vor allem ein neuer V. Teil „Europäische Betriebsverfassung“ in das ArbVG eingefügt worden. Durch die Novelle BGBl I 2000/14 ist der Anwendungsbereich der Bestimmungen über die Europäische Betriebsverfassung auf alle Mitgliedstaaten der EU und auf die anderen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ausgedehnt worden. Eine weitere Ergänzung in diese Richtung erfuhr das ArbVG durch das BG vom 15.7.2004, BGBl I 2004/82. In Umsetzung des EU-Rechts wurde ein neuer VI. Teil mit umfangreichen Regelungen über die Europäische Aktiengesellschaft in das ArbVG eingefügt. Schließlich kamen durch die Novelle BGBl I 2006/104 ein Teil VII über die Beteiligung der AN in der Europäischen Genossenschaft und durch das BGBl I 2010/101* noch ein weiterer Teil VIII über die Mitbestimmung der AN bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung von Kapitalgesellschaften sowie ein Teil IX mit formalen Bestimmungen dazu.

Durch die „Europäisierung“ des Betriebsverfassungsrechts ist der Umfang des ArbVG erheblich ausgeweitet worden.* Qualitativ sind die Befugnisse der AN-Vertreter im Rahmen der Europäischen Betriebsverfassung auf Information und Anhörung beschränkt. Außerdem ist infolge der überwiegend klein- und mittelbetrieblichen Struktur der österreichischen Wirtschaft der Anwendungsbereich der Bestimmungen über die Europäische Betriebsverfassung relativ klein. Für die AN-Vertreter in Unternehmen, die unter den Geltungsbereich der Europäischen Betriebsverfassung fallen, bedeuten sie aber485 eine wichtige Ergänzung der Rechtsgrundlagen für ihre Vertretungstätigkeit.*

7.
Reformbedarf

Während der letzten Jahrzehnte hat in der Gesellschaft und in der Wirtschaft ein grundlegender Strukturwandel stattgefunden.* Rahmenbedingungen, wie sie bei der Entstehung des ArbVG zu Beginn der 1970er-Jahre bestanden hatten, gibt es nicht mehr. Trotz ständiger Bemühungen um eine Anpassung und Nachbesserung hat das ArbVG diesen Strukturwandel nicht entsprechend mitvollzogen. Die zahlreichen Gesetzesänderungen haben einerseits bewirkt, dass die systematische Ordnung, Klarheit und Übersichtlichkeit, die das Stammgesetz ausgezeichnet hatten,* teilweise verloren gegangen ist. Andererseits waren die inhaltlichen Korrekturen nicht ausreichend, um auch unter den geänderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine wirksame Ausübung der Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerschaft zu gewährleisten.

Vordergründig sind deshalb weitere Gesetzesänderungen notwendig, um Mitbestimmungsdefizite auszugleichen, Fluchtwege aus der Mitbestimmung zu versperren und die Effektivität der Mitwirkungsrechte zu sichern. Solche Änderungen müssten vor allem* folgende Angelegenheiten betreffen:

  • Die Regelungsbefugnis der Kollektivvertragspartner* sollte so erweitert werden, wie sie in der RV des ArbVG vorgesehen war. Insb auch betriebsverfassungsrechtliche Angelegenheiten sollten innerhalb eines durch das Gesetz vorgegebenen Ordnungsrahmens durch KollV geregelt werden können.

  • Die Bestimmungen über die Kollektivvertragsangehörigkeit müssen so geändert werden, dass eine „Flucht aus dem KollV“* durch Wechsel der Fachgruppenzugehörigkeit* oder Betriebsübergang* verhindert werden kann.

  • Das kasuistische und komplizierte System der Betriebsvereinbarungen sollte – unter Aufrechterhaltung des Vorrangs des KollV in der Lohnpolitik – vereinfacht und praxisgerechter gestaltet werden.* Die dogmatische Fiktion „unzulässiger“ Betriebsvereinbarungen wäre aufzugeben.

  • Die Grundlagen des Betriebsverfassungsrechts, insb der AN-Begriff* und der Betriebsbegriff,* müssen den geänderten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen angepasst werden.

  • Die Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmerschaft sind weiter auszubauen, ihre Durchsetzung muss erleichtert und durch wirksame Sanktionen abgesichert werden.

  • Information, Kommunikation und Beratung unter Anwendung zeitgemäßer Medien und Technologien müssen auf allen Ebenen sichergestellt werden.*

Eine zukunftsorientierte Reform des Arbeitsverfassungsrechts kann sich aber nicht auf punktuelle Gesetzesänderungen beschränken, sie muss vielmehr am Fundament ansetzen.*

Das Regelungsmodell, von dem das ArbVG zu Beginn der 1970er-Jahre ausgegangen ist, entspricht heute in wichtigen Punkten nicht mehr der sozialen und wirtschaftlichen Realität.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten Jahre hat den Druck auf die AN und ihre Interessenver486tretungen erheblich verstärkt. „Wettbewerbsfähigkeit in der globalisierten Wirtschaft“, „Standortsicherung“, „Flexibilisierung“ – so oder ähnlich lauten die Parolen, unter denen – in vielen Fällen mit Erfolg – versucht wird, Arbeitsbedingungen zu verschlechtern und ANRechte einzuschränken.*

Mitbestimmung und Demokratisierung, wie sie zu Beginn der 1970er-Jahre gefordert und realisiert worden sind, spielen in der aktuellen politischen Programmatik kaum eine Rolle.* Im Gegenteil: Tragende Grundsätze des kollektiven Arbeitsrechts, wie der Vorrang des (Branchen-)Kollektivvertrags bei der Lohnregelung, das Günstigkeitsprinzip und die Unabdingbarkeit der kollektiven Normen, ja sogar die Schutzfunktion des Arbeitsrechts überhaupt, werden von manchen in Frage gestellt.*

Die Aufrechterhaltung der sozialen Standards, Beschäftigung und Einkommenssicherung stehen im Vordergrund der aktuellen Sozialpolitik. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ein funktionierendes Mitbestimmungsinstrumentarium für eine wirksame Vertretung der AN-Interessen von besonderer Bedeutung ist.

40 Jahre nach seinem Inkrafttreten bedarf das ArbVG dringend einer grundlegenden Reform.487