40 Jahre kollektives Arbeitsrecht in Deutschland

WOLFGANGDÄUBLER (BREMEN)
Das Arbeitsverfassungsgesetz ist vierzig Jahre alt geworden. Doch was geschah während dieser Zeit in Deutschland? Welche offenen oder verdeckten Wandlungen erfuhren das dortige Tarifvertrags- und das dortige Betriebsverfassungsgesetz? Wie entwickelte sich das im deutschen Schrifttum so häufig beschworene Arbeitskampfrecht? Welche Rolle spielte das Richterrecht, das in Deutschland nicht nur Lücken füllt, sondern auch relativ souverän bestimmt, was der Gesetzgeber gemeint haben kann?Der folgende Beitrag versucht, die wesentlichen Charakteristika dieser Entwicklung nachzuzeichnen. Weiter geht er der Frage nach, ob AN-Interessen heute besser oder schlechter als vor vierzig Jahren geschützt sind.
    Übersicht
  1. Einleitung

  2. Die Gesetzgebung

    1. Tarifvertragsgesetz und Arbeitnehmerentsendegesetz

    2. Betriebsverfassungsgesetz

    3. Europäische Betriebsräte

    4. Unternehmensmitbestimmung

    5. Die Schaffung des „Streikparagraphen“

    6. Die Hartz-Gesetze

    7. Die Erosion gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht

  3. Die Rechtsprechung498

    1. Die veränderte Auslegung der Koalitionsfreiheit des Art 9 Abs 3 GG

    2. Grundsatzfragen des Tarifvertragsrechts

      1. Die Bezugnahmeklausel

      2. Anforderungen an die Tariffähigkeit

      3. Tarifeinheit oder Tarifpluralität?

      4. Einfache und qualifizierte Differenzierungsklausel

    3. Vorsichtige Öffnung des Arbeitskampfrechts

    4. Erschließung neuer Bereiche?

  4. Richterrecht zum Betriebsverfassungsrecht

    1. Einstellung prekär Beschäftigter

    2. Nationale Introvertiertheit

    3. Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten

  5. Zusammenfassung

1.
Einleitung

Das Arbeitsrecht kennt anders als das Zivilrecht keine „Rechtsfamilien“. Seine Verbindung zur jeweiligen nationalen Entwicklung von Ökonomie und Politik ist eng und seine Verwurzelung in nationalen Traditionen sehr viel ausgeprägter als bei vielen anderen Teilen der Rechtsordnung. Nur selten kommt es daher zur Übernahme von Rechtsinstituten aus einem anderen Land; selbst eine bloße „Orientierung“ ist die Ausnahme. Kommt es doch dazu, wie etwa bei der Schaffung von Betriebsräten durch Slowenien* und Südafrika,* so ist die praktische Bedeutung meist eine völlig andere: Aus einem zentralen Institut wird eine eher randständige Erscheinung, die für die Realität der Arbeitsbeziehungen ohne größere Bedeutung bleibt.*

Auch im Verhältnis zwischen Österreich und Deutschland überwiegen insb im kollektiven Arbeitsrecht die Unterschiede.* Dennoch (manchmal auch gerade deshalb) lohnt sich der Blick über die Grenze, weil er zumindest den eigenen Argumentationshaushalt erweitert. Ist eine bestimmte Regelung im anderen Land realisiert, lässt sie sich nur noch schwer als „Wunschdenken“ oder als „schlechte Utopie“ bezeichnen oder gar als „wirtschaftsfeindlich“ disqualifizieren, was zur Verlagerung von Arbeitsplätzen führe. Dies gilt insb dann, wenn, wie im Verhältnis von Österreich und Deutschland, vergleichbare gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen bestehen.

Der Gewinn im Argumentationskampf darf in seiner Bedeutung allerdings nicht überschätzt werden. Gesetzgeber und (rechtsfortbildende) Rsp orientieren sich oft an konkreten Interessen, die sich nicht durch bessere Argumente aus der Welt schaffen lassen. So kann man etwa davon ausgehen, dass es bei der Rsp des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Vereinbarkeit unionsrechtlicher Entwicklungen mit dem Grundgesetz eine Art „heimlicher Agenda“ gibt, wonach man durch Ziehung „roter Linien“ zwar die Entwicklung iS eines demokratischen Minimums zu beeinflussen versucht, aber niemals so weit geht, dem von europäischen Instanzen Beschlossenen den Gehorsam zu verweigern. Dennoch bleibt ein Bereich, wo Argumente (zumindest mit-)zählen. Weiter wird man nicht nur Vorbildhaftes im anderen Land finden, sondern auch Entwicklungen, von denen man sich ihrer unsozialen Wirkungen wegen eher fernhalten sollte – „aus den Fehlern anderer lernen“ wäre die dafür passende Devise. Unter diesen Umständen scheint es angemessen, anlässlich des Jubiläums des ArbVG die deutsche Entwicklung in denselben 40 Jahren Revue passieren zu lassen.

Im Folgenden soll zunächst die Gesetzgebung nachgezeichnet werden, wozu über die Materien des ArbVG hinaus auch die mittelbare Regelung des Arbeitskampfes und der Sozialabbau durch die sogenannten Hartz-Gesetze gehören; beide haben die Rahmenbedingungen für Tarifverhandlungen und Mitbestimmung wesentlich verändert. Anschließend soll uns die Frage beschäftigen, wie die in Deutschland dominierende Rsp das Kollektivvertrags- und das Arbeitskampfrecht in 40 Jahren weiterentwickelt hat. Auch in dem relativ detailliert geregelten Betriebsverfassungsrecht, das im Anschluss zu behandeln ist, kommt dem Richterrecht eine zentrale Stellung zu. Zur Verdeutlichung seiner Grundtendenz können allerdings nur einige Beispiele herausgegriffen werden.

2.
Die Gesetzgebung
2.1.
Tarifvertragsgesetz und Arbeitnehmerentsendegesetz

Das geltende Tarifvertragsgesetz (TVG) ist älter als die Bundesrepublik; es wurde vom Wirtschaftsrat, einer Art Wirtschaftsparlament, des sogenannten Vereinigten Wirtschaftsgebiets* beschlossen und am 9.4.1949 verkündet.* Erst durch BG vom 23.4.1953* wurde es auch auf die französische Zone erstreckt.* Es regelt relativ wenige Fragen wie die Form, die mög499lichen Gegenstände und die Wirkung von Tarifverträgen. Insoweit besteht im Grundsatz ein sozialer Konsens; Meinungsverschiedenheiten beginnen erst bei Folgefragen wie der Bezugnahme im Arbeitsvertrag, der Tarifpluralität und den Differenzierungsklauseln, bei denen der Rsp die entscheidende Rolle zukommt.

Der Text des TVG ist in über 60 Jahren nur wenig verändert worden. Das Gesetz „zur Änderung des Heimarbeitsgesetzes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschriften“ vom 29.10.1974* hat den § 12a eingefügt, der Tarifverträge auch für arbeitnehmerähnliche Personen zulässt. Praktische Bedeutung hat er allerdings nur für freie Mitarbeiter im Bereich von Presse, Rundfunk und Fernsehen erlangt.*

2.2.
Betriebsverfassungsgesetz

Die „große“ Reform der Betriebsverfassung, die insb mehr Mitbestimmung für die Betriebsräte brachte, erfolgte schon 1972, liegt also länger als 40 Jahre zurück. Erwähnenswert ist im vorliegenden Zusammenhang allein das „Gesetz zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes“, das am 28.7.2001 in Kraft trat.* Es nahm zahlreiche Änderungen am BetrVG vor, die zu insgesamt 84 Ziffern zusammengefasst waren. Der Schwerpunkt lag auf (weit verstandenen) „Arbeitserleichterungen“ der Betriebsräte, während die Mitbestimmungsrechte allenfalls marginal erweitert wurden.* Die Mitgliederzahl vieler Betriebsräte wurde erhöht, die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnik (IuK) ausdrücklich im Gesetz erwähnt, „überlassene“ AN, insb Leih-AN erhielten unter bestimmten Voraussetzungen ein Wahlrecht zum BR des Einsatzbetriebs, das Gruppenprinzip wurde abgeschafft, stattdessen aber eine Mindestrepräsentanz des Geschlechts in der Minderheit eingeführt. In Kleinbetrieben mit bis zu 50 Beschäftigten gilt nunmehr ein sogenanntes vereinfachtes Wahlverfahren, das den Wahlvorgang in eine kurzfristig einberufene Betriebsversammlung verlegt. Dort, wo bisher kein BR bestand, kann in gut einer Woche ein solcher gewählt werden, doch ist das Verfahren keineswegs „einfacher“, sondern stellt höchste Ansprüche an die bürokratischen Fähigkeiten des Wahlvorstands. Wichtig ist die Vorschrift des § 3 BetrVG, wonach die betriebsratsfähige Einheit weitestgehend durch Tarifvertrag bestimmt werden kann, wovon insb bei Filialunternehmen Gebrauch gemacht wird. In Zeiten der Umstrukturierung sind das Übergangsmandat des BR nach § 21a BetrVG und sein Restmandat nach § 21b BetrVG durchaus hilfreiche Einrichtungen. Auch die Schaffung eines Konzern-BR wurde erleichtert, weil die eine solche Initiative tragenden Betriebsräte und Gesamtbetriebsräte nur noch mehr als die Hälfte der im Konzern Beschäftigten (und nicht mehr wie zuvor mehr als drei Viertel) repräsentieren müssen. Nach dem neu geschaffenen § 92a BetrVG hat der BR das Recht, Vorschläge zur Sicherung und zur Förderung der Beschäftigung zu machen, mit denen sich der AG auseinandersetzen muss. Kommt er im Rahmen einer Beratung zu dem Ergebnis, dass das Vorgeschlagene für ihn nicht hilfreich ist, so muss er dies begründen, kann die Vorschläge also nicht kommentarlos im Papierkorb verschwinden lassen. Eine schriftliche Begründung wird allerdings nur verlangt, wenn der Betrieb mehr als 100 AN beschäftigt; kleineren AG wollte man die Mühe einer Verschriftlichung ersparen. Man mag dies als Symbol für die wirkliche Reichweite der Reform in Sachen Mitbestimmung verstehen.

2.3.
Europäische Betriebsräte

Die EBR-RL vom 22.9.1994* wurde in Deutschland (fast) termingerecht umgesetzt. Das „Gesetz über Europäische Betriebsräte“ (EBRG) trat am 1.11.1996 in Kraft.* Es verzichtete auf eigene Schwerpunkte und begnügte sich mit einer Umsetzung der RL eins zu eins. Die Einbeziehung Großbritanniens führte zum Erlass des EBR-AnpassungsG vom 22.12.1999.* Stärkere Auswirkungen brachte die Änderungs-RL 2009/38/EG vom 6.5.2009,* die ihren Niederschlag im Änderungsgesetz zum EBRG vom 14.6.2011* fand.

Nach Angaben des Europäischen Gewerkschaftsinstituts betrug die Gesamtzahl Europäischer Betriebsräte Mitte des Jahres 2013 insgesamt 1034,* wovon etwa ein Viertel deutschem Recht unterliegt. Die Praxis ist sehr unterschiedlich und reicht von bloßen Repräsentationsveranstaltungen bis hin zur Existenz eines Organs der Interessenvertretung mit eigener Identität.* Die deutschen Gerichte hatten sich bisher nur höchst selten mit Fragen des EBRG zu befassen.

2.4.
Unternehmensmitbestimmung

Das Gesetz über die Mitbestimmung der AN vom 4.5.1976* hat die Vertretung der AN im Aufsichtsrat von Großunternehmen auf eine neue Grundlage gestellt. Erfasst sind aber lediglich Aktiengesellschaften, GmbHs und Genossenschaften, sofern sie regelmäßig mehr als 2000 AN beschäftigen. Der Aufsichtsrat ist „paritätisch“ aus AN-Vertretern und Vertretern der Anteilseigner zusammengesetzt, doch ist dies nur eine scheinbare Gleichheit: Unter den ANVertretern muss zwingend ein leitender Angestellter501 sein, der häufig die Position der Unternehmensleitung vertreten wird, der jedenfalls nicht über die nötige Unabhängigkeit von der AG-Seite verfügt. Stimmt er im Einzelfall dennoch mit den übrigen AN-Vertretern, wird das dadurch entstehende Patt durch einen zweiten Wahlgang aufgelöst, in dem der Vorsitzende zwei Stimmen hat. Vorsitzender ist aber immer ein Vertreter der Anteilseigner, es sei denn, der Aufsichtsrat treffe mit Zwei-Drittel-Mehrheit eine andere Entscheidung. Fälle dieser Art sind nicht bekannt geworden. Für die AN-Seite ist die Unternehmensmitbestimmung dennoch von Bedeutung, weil sie den Zugriff auf zahlreiche Informationen ermöglicht, die Vorstand bzw Geschäftsführung automatisch zur Verfügung stellen müssen. Der BR würde sie kraft eigenen Rechts schon deshalb nicht erlangen, weil er gar keinen Anlass hätte, eine entsprechende Frage zu stellen. Darüber hinaus die Unternehmenspolitik mit beeinflussen zu können, ist allenfalls in Sondersituationen denkbar, in denen sich neben der Gewerkschaft auch die Öffentlichkeit einschaltet.

Trotz dieser beschränkten Reichweite gibt es immer wieder Versuche der AG-Seite, der Unternehmensmitbestimmung zu entgehen. Die Wahl einer nicht mitbestimmten Rechtsform mag ein Mittel sein. Ein anderes (und leichter zu handhabendes) kann darin liegen, die Rechtsform zwar beizubehalten, die Entscheidungen aber auf eine nicht mitbestimmte Konzernspitze auszulagern.* Eine solche Mitbestimmungsflucht durch „Tatbestandsvermeidung“ ist bislang von der Rsp nie beanstandet worden. Auch hat sie keine Versuche unternommen, Gesellschaften ausländischen Rechts, die den Schwerpunkt ihrer Geschäftstätigkeit im Inland haben, in die Mitbestimmung einzubeziehen, und zwar auch dann nicht, wenn es sich um eine der deutschen Aktiengesellschaft oder GmbH völlig vergleichbare Gesellschaftsform handelt.

2.5.
Die Schaffung des „Streikparagraphen“

In Deutschland ist Arbeitskampfrecht eine Domäne des Richterrechts, doch gibt es gleichwohl eine gesetzgeberische Intervention, die im Jahre 1986 die Gemüter erregte und die zu einer Reihe politischer Warnstreiks führte, die aber inhaltlich ohne Erfolg blieben. Den Vorgang zu verstehen, setzt einige Vorinformationen voraus.

Ein Streik in einem bestimmten Betrieb oder einer Gruppe von Betrieben hat unter den heutigen Bedingungen arbeitsteiliger Produktion häufig zur Folge, dass auch in anderen Betrieben nicht mehr weitergearbeitet werden kann. Dies wirft die Frage auf, ob die dort Beschäftigten Lohnersatzleistungen, insb Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld, verlangen können. Bis 1997 war das in § 116 AFG geregelt; heute findet es sich in den §§ 100, 160 SGB III.

Ausdrücklich vom Bezug von Sozialleistungen ausgenommen waren schon immer diejenigen AN, die in einem bestreikten Betrieb beschäftigt sind, ohne selbst am Streik teilzunehmen: Würden sie staatliche Unterstützung erhalten, würde dies den Streik erheblich erleichtern und so gegen die staatliche Neutralität verstoßen. Ebenso einig war (und ist) man sich darüber, dass Betroffene außerhalb des fachlichen Geltungsbereichs des Tarifvertrags Leistungen erhalten.* Kann wegen eines Metallerstreiks in einem Chemiebetrieb nicht weitergearbeitet werden, sind Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld fällig. Umstritten sind dagegen die Ansprüche der Beschäftigten in anderen Betrieben derselben Branche, die wegen des Streiks nicht weiterarbeiten können. Auch hier ist wiederum zu differenzieren.

AN, die in dem umkämpften Tarifgebiet (zB Baden- Württemberg) beschäftigt sind, erhalten keine Sozialleistungen, weil ihnen später der abgeschlossene Tarifvertrag zugute kommt. Wer außerhalb des Tarifgebiets tätig war, bekam dagegen nach der bis 1986 bestehenden Rechtslage Kurzarbeiter- bzw Arbeitslosengeld, es sei denn, in seinem „eigenen“ Tarifgebiet hätte die Gewerkschaft „nach Art und Umfang gleiche Forderungen“ erhoben. Dies ließ sich so gut wie immer vermeiden, was insb für Arbeitskämpfe in der Metallindustrie von großer Bedeutung war. Die Gewerkschaft war finanziell in der Lage, den Streikenden sowie den im Tarifgebiet Betroffenen Streikunterstützung zu gewähren, doch hätte es ihre Möglichkeiten überschritten, dasselbe auch in anderen Tarifgebieten zu tun. Der wirtschaftliche Stellenwert des Problems wird daran deutlich, dass die (damalige) Bundesanstalt für Arbeit 1984 bei der ersten Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche vorübergehend den in anderen Tarifgebieten Tätigen das Kurzarbeitergeld verweigerte, aufgrund gerichtlicher Anordnung dann jedoch ca 200 Mio DM ausbezahlen musste.* Durch das sogenannte Neutralitätssicherungsgesetz vom 15.5.1986* wurde die Rechtslage verändert: Nunmehr sollte in einem anderen Tarifbezirk derselben Branche der Anspruch auf Sozialleistungen bereits dann entfallen, wenn „eine Forderung erhoben worden ist, die einer Hauptforderung des Arbeitskampfes nach Art und Umfang gleich ist, ohne mit ihr übereinstimmen zu müssen“ und wenn „das Arbeitskampfergebnis aller Voraussicht nach in dem räumlichen Geltungsbereich des nicht umkämpften Tarifvertrags im Wesentlichen übernommen wird“. Dies führte dazu, dass es in der Metallindustrie in den folgenden Jahren nur zu einem einzigen Arbeitskampf kam, bei dem bewusst all die Unternehmen ausgespart wurden, deren Ausfall Auswirkungen in anderen Tarifbezirken gehabt hätte. Dies war wiederum für das BVerfG ein wesentlicher Grund dafür, die Verfassungsbeschwerde der IG Metall mit E vom 4.7.1995 zurückzuweisen; die gesetzliche Regelung verstoße nicht gegen die Koalitionsfreiheit des Art 9 Abs 3 GG, da die Tarifautonomie weiter funktionsfähig sei.* Dies würde sich allerdings ändern, wenn ein Streik nur noch solche Unternehmen erfassen könne, die mit anderen branchenangehörigen Unternehmen eng verflochten seien. Träte ein solcher Fall ein, müssten Gesetzgeber und Rsp das zur502 Erhaltung der Tarifautonomie Notwendige in die Wege leiten, die Regelung also „nachbessern“.

Die IG Metall hat sich mit diesem Rechtszustand im Wesentlichen abgefunden. Sie versteht die Vorschrift so, dass schon das Erheben einer (fast) identischen Forderung im anderen Tarifgebiet die Ansprüche auf Sozialleistungen ausschließt.* Eine solche Situation sei jedoch mit allen Mitteln zu vermeiden, weil das die Organisation sprengen könne: Würde denjenigen Mitgliedern, die nicht im umkämpften Tarifgebiet tätig sind, notgedrungen die Streikunterstützung verweigert, würden sie sich benachteiligt fühlen und möglicherweise die Organisation verlassen. Hauptargument: Wäre ihr Bezirk als „Streikbezirk“ ausgesucht worden, hätten sie eine volle Absicherung erhalten. Ob es wirklich verbreitet eine solche Haltung gibt, ist empirisch nie geklärt worden. Dies erstaunt, weil man zu weniger bedeutsamen Problemen durchaus die Mitgliedermeinung erfragt. Auch hat man nie erwogen, die Streikunterstützung generell auf persönliche Notfälle zu beschränken. Stattdessen hat man es hingenommen, erpressbar zu sein, und hat Streiks nach Möglichkeit vermieden oder – wie in dem genannten Beispiel aus Bayern – auf wenig vernetzte Bereiche beschränkt. Dies hat zur Folge, dass die Gewerkschaft im Bereich der Automobilindustrie und ihrer Zulieferer allenfalls kurze Warnstreiks durchführt und sich damit ihren wichtigsten Trumpf nehmen lässt. Die AG-Seite hat ihrerseits auf „Provokationen“ in den Tarifrunden verzichtet und durchaus inhaltliche Konzessionen gemacht – vermutlich, weil man die IG-Metall nicht wieder in die Rolle einer Kampforganisation hineinzwingen wollte. Die Neuregelung des § 116 AFG hat also ihren Zweck durchaus erreicht, Streiks noch mehr als in der Vergangenheit zu einer Ausnahmeerscheinung zu machen.

2.6.
Die Hartz-Gesetze

Ähnlich wie § 116 AFG hatten die unter dem Namen „Hartz-Gesetze“ bekannten Reformen des Arbeitsmarkts 2003/2004 nur wenig unmittelbaren Bezug zum kollektiven Arbeitsrecht.* Außer der AN-Überlassung betrafen sie ausschließlich sozialrechtliche Bestimmungen.

Durch das „Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ vom 23.12.2002* (gemeinhin „Hartz I“ genannt) wurde die Leiharbeit ua in der Weise liberalisiert, dass der Einsatz im einzelnen Betrieb nunmehr ohne zeitliche Befristung möglich war. Leih-AN waren deshalb nicht mehr nur schnell verfügbare „Aushilfen“ beim Ausfall von Arbeitskräften und bei einem überraschenden Anstieg der Aufträge; vielmehr konnten sie von nun an unbefristet beschäftigte Stamm-AN ersetzen. Das gesetzliche Bekenntnis zu „Equal Pay“ und „Equal Treatment“ in § 9 Nr 2 AÜG war nur eine scheinbare Kompensation, da durch Tarifvertrag von ihr abgewichen werden konnte. Dies geschah in flächendeckendem Umfang. Ein mit einer „christlichen Gewerkschaft“ in Nordbayern abgeschlossener Tarifvertrag war Vorreiter und veranlasste die DGB*-Gewerkschaften, in das „Tarifgeschäft“ einzusteigen, um dieses nicht „den Christen“ zu überlassen. Die Folge war, dass die bisherigen Leiharbeitslöhne (die verbreiteter Schätzung nach 30 % bis 40 % unter denen vergleichbarer Stamm-AN lagen) im Wesentlichen festgeschrieben und zahlreiche andere Benachteiligungen zB bei den Kündigungsfristen, bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, beim Urlaub usw vereinbart wurden. Ermächtigungen, wonach von einem Gesetz zwar nicht durch Arbeitsvertrag, wohl aber durch Tarifvertrag abgewichen werden kann, wurden in weitem Umfang ausgeschöpft. Der Tarifvertrag verlor in diesem Sektor seine traditionelle Funktion; statt AN zu schützen, wurde er zu einem Mittel der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, ja der sozialen Ausgrenzung. Auswirkungen ergaben sich auch außerhalb der Leiharbeitsbranche: Wer weiß, dass er notfalls durch einen Leih-AN ersetzt werden kann, passt sich an und erhebt keine Forderungen, weil er jeden Konflikt vermeiden will.

Das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ von 24.12.2003* schuf die „Grundsicherung für Arbeitslose“, die als Buch II in das SGB eingefügt wurde. Als „Hartz IV“ ist es in die Umgangssprache eingegangen. Die Arbeitslosenhilfe, die sich an das Arbeitslosengeld anschloss, wurde abgeschafft. Sie hatte sich am bisherigen Einkommen orientiert und war bei Bedürftigkeit gewährt worden. Nunmehr spielte bei der „Grundsicherung für Arbeitslose“ die bisherige Einkommenssituation keine Rolle mehr; auch wurden die Anforderungen an die Bedürftigkeit verschärft. Inhaltlich konnte (und kann) die Grundsicherung lediglich in höchst bescheidenem Umfang das Existenzminimum garantieren. Zugleich wurde so gut wie jede Arbeit für zumutbar erklärt. Die Einzelheiten brauchen hier nicht zu interessieren. Die schlichte Tatsache, dass nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes von sechs Monaten oder einem Jahr „Hartz IV“ droht, schafft bei vielen die Angst vor einem Fall ins Bodenlose. Dies reduziert wiederum die Konfliktbereitschaft, was sich ua in (bescheidenen) Ergebnissen von Tarifrunden niederschlägt.

2.7.
Die Erosion gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht

Die zuletzt genannten Veränderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen waren die wohl wichtigsten Faktoren dafür, dass die gewerkschaftliche Kampfkraft in den letzten zwanzig Jahren erheblich zurückging. Daneben stand die Schwierigkeit, sich auf neue Beschäftigtenstrukturen einzustellen: Die Gruppe der Arbeiter, in denen die Gewerkschaft traditionell sehr stark verankert war, ist zur Minderheit gegenüber der Gruppe der (schwach organisierten) Angestellten503 geworden. Es überrascht daher nicht, dass die Zahl der in den DGB-Gewerkschaften Organisierten von 11,8 Mio im Jahr 1991 auf 6,14 Mio im Jahr 2012 zurückgegangen ist,* was einem Verlust von fast der Hälfte entspricht.* Auch die Tarifbindung ging deutlich zurück. Nur noch 50 % aller AN arbeiten bei einem AG, der an einen Verbandstarif gebunden ist; 8 % fallen unter den Schutz eines Firmentarifvertrages.* Vor dreißig Jahren ging man noch davon aus, dass rund 90 % aller AN von einem Tarifvertrag erfasst werden. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass die Reallöhne im Zeitraum von 1992 bis 2012 um 1,6 % gesunken sind.* Die Niedriglohnquote lag im Jahre 2010 bei 20,6 %, wobei als „Niedriglohn“ ein Einkommen qualifiziert wird, das weniger als zwei Drittel des mittleren Verdienstes (Median) ausmacht. Dabei fiel allerdings die Existenz eines Tarifvertrags ins Gewicht: Nur 11,9 % der bei einem tarifgebundenen AG Tätigen mussten sich mit einem solchen Niedriglohn begnügen, während dies bei 31 % der bei nicht tarifgebundenen AG beschäftigten AN der Fall war.* Der Mitgliederzuwachs, der in den letzten zwei Jahren bei einigen Gewerkschaften zu verzeichnen war, wurde durch Abgänge, insb unter Rentnern, weitgehend wieder ausgeglichen.

3.
Die Rechtsprechung

Die Rsp hat, anders als der Gesetzgeber, in den vergangenen 40 Jahren die Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften eher verbessert als verschlechtert.

3.1.
Die veränderte Auslegung der Koalitionsfreiheit des Art 9 Abs 3 GG

Das Grundgesetz begnügt sich in Art 9 Abs 3 Satz 1 dem Wortlaut nach mit einer Garantie der individuellen Koalitionsfreiheit und deutet lediglich in der Notstandsklausel des Art 9 Abs 3 Satz 3 GG an, dass die Vorschrift auch kollektive Betätigungsformen kennt. Die Rsp des BVerfG hat jedoch schon sehr früh auch die Möglichkeit zum Abschluss von Tarifverträgen als mitgarantiert angesehen und in der E vom 18.11.1954 ausgeführt:*

„Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit betrifft nicht nur den Zusammenschluss als solchen, sondern den Zusammenschluss zu einem bestimmten Gesamtzweck, nämlich zu der aktiven Wahrnehmung der Arbeitgeber-(Arbeitnehmer-)Interessen. Dies bedeutet zugleich, dass frei gebildete Organisationen auf die Gestaltung der Löhne und Arbeitsbedingungen Einfluss nehmen, insbesondere zu diesem Zweck Gesamtvereinbarungen treffen können. Die historische Entwicklung hat dazu geführt, dass solche Vereinbarungen in Gestalt geschützter Tarifverträge mit Normativcharakter und Unabdingbarkeit abgeschlossen werden. Wenn also die in Art 9 Abs 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit nicht ihres historisch gewordenen Sinnes beraubt werden soll, so muss im Grundrecht des Art 9 Abs 3 GG ein verfassungsrechtlich geschützter Kernbereich auch in der Richtung liegen, dass ein Tarifvertragssystem im Sinne des modernen Arbeitsrechts staatlicherseits überhaupt bereitzustellen ist und dass Partner dieser Tarifverträge notwendig frei gebildete Koalitionen sind.“

Damit war einerseits ein großer Schritt getan, andererseits aber der Bestimmung des „Kernbereichs“ der späteren Rsp und der sie beeinflussenden Literatur überlassen. Dies hatte Konsequenzen weniger im Tarifvertragsrecht, das ja durch das TVG eine gesetzliche Regelung erfahren hatte, sondern für sonstige Formen gewerkschaftlicher Betätigung. Das BAG vertrat beispielsweise den Standpunkt, zum Kernbereich zähle nur, was für die Existenz und Betätigung der Gewerkschaft „unerlässlich“ sei. Gewerkschaftliche Vertrauensleute im Betrieb zu wählen, zähle nicht hierzu, weil die Wahl auch in einem angemieteten Bus stattfinden könne.* Einen dem AG gehörenden Schutzhelm mit einem gewerkschaftlichen Emblem zu bekleben, sei gleichfalls von Art 9 Abs 3 GG nicht gedeckt, weil man diesen ja auch an der eigenen Kleidung befestigen könne.* Die Gewerkschaftszeitung an Mitglieder im Betrieb zu verteilen, sei ebenfalls nicht „unerlässlich“, weil man dies auch mit Hilfe der Post tun könne.* Erst recht habe ein Gewerkschaftsbeauftragter kein Zugangsrecht zum Betrieb, um gewerkschaftliches Werbe- und Informationsmaterial zu verteilen, da auch die dort beschäftigten Mitglieder diese Aufgaben übernehmen könnten.* Wenn sie dies taten, war es ihnen allerdings untersagt, Arbeitskollegen anzusprechen, deren Arbeitszeit noch nicht beendet war.*

Die Minimierung der Koalitionsfreiheit mit Hilfe einer (höflich ausgedrückt) kleinlichen Kasuistik hat mit der E des BVerfG vom 14.11.1995* ein Ende gefunden. Dabei stellte das Gericht klar, dass alle koalitionsspezifischen Betätigungen einschließlich der Mitgliederwerbung in den Schutzbereich des Art 9 Abs 3 GG fallen; dieser erfasse alle Betätigungen, die darauf gerichtet seien, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern. Grenzen würden sich nur aus den grundrechtlich geschützten Positionen des AG, etwa seinem Recht auf wirtschaftliche Betätigung, ergeben; insoweit müsse eine Abwägung erfolgen. Die Formel vom „Kernbereich“ sei missverstanden worden; sie umschreibe lediglich die Grenze, bis zu der hin eine im Interesse der AG-Grundrechte erfolgende Einschränkung gehen könne.504

Damit waren die Weichen in andere Richtung als bisher gestellt. Im konkreten Fall wurde die BAG-E aufgehoben, wonach es generell verboten sei, einen Arbeitskollegen während seiner Arbeitszeit anzusprechen.* Später anerkannte das BAG folgerichtig ein gewerkschaftliches Zugangsrecht zum Betrieb.* Auch bei den anderen Betätigungsformen, wie der Wahl der Vertrauensleute oder dem Tragen eines Aufklebers, gibt es heute keine wirklichen Probleme mehr.* In der Logik der Rsp des BVerfG liegt es weiter, dass die Beschäftigten auch per E-Mail kontaktiert werden können, und zwar auch unter Benutzung ihrer betrieblichen Adressen.* Auswirkungen hat die neue Rsp weiter im Arbeitskampfrecht.*

Der Wandel der Kernbereichslehre bringt aus ANSicht einen eindeutigen Rechtsfortschritt, der ersichtlich nicht durch „gewerkschaftliche Gegenmacht“ erreicht wurde.* Was die Gründe waren, lässt sich schwer aufklären, ohne die Vertraulichkeit des gesprochenen Worts zu verletzen. In der Sache entschieden Richter, denen gewerkschaftsfeindliche Tendenzen fern lagen und denen daran gelegen war, die kollektive Koalitionsfreiheit aus Gründen der rechtsdogmatischen Stringenz wie andere Grundrechte zu behandeln.*

3.2.
Grundsatzfragen des Tarifvertragsrechts
3.2.1.
Die Bezugnahmeklausel

Da Tarifverträge nach § 3 Abs 1 TVG nur für Gewerkschaftsmitglieder gelten, wird üblicherweise in den Einzelarbeitsverträgen ausdrücklich auf den Tarifvertrag Bezug genommen, um so auch die Außenseiter nach Tarif zu behandeln. Dafür spricht nicht nur, dass der AG im Regelfall bei der Einstellung gar nicht weiß, wer Gewerkschaftsmitglied ist. Vielmehr hat er auch Interesse daran, keinen Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt zu liefern, der automatisch mit einer untertariflichen Behandlung der Außenseiter verbunden wäre.*

Wird nun in den Arbeitverträgen auf die „Tarifverträge des öffentlichen Dienstes“ oder auf die „Tarifverträge der Metallindustrie“ verwiesen, so kann dies große praktische Bedeutung gewinnen, wenn der AG aus dem Verband austritt oder wenn ein Betriebsteil (oder der ganze Betrieb) in eine andere Branche wechselt, wenn beispielsweise die Kantine aus dem Chemiebetrieb herausgelöst und zu einer selbständigen GmbH gemacht wird, die zur Gastronomie-Branche gehört.

Der zuständige Vierte Senat des BAG qualifizierte diese Klauseln zunächst als „Gleichstellungsabreden“.* Dies hatte zur Folge, dass sie ihre Bedeutung verloren, wenn die Tarifverträge auch für die Organisierten wegen Verbandsaustritts des AG oder wegen Branchenwechsels nur noch Nachwirkung nach § 4 Abs 5 TVG hatten. Es trat insoweit eine Entkoppelung von der weiteren Tarifentwicklung ein. Anders stellte sich aber die Situation dar, wenn nicht einschlägige (branchenfremde) Tarifverträge in Bezug genommen wurden* oder wenn der AG bei Abschluss des Arbeitsvertrages selbst nicht tarifgebunden war:* In diesen Fällen nahmen die betroffenen AN an der Tarifentwicklung so lange teil, wie die Tarifverträge (oder ihre Nachfolgeregelungen) existierten.

In der Literatur überwog die Kritik an dieser Rsp.* Nicht einzusehen war, dass ein und dieselbe Klausel je nach Verbandszugehörigkeit des AG einen völlig unterschiedlichen Inhalt haben sollte. Weiter stellte es ersichtlich die Unklarheitenregelung des § 305c Abs 2 BGB* auf den Kopf, wenn eine vom Wortlaut her eindeutige Regelung (nämlich die fortdauernde Partizipation an der Tarifentwicklung) im Verhältnis zum organisierten AG in ihr schlichtes Gegenteil verwandelt wurde. Dabei wurde nicht einmal erwogen, die Arbeitsvertragsparteien hätten ja auch das wollen können, was sie tatsächlich erklärt haben.* Selbst der für die Rsp (mit-) verantwortliche Vorsitzende des Vierten Senats sprach von einer „wohlwollenden Auslegung“ zugunsten des AG.* Mit Urteil vom 14.12.2005* hat derselbe Senat (allerdings unter einem neuen Vorsitzenden) einen Wandel seiner Rsp angekündigt: In Zukunft solle für alle Verträge, die nach dem 31.12.2001 abgeschlossen wurden, § 305c Abs 2 voll zur Geltung kommen.* Mit E vom 18.4.2007 hat das BAG seine Ankündigung in die Tat umgesetzt.* Dies bedeutet, dass die Ankoppelung an die Tarifverträge bei Verbandsaustritt oder Branchenwechsel nicht mehr in Korrektur des Wortlauts beendet wird. Diese Wirkung der Bezugnahmeklausel tritt auch gegenüber verbandsangehörigen AG ein.* Verträge, die vor dem genannten Stichtag geschlossen wurden, sind aus Gründen des Vertrauensschutzes weiter nach der bisherigen Rsp zu behandeln; dies soll auf unbestimmte Zeit gelten.* Heißt es also in einem ab 1.1.2002 abgeschlossenen Arbeitsver505trag „Es gelten die Tarifverträge der Metallindustrie in ihrer jeweiligen Fassung“, so kann sich darauf auch ein Kantinenmitarbeiter berufen, der zu einer neu gegründeten Gastronomie-Gesellschaft gewechselt ist, die die Kantine weiter betreibt. Damit ist die Flucht aus dem Tarifsystem ein Stück weit erschwert, da der Austritt aus dem AG-Verband eher uninteressant wird, wenn die Tarifverträge wegen der Bezugnahmeklausel weiter angewandt werden müssen. Mit neu Eingestellten lässt sich allerdings Abweichendes vereinbaren. Auch gab es in der Praxis schon bisher Formulierungen, die effektiv iS einer Gleichstellungsabrede gemeint waren.

3.2.2.
Anforderungen an die Tariffähigkeit

Die Koalitionsfreiheit gewährt das selbstverständliche Recht, neue Gewerkschaften zu gründen oder bestehende Berufsverbände in Gewerkschaften zu verwandeln. Welche Anforderungen eine Organisation erfüllen muss, um den Status einer „Gewerkschaft“ zu erwerben, ist gesetzlich nicht geregelt. Die Rsp verlangt insb Unabhängigkeit von der AG-Seite sowie die Fähigkeit, auf diese Druck auszuüben. Weiter muss die Vereinigung von ihren Ressourcen her die Möglichkeit haben, vor Beginn von Tarifverhandlungen die wirtschaftliche Lage zu analysieren, Tarifforderungen aufzustellen und die Einhaltung der getroffenen Vereinbarungen zu überwachen.* Sieht man diese Voraussetzungen relativ schnell als erfüllt an, so ermöglicht man damit den Abschluss von Tarifverträgen durch Organisationen, die sich mangels Verhandlungsmacht im Prinzip die AG-Position zu eigen machen und „Dumpinglöhne“ vereinbaren oder die im Extremfall sogar von der AG-Seite finanziert werden.

Die Rsp des BAG nahm die erforderliche Durchsetzungskraft einer Organisation bereits dann an, wenn diese „in nennenswertem Umfang“ Tarifverträge abgeschlossen hatte, wobei auch Anschlusstarifverträge genügen sollten.* Eine Ausnahme sollte nur dann gelten, wenn es sich um Schein- oder Gefälligkeitstarife handelte, die auf einem einseitigen Diktat der AG-Seite beruhten. Dafür bedurfte es aber besonderer Anhaltspunkte. Der „Christlichen Gewerkschaft Metall“ wurde daher die Tariffähigkeit zugesprochen, obwohl ihre Tarifverträge regelmäßig erheblich unter dem Niveau der von der IG Metall abgeschlossenen Vereinbarungen lagen, war doch ein „Diktat“ der AG-Seite nicht ersichtlich. Eine Akzentverschiebung brachte die BAG-E vom 5.10.2010,* wonach es entscheidend auf die Zahl der Mitglieder ankomme; eine größere Menge abgeschlossener Tarifverträge könne für sich allein die Tariffähigkeit nicht begründen.* Die größte Publizität genoss die E zur Christlichen Gewerkschaft für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP), einer auf Leiharbeit spezialisierten Spitzenorganisation von fünf „christlichen“ Gewerkschaften, der die Tariffähigkeit auch wegen fehlender Tarifzuständigkeit aberkannt wurde.* Da die CGZP-E auch für die Vergangenheit wirkte,* waren die CGZP-Tarifverträge unwirksam. Leih-AN, die unter Bezugnahme auf sie beschäftigt worden waren, konnten deshalb gleiche Vergütungen wie Stammkräfte verlangen, doch ergaben sich viele praktische Schwierigkeiten bei der Durchsetzung solcher Ansprüche.

3.2.3.
Tarifeinheit oder Tarifpluralität?

In stRsp ging das BAG davon aus, in einem Betrieb könne zum selben Gegenstand nur ein Tarifvertrag gelten. Soweit zwei verschiedene Gewerkschaften jeweils einen Tarif abgeschlossen hatten, sollte der „speziellere“ den Vorrang haben: Hatte die eine Gewerkschaft einen Verbandstarif, die andere einen Firmentarif abgeschlossen, so galt allein der letztere, ohne dass es auf die Verankerung der jeweiligen Organisation im Betrieb ankam.* Dies hatte sich mit Zustimmung des BAG* die (damalige) DAG zunutze gemacht und einen Firmentarif geschlossen, der schlechtere Leistungen gewährte als der von der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen erreichte Flächentarif. In neuerer Zeit gelang es verschiedentlich der Christlichen Gewerkschaft Metall (CGM), derartige Firmentarife zu vereinbaren und so den Flächentarif der Metallindustrie erfolgreich zu durchlöchern. In der Literatur war das BAG mittlerweile auf fast einhellige Ablehnung gestoßen.* Am 7.1.2010 fasste der Vierte Senat einen „Anfragebeschluss“ an den Zehnten Senat, in dem er mit eingehender Begründung seine Absicht kundtat, den Grundsatz der Tarifeinheit aufzugeben.* In Zukunft solle Tarifpluralität im Betrieb möglich sein. Die mit verschiedenen Gewerkschaften geschlossenen Tarifverträge würden nur für deren Mitglieder gelten; bei Nichtorganisierten wäre auf die arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel abzustellen. Der Zehnte Senat, der in der Vergangenheit gleichfalls den Grundsatz der Tarifeinheit zugrunde gelegt hatte, schloss sich der Auffassung des Vierten Senats an,* so dass nunmehr Tarifpluralität gilt.

Die veränderte Rsp machte die Unterbietungskonkurrenz durch die CGM und andere vergleichbare Organisationen gegenstandslos, da unter einem schlechteren Tarif nur noch die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft zu leiden haben. Dennoch ergab sich auch im gewerkschaftlichen Lager Widerstand. Die sogenannten Spartengewerkschaften, die in den vergangenen Jahren sehr viel bessere Tarifergebnisse als die DGB-Gewerkschaften erreichen konnten, hatten nach Preisgabe des Grundsatzes der Tarifeinheit keine besonderen rechtlichen Hindernisse mehr zu überwinden.* Um diesen „Überbietungswett506bewerb“ unmöglich zu machen, präsentierten DGB und Bundesvereinigung der deutschen AG-Verbände (BdA) gemeinsam im Jahre 2011 einen Gesetzentwurf, um den Grundsatz der Tarifeinheit wiederherzustellen; den Vorrang sollte allerdings nicht der speziellere, sondern der Tarifvertrag der Gewerkschaft haben, die im Betrieb über mehr Mitglieder verfügt. Damit sollten die Spartengewerkschaften faktisch ihrer Handlungsmöglichkeiten beraubt werden, da sie aus Sicht der Verfasser des Entwurfs nur ganz ausnahmsweise mehr Mitglieder als die „allgemeine“ Gewerkschaft haben.* Der Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung sieht eine entsprechende gesetzliche Regelung vor, doch dürfte es schwerlich mit Art 9 Abs 3 GG vereinbar sein, einer Gewerkschaft den Abschluss von Tarifverträgen und damit die wichtigste Betätigungsform unmöglich zu machen.*

3.2.4.
Einfache und qualifizierte Differenzierungsklausel

Der schrumpfende gewerkschaftliche Organisationsgrad und die allgemein geübte Praxis tarifgebundener AG, auch die Nichtorganisierten nach Tarif zu behandeln, legt den Versuch nahe, bestimmte tarifliche Leistungen den Gewerkschaftsmitgliedern vorzubehalten, die gesetzlich auf die Mitglieder beschränkte Tarifwirkung also gegen eine „Verwässerung“ abzusichern. Die Praxis sah sich jedoch mit der Tatsache konfrontiert, dass der Große Senat des BAG schon Ende der sechziger Jahre eine Tarifbestimmung für unzulässig erklärt hatte, die allein für die Organisierten ein bestimmtes Urlaubsgeld vorgesehen hatte.* Dennoch ergaben sich einige Möglichkeiten.

Von einer sogenannten einfachen Differenzierungsklausel spricht man dann, wenn die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft ausdrücklich zu einem anspruchsbegründenden Merkmal für einen tariflichen Anspruch gemacht wird, der AG aber das Recht behält, die Leistung auch an nichtorganisierte AN zu erbringen. In einer spezifischen Situation führt dies zu einer Besserstellung von Gewerkschaftsmitgliedern: Wird mit Rücksicht auf die schlechte wirtschaftliche Situation des Unternehmens ein Firmentarif geschlossen, dessen Niveau unter dem einschlägigen Flächentarif liegt, so kann man für Gewerkschaftsmitglieder einen „Bonus“ vorsehen, der für sie einen Teil der Absenkung ausgleicht. Hier wäre der AG zwar berechtigt, den Bonus auch an Außenseiter zu bezahlen, doch wird er dazu in aller Regel wirtschaftlich nicht in der Lage sein, so dass tatsächlich eine Differenzierung eintritt. Das BAG hat die Klausel gleichwohl für zulässig erklärt.*

Die qualifizierte Differenzierungsklausel, die dem AG auch rechtlich die Erstreckung auf Außenseiter verbietet oder die einen bestimmten Abstand zwingend vorschreibt, hat demgegenüber auch weiterhin nicht den Segen des BAG erhalten.* Wolle man sie zulassen, so könnten AG und Außenseiter keine Gleichstellung mehr vereinbaren, was eine Überschreitung der Tarifmacht darstelle, die die Arbeitsverhältnisse Dritter nicht erfassen dürfe. Dies hat in der Literatur Kritik gefunden,* doch ist hier nicht der Ort, diese im Einzelnen auszubreiten. Auch gibt es durchaus Möglichkeiten, durch Einsatz der Gewerkschaft als „Zahlstelle“ oder durch Einschaltung einer gemeinsamen Einrichtung allein den Mitgliedern bestimmte Leistungen zukommen zu lassen, doch hält sich ein entsprechendes Entgegenkommen der AG-Seite derzeit in engen Grenzen.

3.3.
Vorsichtige Öffnung des Arbeitskampfrechts

Die veränderte Rsp zu Art 9 Abs 3 GG* führt dazu, dass die gewerkschaftliche Betätigung „Arbeitskampf“ nicht von vornherein auf einen Streik um einen (besseren) Tarifvertrag beschränkt ist. Außerdem gibt es eine mit Zweidrittelmehrheit beschlossene Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates an die Bundesrepublik, mit Rücksicht auf die Streikgarantie des Art 6 Nr 4 ESC die bisherigen engen Schranken des Streikrechts aufzugeben und auch Arbeitsniederlegungen zuzulassen, die um andere als tarifliche Ziele geführt werden.* Das BAG hat dem zwar noch nicht Rechnung getragen, es in zwei Entscheidungen jedoch ausdrücklich dahinstehen lassen, ob nicht auch Streiks ohne Tarifbezug rechtmäßig sein können.*

Keine Bedenken hatte das BAG, einen Streik um einen Tarifsozialplan für rechtmäßig zu erklären: Den §§ 111 ff BetrVG komme keine Exklusivwirkung zu. Auch spiele es keine Rolle, wenn hohe Forderungen wie (im konkreten Fall) drei Jahre volle Entgeltfortzahlung erhoben würden, da das Gericht diese nicht kontrolliere.*

Eine gewisse Lockerung ergab sich weiter in Bezug auf den Solidaritätsstreik. Dieser wurde lange Zeit als grundsätzlich rechtswidrig angesehen, es sei denn, das bestreikte Unternehmen hätte zum selben Konzern gehört oder wäre aus anderen Gründen nicht mehr als „außenstehender Dritter“ anzusehen gewesen.* Nunmehr fällt auch die Betätigungsform „Solidaritätsstreik“ unter Art 9 Abs 3 GG und ist nur dann rechtswidrig, wenn der bestreikte AG in unangemessener Weise beeinträchtigt ist, wenn seinen Interessen also höheres Gewicht zukommt.*507

Schließlich hat der sogenannte Flashmob eingehend Literatur und Gerichte beschäftigt. Im Rahmen der Tarifauseinandersetzungen im Einzelhandel kam es am 8.12.2007 in einem Berliner Supermarkt zu einer sogenannten Flashmob-Aktion, zu der die Gewerkschaft ver.di aufgerufen hatte. Etwa 40 bis 50 Personen waren per SMS dorthin gebeten worden, um die von Streikbrechern aufrecht erhaltenen Arbeitsabläufe zu stören. Tags zuvor war in einem Aufruf die Aktion wie folgt beschrieben worden:

  • Viele Menschen kaufen zur gleichen Zeit einen Pfennig-Artikel und blockieren damit für längere Zeit den Kassenbereich;

  • Viele Menschen packen zur gleichen Zeit ihre Einkaufswagen voll (bitte keine Frischware!) und lassen sie dann stehen;

  • Schicke ein Fax an Leiharbeitsfirmen, die ihre Beschäftigten als Streikbrecher einsetzen und protestiere dagegen.

Die Aktion wurde wie beschrieben durchgeführt, wobei als Besonderheit hinzukam, dass eine „Kundin“ mit einem gefüllten Einkaufswagen an die Kasse ging, dort ihre Waren einscannen ließ, dann aber entdeckte, dass sie ihren Geldbeutel „vergessen“ hatte. Der Flashmob dauerte knapp eine Stunde.

Die Handlungsweise der Gewerkschaft wurde in allen Instanzen der Arbeitsgerichtsbarkeit für zulässig erklärt.* Maßgebend war letztlich die Tatsache, dass es auch insoweit um eine spezifisch koalitionsmäßige Betätigung ging, die weniger als ein Streik in die Sphäre des AG eingriff. Die Besonderheit liegt in der Aktivierung der Teilnehmer, wie sie bei Streiks sonst selten zu finden ist, sowie in der (eher undeutschen) Spontaneität. Dass eine solche „konkrete Unordnung“ in einem Land als rechtmäßig anerkannt wird, in dem die „konkrete Ordnung“ erfunden wurde, ist alles andere als selbstverständlich. Das BVerfG hat jedoch vor kurzem die Verfassungsbeschwerde gegen das BAG-Urteil zurückgewiesen.*

3.4.
Erschließung neuer Bereiche?

Beamte haben nach herrschender Auffassung in Deutschland kein Streikrecht. Diese Auffassung war zwar nie unbestritten und sah sich insb in den 1970er- Jahren erheblichen Angriffen ausgesetzt, doch blieben die Gerichte ihrer überkommenen Linie treu.* Eine folgenreiche Relativierung erfolgte erst mit den Entscheidungen des EGMR aus dem Jahr 2009, die den Gewerkschaften türkischer Beamter aufgrund von Art 11 EMRK ein Recht auf Tarifverhandlungen* und auf Streik zusprachen,* soweit sie nicht mit der Ausübung hoheitlicher Gewalt betraut waren. Die Verwaltungsgerichte der ersten und zweiten Instanz vertraten uneinheitliche Positionen, die von einer Bejahung des Streikrechts bis hin zu einer totalen Ablehnung reichten, da dieses die „deutsche Staatlichkeit“ gefährde.* Das Bundesverwaltungsgericht ging von einem verfassungsunmittelbaren Streikverbot aus, sah jedoch den Gesetzgeber kraft Verfassungs- und kraft Völkerrechts als verpflichtet an, das geltende Recht zu ändern und der Rsp des EGMR Rechnung zu tragen.* Wann dies geschehen wird, ist derzeit nicht absehbar, doch ist es dem Gesetzgeber mit Rücksicht auf das Alimentationsprinzip untersagt, die Beamten von der Gehaltsentwicklung der AN des öffentlichen Dienstes abzukoppeln.*

Auch Beschäftigten der Kirchen steht nach herrschender Auffassung kein Streikrecht zu.* Das BAG hat dies in seiner jüngsten Rsp dadurch ein wenig relativiert, als es bestimmte Anforderungen an alternative Verfahren von Kollektivverhandlungen stellte. Die Kirche kann die Entscheidung für eine Regelung durch Tarifvertrag (sogenannter zweiter Weg) davon abhängig machen, dass zunächst eine paritätische Schlichtung und eine absolute Friedenspflicht vereinbart werden.* Entscheidet sie sich für paritätische Kommissionen, die die Arbeitsbedingungen festsetzen (sogenannter dritter Weg), so ist ein Streik ausgeschlossen, sofern die Gewerkschaften in dieses Verfahren organisatorisch eingebunden sind und das Ergebnis für den DG verbindlich ist.* Letzteres kann für die katholische Kirche problematisch sein, weil sie von einem zwingenden Letztentscheidungsrecht des zuständigen Bischofs ausgeht.

4.
Richterrecht zum Betriebsverfassungsrecht

Trotz relativ eingehender rechtlicher Regelung sind Rsp und Literatur zum Betriebsverfassungsrecht von großer Reichhaltigkeit. Der umfangreichste Kommentar umfasst mehr als 4.000 Seiten.* Auch zahlreiche Detailfragen werden von den Gerichten entschieden, was bis hin zu dem Problem geht, ob ein Betriebsratsmitglied ein dem BR zur Verfügung gestelltes Buch zum Selbststudium mit nach Hause nehmen darf.* Im Allgemeinen findet die Rsp auf beiden Seiten eher Zustimmung als Ablehnung. Ein paar Punkte seien herausgegriffen, die über den Einzelfall hinaus von Bedeutung sein können.

4.1.
Einstellung prekär Beschäftigter

Nach § 99 BetrVG hat der BR ua bei der Einstellung eines neuen Beschäftigten ein Zustimmungsverweigerungsrecht, das er allerdings nur auf einen der in § 99 Abs 2 BetrVG genannten Gründe stützen kann. Zu diesen Gründen gehört nach Abs 2 Nr 1508 auch, dass die Einstellung gegen ein Gesetz oder einen Tarifvertrag verstößt. Dabei wird allerdings nur auf den Vorgang der Einstellung, nicht aber darauf abgestellt, ob der Arbeitsvertrag des Einzustellenden mit der Rechtsordnung in Einklang steht. So kann der BR seine Zustimmung beispielsweise nicht deshalb verweigern, weil die dort vorgesehene Befristung unzulässig ist.* Auch auf eine Verletzung des Equal-Pay-Grundsatzes bei der Leiharbeit kann er seine Zustimmungsverweigerung nicht stützen.* Dies wäre in der Vergangenheit deshalb von großer Bedeutung gewesen, weil Betriebsräte auf diesem Wege die Unwirksamkeit der CGZP-Tarifverträge hätten rügen können. Mit Rücksicht auf das fehlende Beteiligungsrecht kann der BR vom AG auch keine Auskunft über die Höhe des Entgelts des Leih-AN und einer vergleichbaren Stammkraft verlangen.* Wenigstens hat er nach derzeitiger Rechtslage ein Zustimmungsverweigerungsrecht, wenn der Leih-AN auf unbestimmte Zeit eingestellt werden soll, da § 1 Abs 1 Satz 2 AÜG seit 2011 mit Rücksicht auf die EU-RL nur noch eine vorübergehende Beschäftigung gestattet.* Machtlos ist der BR dagegen wiederum dann, wenn der AG untertariflich bezahlen will; nur wenn die Beschäftigung, nicht aber wenn die Arbeitsbedingungen tarifwidrig sind, soll der BR intervenieren können.* Dadurch wird dem AG in einem besonders sensiblen Gebiet freie Hand gegeben; der BR kann prekäre Beschäftigung grundsätzlich nicht verhindern, obwohl dies nach Wortlaut und Sinn der gesetzlichen Regelung durchaus anders beurteilt werden könnte.

Entsendet eine Drittfirma „ihre Leute“ für längere oder kürzere Zeit in den Betrieb, so liegt meist ein Werk- oder Dienstvertrag vor. Eine „Einstellung“ verlangt aber nach der Rsp, dass der Inhaber des Einsatzbetriebes das „für ein Arbeitsverhältnis typische Weisungsrecht“ hat und über Ort und Zeitpunkt der Arbeit bestimmen kann.* Dieses bleibt in derartigen Fällen in aller Regel bei der Drittfirma, so dass § 99 BetrVG nicht eingreift. Das „Outsourcing“ bestimmter betrieblicher Funktionen wird auf diese Weise deutlich erleichtert, was anders wäre, würde man für die „Einstellung“ die Mitarbeit in einem auch räumlich verstandenen Kooperationszusammenhang genügen lassen.

4.2.
Nationale Introvertiertheit

Im Zeitalter der Globalisierung könnte man eigentlich erwarten, dass die Gesetzesanwendung auch Sachverhalte erfasst, die einen erheblichen Auslandsbezug aufweisen. Probleme stellen sich in verschiedenen Zusammenhängen.

Möglich ist einmal, dass der Betrieb auch Teile erfasst, die im Ausland gelegen sind. Sie werden grundsätzlich nicht in die Betriebsverfassung einbezogen, weil diese einem starr verstandenen Territorialitätsprinzip unterworfen wird, das aus der Weimarer Zeit stammt, als das Betriebsverfassungsrecht noch nach überwiegender Auffassung zum öffentlichen Recht gehörte.* Zwar gibt es – soweit ersichtlich – keine konkreten Entscheidungen zu dieser Frage, doch wird im Kündigungsschutzrecht umso deutlicher betont, dass die Überschreitung der Zehn- AN-Grenze, die nach § 23 Abs 1 Satz 3 KSchG zum Eingreifen des KSchG führt, ausschließlich durch im Inland Beschäftigte erfolgen muss.* Im Ergebnis führt dies in der Betriebsverfassung dazu, dass eine bestimmte Gruppe von Beschäftigten trotz Betriebszugehörigkeit bei den Grenzwerten (zB für die Zahl der Betriebsratsmitglieder) nicht mitzählt, außerdem kein Wahlrecht besitzt und nicht vom BR vertreten werden kann. Haben ausländische Unternehmen Betriebe im Inland, so sind im Prinzip dort Betriebsräte zu errichten, doch erscheint es zweifelhaft, ob dies auch dann gilt, wenn sich nur ein unselbständiger Betriebsteil im Inland befindet.* Die Ausklammerung ausländischer Betriebsteile aus dem Kündigungsschutz hat überdies zur Folge, dass die soziale Auswahl nur innerhalb der kleineren Gruppe der im Inland Beschäftigten erfolgen muss, so dass auch die Voraussetzungen für ein Widerspruchsrecht des BR nach § 102 Abs 3 Nr 1 BetrVG seltener erfüllt sein werden.

Bestehen im Inland mehrere Unternehmen, die zu einem ausländischen Konzern gehören, so kann ein Konzern-BR nur dann errichtet werden, wenn er – etwa in Form einer „Deutschlanddirektion“ oder einer Zwischenholding – einen inländischen Ansprechpartner hat.* Dies überzeugt schon deshalb nicht, weil er von seiner Aufgabenstellung her ein Gegengewicht bei arbeitnehmerbezogenen Weisungen darstellen soll und es dabei nicht darauf ankommen kann, ob die Entscheidungen im Inland oder im Ausland getroffen werden. Außerdem ist das BAG insoweit inkonsequent, als es bei mehreren inländischen Betrieben eines ausländischen Unternehmens die Bildung eines Wirtschaftsausschusses bejaht, also nicht auf den „Ansprechpartner“ abstellt.* Hinzu kommt schließlich, dass auch der Konzern-BR nicht nur die von der Gegenseite getroffenen Entscheidungen aufgrund seines Mitbestimmungsrechts gegebenenfalls blockieren kann, sondern auch ein Initiativrecht besitzt, das nicht durch entsprechende organisatorische Dispositionen auf AG-Seite hinfällig gemacht werden darf.*

Ein Überbleibsel der öffentlich-rechtlichen Konzeption des Betriebsverfassungsrechts stellt die These des BAG dar, der BR könne als Organ im Ausland nicht tätig werden und deshalb auch keine (Teil-) Betriebsversammlung abhalten.* Dies hat den fast509 einhelligen Widerspruch der Literatur* sowie den des LAG Hamm* erfahren, ohne dass deshalb eine Änderung der Rsp absehbar wäre. Dies erstaunt umso mehr, als niemand Bedenken erheben würde, wenn eine im deutschen Handelsregister eingetragene Aktiengesellschaft ihre Hauptversammlung in der Schweiz oder in einem anderen Staat abhält.

4.3.
Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten

Während die beiden bisher behandelten Sachgebiete eine restriktive Haltung gegenüber der Betriebsverfassung erkennen lassen, ist dies bei der Auslegung des § 87 BetrVG nicht der Fall. Diese zentrale Vorschrift enthält in einem Katalog von 13 Ziffern die Felder der obligatorischen Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten. Die angesprochenen Gegenstände werden nicht nur weit ausgelegt; vielmehr sorgt die Rsp auch dafür, dass die Mitbestimmungsrechte in der Praxis durchgesetzt werden können. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen.

Nach § 87 Abs 1 Nr 1 BetrVG unterliegen „Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der AN im Betrieb“ der Mitbestimmung des BR. Nicht gemeint sind damit Weisungen, die sich auf die Durchführung der Arbeit als solche beziehen, wohl aber solche, die „Begleiterscheinungen“ der Arbeit betreffen. Dies betrifft etwa die Kleidung,* die Bedingungen der privaten Nutzung von betrieblichen Einrichtungen der Telekommunikation* sowie die Gegenstände der Gespräche über Zielvereinbarungen.* Soweit die aus den USA kommenden Compliance- oder Ethik- Richtlinien zusätzliche Verhaltenspflichten beinhalten, können diese nur mit Zustimmung des BR eingeführt werden.* Dies gilt etwa für das Verbot der Annahme auch kleinster Geschenke, für das Verbot von Liebesbeziehungen zwischen Betriebsangehörigen und für die Installierung einer Hotline, mit deren Hilfe Verstöße von Kollegen gegen Gesetze oder Richtlinien angezeigt werden können oder gar müssen.*

Nach § 87 Abs 1 Nr 6 BetrVG bezieht sich die Mitbestimmung auf die Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu „bestimmt“ sind, das Verhalten oder die Leistung der AN zu überwachen. Ob ein Zeiterfassungssystem oder eine konkrete Software diese spezifische Zwecksetzung aufweisen, kann in vielen Fällen zweifelhaft sein. Bei wörtlicher Auslegung hinge das Mitbestimmungsrecht in vielen Fällen davon ab, dass die AG-Seite eine entsprechende Zielrichtung verlautbart; dies zu vermeiden, läge als Ausweichstrategie nahe und würde oft der Mitbestimmung die Grundlage entziehen. Das BAG vertritt deshalb in stRsp die Auffassung, es genüge bereits, wenn das Informationssystem „geeignet“ sei, Verhalten und Leistung der AN zu überwachen.* Dies ist bei der EDV-mäßigen Erfassung von AN-Daten fast immer der Fall, zumal die gespeicherten Daten für sich alleine noch keine Aussage über Verhalten und Leistung zulassen müssen; vielmehr genügt es, wenn dies mit Hilfe von Zusatzwissen, wie einem Schichtplan oder einer Liste, möglich ist.* Wird beispielsweise der Warenfluss mit Hilfe von Radio-frequency identification-( RFID-)Technik erfasst, so ist die Mitbestimmung nach § 87 Abs 1 Nr 6 gegeben, wenn sich feststellen lässt, wer zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort für die Ware verantwortlich war.

Nach § 87 Abs 1 Nr 7 BetrVG besteht ein Mitbestimmungsrecht über den Gesundheitsschutz „im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften oder der Unfallverhütungsvorschriften.“ Als eine solche Rahmenvorschrift wird auch § 5 ArbeitsschutzG angesehen, der grundsätzlich für jeden Arbeitsplatz eine sogenannte Gefährdungsbeurteilung vorschreibt. Da dort nicht festgelegt ist, welche Gefahrenquellen im Einzelnen zu untersuchen sind und wer eine solche Studie vornimmt, kann der BR über das „Frageprogramm“ und die Auswahl des eingesetzten Experten mitbestimmen.* Beide Möglichkeiten können in der Praxis von beträchtlicher Bedeutung sein.

Die im Regelfall durchaus nicht eng verstandenen Mitbestimmungsrechte sind einem widerstrebenden AG gegenüber nur dann von Bedeutung, wenn sie auch gerichtlich durchsetzbar sind. Trifft er einseitige Anordnungen, ohne den BR zu fragen oder seine Zustimmung abzuwarten, so steht diesem ein Unterlassungsanspruch zu.* Dieser kann im Wege der einstweiligen Verfügung gesichert werden, die dem AG verbindlich aufgibt, vergleichbare einseitige Maßnahmen in Zukunft zu unterlassen und weiterwirkende Maßnahmen wieder rückgängig zu machen.* Auf diese Weise kann beispielsweise die Entfernung einer ohne Zustimmung des BR angebrachten Videokamera recht schnell und problemlos durchgesetzt werden.

5.
Zusammenfassung

Die Bilanz von 40 Jahren kollektivem Arbeitsrecht in Deutschland kann keine Begeisterungsstürme auslösen. Der Gesetzgeber hat auf die Globalisierung510 der Märkte mit dem AEntG nur zögerlich reagiert. Im Übrigen hat er bis in die jüngste Vergangenheit die gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten eher beschränkt als gefördert, was nicht zuletzt an dem „Streikparagraphen“ und den Hartz-Gesetzen deutlich wurde. Die Haltung der Rsp war sehr viel differenzierter. Auf der einen Seite erleichterte sie die Einstellung prekär Beschäftigter, auf der anderen Seite stärkte sie die Handlungsmöglichkeiten der AN-Seite, indem sie die kollektive Koalitionsfreiheit wie andere Grundrechte interpretierte. Auf diese Weise wurden die Möglichkeiten für gewerkschaftliche Werbung verbessert und das restriktive Arbeitskampfrecht gelockert. Der Konkurrenz durch Billiglohn-Gewerkschaften wurde durch den Übergang zur Tarifpluralität der Wind aus den Segeln genommen; auf der anderen Seite konnte sich das BAG nicht dazu durchringen, qualifizierte Differenzierungsklauseln für zulässig zu erklären. Den Mitbestimmungsrechten des BR nach § 87 Abs 1 BetrVG stand die Rsp grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber.

Das Gebäude des kollektiven Arbeitsrechts ist in den vergangenen Jahrzehnten stehen geblieben. Da und dort wurde einiges ausgebessert und verschönert; anderes wurde eingerissen. Nur: Die Bewohner sind weniger mutig und weniger innovativ als in den siebziger Jahren. Auch hat ihre Zahl deutlich abgenommen. Von einem Sturm wie in Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Irland blieben sie verschont. Ob sie sich dagegen hätten wehren können? Nur unerschütterliche Optimisten werden dies mit einem vorsichtigen „Ja“ beantworten.