Ist das ArbVG noch aktuell – Betriebsverfassung
Ist das ArbVG noch aktuell – Betriebsverfassung
Problemstellung und Evaluierungskriterien
Die Betriebsverfassung als Gesamtsystem
Befunde und Trends
Reformbedarf
Betriebsratspflichtige Betriebe ohne BR
Arbeitnehmerbegriff neu
Betriebsbegriff neu
Mehr organisatorische Flexibilität
Verhältnis zu den einzelnen Arbeitnehmern – mehr Individualrechte?
Umfassende Vertragsfreiheit für die fakultative BV?
Betriebsverfassungsrechtliches Arbeitskampfverbot?
Erweiterung der Beteiligungsrechte in wirtschaftlichen Angelegenheiten?
Änderungsbedarf bei den Beteiligungsrechten und der Typologie der Mitwirkungsrechte520
Steigerung der Handlungsfähigkeit und Effektivität der Interessenvertretung
Schlussfolgerungen und Ausblick
In den 40 Jahren des Bestehens des ArbVG haben Umbrüche ohnegleichen die Arbeitswelt erschüttert. Die verdächtige Ruhe „im Auge des Taifuns“ täuscht. Eigentlich ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Man muss nur ohne Beschönigung und Beruhigungsparolen die Tiefen der Veränderungsdynamik zu erfassen bereit sein und hinter die bröckelnden Fassaden der guten alten Arbeitswelt blicken. Schon alleine deswegen ist es Zeit für eine Bilanz, wahrscheinlich Zeit für eine Revision, allenfalls auch für einen Schlussstrich.
Thema dieses Beitrags ist eine kurze Evaluierung der österreichischen Betriebsverfassung, einschließlich einer Skizze des Veränderungsbedarfs und der mittelfristigen Perspektiven. Das geht nicht ohne Bewertungskriterien. Damit gerät man aber unweigerlich in die Mühlen des Politischen. Ist das noch Wissenschaft? Der dominierende relativistische Interessenpluralismus spricht der Wissenschaft gerne die Legitimation ab, rechtspolitische Reformen mit ihren Methoden zu begründen. Für das Spiel der Mächtigen war Wissenschaft immer schon ein Störfaktor. Abgesehen davon ist das Unterfangen auch aus anderen Gründen schwierig: Empirische Grundlagen sind dünn gesät. Das Thema ist unermesslich breit. Prognosen unterliegen den Gesetzen der Fragilität, der systemischen Turbulenzen und der daraus resultierenden Volatilität der Trendentwicklung.
Eine kritische Betrachtung ist schon deswegen angebracht, weil es, so wie allgemein im Arbeitsrecht, auch in der Betriebsverfassung massive Funktionsverluste* zu vermelden gibt. Und ganz offensichtlich konnte auch die Betriebsverfassung, wen würde dies aber wundern, die gewaltigen Tendenzen der Prekarisierung der Arbeitswelt, der Abschwächung der Schutzpotenziale des Arbeitsrechts und des massiven Niedergangs der Gestaltungsmacht der organisierten Arbeit nichts entgegensetzen. Sie gerät vielmehr zwischen die Mühlsteine der Destruktion der alten Arbeitswelt, die durch eine Logik hemmungsloser Deregulierung im Interesse einer kapitaldominierten Weltordnung vorangetrieben wird und den berechtigten Erwartungen einer sozial immer stärker in Frustration abdriftenden Masse an Lohnabhängigen. Im Folgenden sind diese Funktionsverluste, aber auch überlebte Bestimmungen und totes, dh ins Leere laufendes Recht ebenso zu reflektieren wie neue Handlungsfelder und Maßnahmen zur Erhöhung der dahindümpelnden Effektivität der betrieblichen Interessenvertretung.
Meinen Ansatz habe ich trotz des beängstigenden Problemdrucks konventionell geerdet. Nicht aus Überzeugung, sondern weil es gilt, „Glasperlenspiele“ zu vermeiden. Gaukler und Illusionskünstler haben wir im progressiv-humanistischen Lager genug. Wir leben zwar in einer Zeit, in der auf die neoliberale Konterrevolution der Gegenschlag einer radikalen Transformation des gesamten ökonomisch-rechtlichen Gefüges folgen müsste, es fehlt nur eine Kleinigkeit, der vielzitierte „subjektive Faktor“, der sich in Gestalt von Machtpositionen verdichten müsste. Daher gehe ich von einem Minimalkonsens aus, was den Vorteil hat, dass er von allen Interessengruppen als legitim anerkannt werden sollte. Es müsste in diesem Sinne Konsens darüber bestehen, es sei nützlich, die Betriebsverfassung unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob sie nach wie vor der Anforderung entspricht, eine gleichgewichtige und faire Berücksichtigung der Interessen von Wirtschaft und Beschäftigten zu ermöglichen.*
Im Bereich des Arbeitsverfassungsrechts kann man dabei auf zahlreiche höchstrangige Leitwerte aufbauen, etwa die Grundrechtecharta, die Europäische Sozialcharta, ILO-Konventionen, das sogenannte Europäische Sozialmodell, den verbal immer noch vorhandenen Konsens über eine „soziale“ Marktwirtschaft. Vor allem gibt es einen Basiskonsens, der gerade der Betriebsverfassung konkret zugrunde liegt: Auch wenn es von Hardlinern als störend empfunden wird, daran erinnert zu werden: sie ist eine Errungenschaft der AN-Seite, nunmehr ein gesicherter Bestandteil der Rechtsordnung und ihr normatives Grundmodell steht für die Idee eines Interessenausgleichs im Betrieb, in krassem Kontrast zu einer Alleinherrschaft des Betriebsinhabers (BI). Die Betriebsverfassung unterwirft in unterschiedlichen Intensitäten den BI dem Prinzip der Folgenverantwortung gegenüber den Beschäftigten.
Dieses normative Fundament wurde auch von der AG-Seite akzeptiert. Daher ist die Frage danach, wo sich in diesem Regelwerk Funktionsverluste und Lücken zeigen, wo sie überlebt hat und wo es auf Grund geänderter Verhältnisse Anpassungsbedarf gibt, wohl keine ungebührliche Parteinahme für eine Seite.
Im Hintergrund spielt immer auch die Erkenntnis mit, dass das kollektive Arbeitsrecht einen maßgeblichen Beitrag zur Standortqualität und zur Produktivität der Wirtschaft geleistet hat und leistet. In Zeiten, in denen das Kapital ohne eigene Leistung und unverdientermaßen massive Gewinne an Macht, Herrschaft und Hegemonie verzeichnet, muss an diese stabilisierende Grundfunktion nachdrücklich erinnert werden. Aufgabe der Wissenschaft ist es, ausgehend von diesem Kern gemeinsamer Wertüberzeugungen, unter den Gesichtspunkten von Konsistenz, Systematik, Funktionalität und Folgenevaluierung zur Erhöhung der Rationalität von Entscheidungen (des Gesetzgebers)521 beizutragen. Auch Interessen und ihre Träger haben sich dem Imperativ der Rationalität zu beugen.
Die Betriebsverfassung ist ein Produkt historischer Entwicklungen und ökonomischer Logiken. Sie ist nicht „am Reißbrett“ entworfen worden. Es erstaunt daher, dass es sich um ein sehr durchdachtes und in seiner inneren Logik sehr stringent durchkomponiertes System handelt. Wer mit Auslegungsfragen zu tun hat, kann sich zumeist darauf verlassen, dass im Bedarfsfall die systematische und teleologische Methodik gut funktioniert.
Rekapitulieren wir kurz die grundlegenden Kennzeichen,* um sie dann mit den Anforderungen der Gegenwart und kommender Zeiten zu konfrontieren. Sie zeichnet sich durch einen auffallend hohen Grad an Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen aus. Anders als im überbetrieblichen Raum werden nicht nur Regelungsinstrumente zur Verfügung gestellt, sondern auch Machtbeziehungen und Infrastruktur der Interessenvertretung erfasst. Ein Blick in die internationale Arena zeigt, wie ungewöhnlich eine solche Verdichtung und Feinarbeit in Bezug auf das betriebliche Machtfeld ist. Überraschend ist auch, dass die gesamte Betriebswelt ungeachtet der Unterschiedlichkeit von Branchen, Berufsfeldern, Interessenlagen und Wirtschaftskraft – abgesehen von den Personalvertretungen und Kleinstbetrieben – einer österreichweit einheitlichen und absolut unabdingbaren Regelung unterworfen wurde. Und auch die strenge Trennung des Systems „KollV“ vom System „Betriebsverfassung“ wirkt exotisch und auf den ersten Blick befremdend. Erst bei näherer Betrachtung erkennt man hier eine überzeugende Ratio. Es geht nicht vorrangig um die Unterscheidung zwischen überbetrieblicher und betrieblicher Interessenvertretung, sondern um einen völlig unterschiedlichen und fundamental anders legitimierten Typus der Einflussnahme auf die Arbeitswelt. Im einen Fall handelt es sich um eine in Koalitionsfreiheit und staatsferner Autonomie wurzelnde Form des Einsatzes von kartellierter und organisierter Marktmacht, im anderen Fall um eine staatlich organisierte Mitbeteiligung an den Betriebsund Unternehmensentscheidungen, deren Legitimationsgrundlage und Entscheidungsmodus dem Typus „demokratische Selbstverwaltung mit Zwangsmitgliedschaft“ entspricht. Die (formal sehr strenge) Trennung von Gewerkschaft und BR erscheint in diesem Lichte nicht ganz so willkürlich, wie es den Anschein hat.
Die Betriebsverfassung wurzelt in der Ideenwelt der Rätebewegung* und in der Utopie einer Räteverfassung.* Nur Spuren sind noch vorhanden, der Kerngehalt einer sich progressiv entwickelnden Beteiligung an sozialen und perspektivisch auch wirtschaftlichen Entscheidungen auf allen Ebenen der Gesellschaft hat sich im Zuge der Schubumkehr, die der neoliberale Umbruch bewirkt hat, in Nichts aufgelöst. Es ist nämlich ein geradezu revolutionärer und mE hochaktueller Gedanke, die Arbeitsbeziehungen von der Wirtschaftsverfassung her zu denken und die wirtschaftlichen Verhältnisse als Bestandteil des demokratischen Prinzips zu sehen.* Da ist das Kollektivvertragssystem und das darunter gelagerte System einer liberal-anarchischen Arbeitsverfassung (jene „Roharbeitsverfassung“ iSv Kahn-Freund, die auf der Basis von Koalitionsfreiheit, Vertragsfreiheit und Handlungsfreiheit des Faktors Arbeit auch ohne weitere gesetzliche Regulierungen zur Verfügung steht), sehr viel kapitalismusaffiner, und die Sozialpartnerschaft ist sowieso nur ein müder Abklatsch im Vergleich zur Perspektive rätegesteuerter Produktionsprozesse. Nicht weiter gedacht wurde auch die dem Rätegedanken zugrunde liegende enge Interaktion von Vertretern und Vertretenen. Eine Spurensuche würde hier verblüffende Parallelen zur Ideenwelt des italienischen Postoperaismus* freilegen und sich damit plötzlich mitten in einer Theorie einer Arbeitenden-Bewegung des 21. Jahrhunderts wiederfinden.
Zweitens ist festzuhalten, dass die Betriebsverfassung auch und gerade ein Kind der erfolgsverwöhnten „AN-Gesellschaft“* des 20. Jahrhunderts ist. Unter den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen des „goldenen Zeitalters der Prosperität“,* jener Wachstums-Wohlstandsmaschine, die erhebliche Teile des 20. Jahrhunderts geprägt hat, konnte sie blühen und gedeihen. Unter dem (Schutz-)Schirm solcher Rahmenbedingungen macht ein Kooperationsmodell mit starken Beteiligungsrechten tatsächlich Sinn. Hingegen besteht unter den radikal veränderten Rahmenbedingungen eines deregulierten, vom Finanzkapital beherrschten und von „Marktstaaten“ politisch verwalteten Systems die Gefahr, dass die betriebsverfassungsrechtlichen Potenziale der Mitgestaltung verdorren, dysfunktional werden und gerade mal dazu ausreichen, den Niedergang der Lage des Faktors Arbeit zu moderieren und Verantwortung für Ergebnisse auch dort zu übernehmen, wo man sie letztlich nur ablehnen kann. Damit wäre der Betriebsverfassung ihre Hauptfunktion als Teilsektor der fordistischen (und harmonistischen) Utopie eines sozialverträglichen Kapitalismus mit der Perspektive eines permanenten sozialen Fortschritts entzogen. ISv Adorno („Es gibt kein richtiges Leben im falschen“) könnte hier analog gelten: Es gibt keine gute Betriebsverfassung unter der Herrschaft eines deregulierten Kapitalismus.
In seiner ökonomischen, sozialen und theoretischen Bedeutung kann man das Modell Betriebs522verfassung gar nicht hoch genug einschätzen. Es ist ein hervorragendes Beispiel für eine gelungene Organisierung der „Zivilgesellschaft“, für ein Modell, in dem Vertragsfreiheit und Eigentum, als die klassischen Elemente einer kapitalistischen Gesellschaft, entschärft und relativiert werden können durch die von Entscheidungen „Betroffenen“. Regulationstheoretisch ist vor allem der Versuch faszinierend, differenzierte Machtsteuerung mit Selbstverwaltungselementen und Komplexitätsbewältigung zu kombinieren. Alleine deswegen verdient die Betriebsverfassung höchste – auch wissenschaftliche – Aufmerksamkeit. „Zivilgesellschaft“ wird heute als loses Konglomerat sich selbst organisierender „Bewegungen“ verstanden. Die in der Betriebsverfassung so intensiv angesprochenen Fragen einer differenzierten Machtausübung (Mitbestimmung), der Komplexitätsbewältigung (Information, Qualifizierung), der heteronomen Elemente (normative und zwingende Wirkungen) und der Abstimmung mit anderen Systemen (zB zu Gesetz und KollV) spielen in den heutigen zivilgesellschaftlichen Diskursen keine wesentliche Rolle. Die geringe Wirkungsmächtigkeit der „neuen sozialen Bewegungen“ ist wohl auch da rauf zurückzuführen. Wenn es historisch eine erfolgreiche zivilgesellschaftliche Bewegung gab, dann die der organisierten Arbeit.
Inwieweit wurden die in den Regelungen des ArbVG auskristallisierten Ziele, die dem betriebsverfassungsrechtlichen Teil des ArbVG zugrunde liegen, erreicht und wo zeigen sich Defizite? Haben sich die Rahmenbedingungen, Problemfelder, Bedarfs- und Interessenlagen geändert und welcher Anpassungsbedarf ergibt sich daraus? Ist die Betriebsverfassung überhaupt noch ein geeignetes Modell des Interessenausgleichs? Geht es überhaupt noch um Interessenausgleich? Oder ist längst etwas anderes auf der Agenda, zB eine umfassende Vermarktlichung der Arbeitskraft, ein Übergang in ein vernetztes System von Projekten aller Art, gesteuert von fluiden, mobilen und kurzlebigen Koordinationszentren? Oder können die sozialen Probleme ohnehin nur mehr durch ein bedingungsloses Grundeinkommen entschärft werden?
Derzeit befinden wir uns in einer radikal veränderten Phase des kapitalistischen Akkumulationsund Regulationsregimes. Diese Veränderungen haben spätestens in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen und sich seither in einem beängstigenden Tempo fortgesetzt.* In Bezug auf die Arbeitswelt wird dabei häufig von „Postfordismus“ gesprochen, was mE eine Übertonung des Aspekts des betrieblichen Produktionsregimes darstellt. Das neue ökonomische System, in das die Betriebsverfassung unweigerlich und schicksalhaft eingebettet ist, kann mit den Begriffen Globalisierung, Flexibilisierung, neue Qualitäten der Technik, Auflösung der bisher dominierenden (industriellen) Produktionskonzepte und „Betriebsformen“, Dominanz des Finanzkapitals über das Realkapital, Entstehung eines globalen Wettbewerbs und damit eines „globalen Arbeitsmarktes“, Vertiefung von Dumpingprozessen und Erosion von Staatsfunktionen ganz gut umschrieben werden.
Die Folgen für die Arbeitswelt sind dramatisch und, was noch schlimmer ist, mit Hilfe des klassischen Zuschnitts der politischen Verfassungen nicht beherrschbar. Man könnte es kurz so ausdrücken: Die transnationale Wirtschaftsverfassung hat die politischen Verfassungen, die in der Tradition der Aufklärung und der französischen Revolution stehen, der ihr eigenen Funktionslogik unterworfen – und Ähnliches ist auch mit den Arbeitsverfassungen passiert. Der Wachstums- und Wohlstandspartnerschaft der vorangegangenen Phase sind weitgehend die Grundlagen entzogen. Die AG verfügen über ungleich bessere strategische Möglichkeiten zur Gewinnerzielung, vor allem was die Nutzung der lohnabhängigen Arbeit anlangt. Der Erosion der Gestaltungsmacht des Nationalstaats stehen keine ausreichenden Kompensationen im transnationalen Raum gegenüber. Damit bricht für die AN ein zentraler Bestandteil sozialer Gestaltungsfähigkeit weg.
Die Staaten werden durch die geänderten Rahmenbedingungen selbst Bestandteil eines Wettbewerbs um „Standortattraktivität“. Daher auch der Übergang zu Netzwerken und „governance“ anstelle von Demokratie und Rechtsstaat. Austeritätsprogramme und die Änderung der Einkommens- und Vermögensverteilung zu Lasten der AN und der von sozialen Leistungen abhängigen Massen sind die Folge. Die nach wie vor territorial organisierten politischen Systeme sind den Kalkülen eines extrem verflüssigten und hochmobilen internationalen Kapitals, ausgefeilten Standortrankings und einer unerbittlichen Abstrafung durch die Märkte im Falle von Unbotmäßigkeit ausgeliefert. Kapitalflüsse und Investitionsentscheidungen reagieren auf Veränderungen der Profitabilität hoch sensibel. Auf dem Weltwirtschaftsforum 1996 richtete Hans Tietmeyer, Präsident der Deutschen Bundesbank, eine Mahnung an die versammelten Staatschefs: „Von nun an stehen Sie unter der Kontrolle der Finanzmärkte.“ Die Reaktion war lang anhaltender Beifall.*
Die Verschärfung des Wettbewerbs in der EU, befeuert durch das Binnenmarktkonzept und durch eine verfassungspolitische Konstruktion, die nicht dazu in der Lage ist, von der dominierenden negativen (liberalisierenden) Integration auf eine positive Integration (durch demokratisch legitimierte Politikgestaltung) umzuschalten, erzeugen eine verhängnisvolle Gestaltungslücke hinsichtlich sozialer, arbeitsbezogener, gesundheitsbezogener, ökologischer uä Ziele.* Unter der Peitsche von Wettbewerb, Profitmaximierung und Anlegerinteressen und eines zum Zuschauer oder bestenfalls Moderator degradierten politischen Systems können Konzepte der Flexibilisierung, der Atypisierung der Arbeit, der Individualisierung der523 Arbeitsbeziehungen, der Bindung der Interessen der Beschäftigten an die Unternehmensinteressen, der Risikoverlagerung auf die AN, der Aushebelung von Rechtsdurchsetzungschancen, der permanenten Umstrukturierung der Betriebe, der Schaffung fluider Randbelegschaften, der Erpressung mit Standortverlagerungen, der Veränderung der Verteilungsrelationen zwischen Arbeit und Kapital, der Totalüberwachung im Betrieb, eines neuen Taylorismus bei geistiger Arbeit, der Aussortierung von weniger Leistungsfähigen, der Propagierung eines High-Performer-Wahns, der Verankerung eines neuen Leitbilds selbstverantwortlicher Arbeitskraft-Unternehmer usw relativ problemlos durchgesetzt werden. Die Lage der AN wird uneinheitlicher, differenzierter, ambivalenter und die für eine wirksame Gegenmachtentfaltung zentrale Fähigkeit zur Kartellierung der Arbeitskraft dadurch untergraben. Die solidarischen Orientierungen sinken, damit auch die Macht der Gewerkschaften und Betriebsräte.
Gleichzeitig bleiben dringend notwendige Reformen des Arbeits- und Sozialrechts aus, wie zB ein verbesserter Schutz atypisch Beschäftigter, eine Erweiterung des AN-Begriffs, angemessene gesetzliche Mindestlöhne, eine Verkürzung der Arbeitszeit mit ausreichendem Lohnausgleich, eine familien- und lebensfreundlichere Arbeitswelt, ein verstärkter Schutz vor den wachsenden psychischen Belastungen am Arbeitsplatz, Maßnahmen gegen den Trend der laufenden Verschlechterung der Lebensqualität, Abdichtung der tiefer werdenden Risse im sozialen Netz, Ausbau von ausreichenden Grundsicherungen im Sozialsystem, Investitionen in Bildung usw.
Die neuen Technologien, allen voran Informationsund Kommunikationstechniken (IKT), ermöglichen eine Auflösung der örtlichen und zeitlichen Bindungen an den Betrieb, statten die AG mit umfassenden Kontrollund Überwachungsmöglichkeiten aus, beschleunigen Flexibilisierungen und forcieren ein immer raffinierteres „integriertes“, „big-data-gestütztes“ Personalmanagement. Die neuen Methoden der Profitmaximierung stützen sich vor allem auf zwei Säulen: eine Optimierung der Arbeitsformen durch das Abgehen vom Normalarbeitsverhältnis (um Kosten zu senken, Flexibilität zu gewinnen und die Abhängigkeit zu steigern) und eine stärkere Bindung der Beschäftigten an die Unternehmensziele durch Methoden, die letztlich da rauf hinauslaufen, die Beschäftigten als ganze Person („biopolitisch“ und „psychopolitisch“) in den Dienst der Verwertung des Kapitals zu stellen, mit ihren Motivationen, ihren Einstellungen, ihrer inneren Bereitschaft, sich für das Unternehmen umfassend und mit allen Kräften einzusetzen.* Zielvereinbarungen, Prämiensysteme, Datenscreenings, Personalbeurteilungssysteme, Mitarbeitergespräche, Loyalitätstests, variable Entgelte usw stehen für einen Ansatz, in dessen Mittelpunkt auch von der EU forcierte Leitbilder der „Modernisierung“ der Arbeitswelt wie Beschäftigungsfähigkeit, Flexibilität, Identifikation, Anpassungsfähigkeit und Outputorientierung stehen.
Ergebnis ist, dass sich die Interessenvertretungen der AN, auch und vor allem jene in den Betrieben, in einer weit schwierigeren Lage befinden als noch vor 40 oder 20 Jahren: Erfolge werden schwieriger. Erpressungen durch Standortverlagerungen oder diskrete „Hinweise“ auf die Anlegerinteressen werden wirksamer. Mehrheitsfähige Ziele leiden unter der Fragmentierung und Differenzierung der Interessenlagen und Einstellungen. Die Individualisierung schreitet auch in den Belegschaften voran. Flucht nach vorne, rette sich wer kann, Resignation, Apathie, Sucht, Selbstaggression, innere Kündigung: das sind die Reaktionsweisen in der von einigen Wanderpredigern der Trendforschung gehypten (endlich von allen Entmündigungen durch Kollektive befreiten) Arbeitswelt. Betriebsratsarbeit ist damit zunehmend gekennzeichnet durch geringere Erfolge, größere Risiken und mehr Verantwortung für Entscheidungen, die man eigentlich ablehnen müsste. Es besteht die Gefahr, dass die Belegschaftsorgane eher als Feuerwehr denn als souveräne Interessenvertreter agieren. Sie schlittern damit in die Rolle von Verwaltern des Niedergangs und der laufenden Prekarisierungstendenzen.
Es stellt sich daher die Frage, wann die Schwelle überschritten ist, ab der ein Konzept der Mitbeteiligung an prekären Entscheidungen und Prozessen überhaupt noch Sinn macht. Ist die Betriebsverfassung zunehmend nur mehr ein systemfunktionaler, den Kern der Misere verschleiernder Bestandteil eines sozialpolitisch außer Kontrolle geratenen Raubtierkapitalismus? Ich lasse diese Frage hier offen, da Überlegungen dazu diesen Beitrag sprengen würden. Es ist ja dies ja auch eine Wiederauflage der alten Reformismus- und Revisionismusdebatten und der abgebrochenen Diskussionen über Mitbestimmung, Arbeiterkontrolle, Operaismus, Selbstverwaltung und ähnliche Themen. Solange aber nicht einmal ein Ansatz von Alternativen erkennbar ist, stellt sich für Österreich diese Frage ohnehin nur theoretisch. Man muss aber das Problem im Auge behalten und daraus Schlussfolgerungen für ein neues Leitbild und eine neue strategische Generallinie der betrieblichen Interessenvertretung entwickeln.
Die im Folgenden vorgelegte Skizze eines Reformbedarfs in Bezug auf den II. Teil des ArbVG stellt sich etwa folgenden Fragen: Welche offensichtlichen Defizite bestehen? Wo funktioniert das Regelungswerk nicht iSd angestrebten Ziele? Welche Handlungsfelder müssten auf Grund der neueren Entwicklungen und Problemlagen stärker betont werden? Welche Reformen sind im Bereich von Handlungsfähigkeit und Infrastruktur sinnvoll? Sind Korrekturen der Rsp erforderlich, soweit diese dem Regelungszweck offensichtlich nicht gerecht wurde?
Für den gesetzgeberischen Handlungsbedarf fallen folgende Indizien besonders ins Auge: Die Betriebs524verfassung läuft zum Teil leer und ihre faktische Handhabung entspricht nicht den normativen Vorgaben. In zahllosen betriebsratspflichtigen Betrieben besteht kein BR. Die Breite der Befugnisse wird nur sehr rudimentär ausgeschöpft. Die in der Praxis abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen decken sich nicht mit den vorgegebenen Regelungsbefugnissen. Sie pendeln zwischen ungenutzt und überschießend. Der vorgesehene Informationsfluss funktioniert häufig nicht, die Informationen kommen zu spät, tröpfeln spärlich und sind oft selektiert und manipuliert. Betriebsratsmitglieder laufen Gefahr, im Zusammenhang mit der Amtsausübung arbeitsrechtlichen Sanktionen unterworfen zu werden. Bei manchen Materien ist die Zuordnung zum Typus der Mitbestimmung/BV fragwürdig und neue Problemfelder sprechen für eine Erweiterung der Regelungsbefugnisse und Mitbestimmungsrechte. Bei Ausübung der Befugnisse der betriebsverfassungsrechtlichen Organe zeigen sich Symptome der Überforderung, der Überlastung und der Hilflosigkeit, so dass sich die Frage stellt, inwieweit Infrastruktur, Unterstützung, Vernetzung und Schutz der Belegschaftsvertretungen verbessert werden sollten.
Entgegen dem gängigen Ausdruck „betriebsratspflichtige Betriebe“ ist die Betriebsverfassung bei weitem nicht flächendeckend umgesetzt. Aus den dürftigen Statistiken geht hervor, dass in der Mehrzahl der Betriebe keine Belegschaftsvertretungen bestehen – je kleiner desto weniger – und dass der Trend nach unten weist. Das ist nicht nur ein soziales Problem, sondern auch ein ökonomisches, haben doch die Betriebe ohne BR einen unfairen Wettbewerbsvorteil.
Beteiligungsrechte setzen die Existenz eines BR voraus, auch die notwendige Mitbestimmung gem § 96 ArbVG. Nur zwei Ausnahmen bestehen: Beim Kündigungsschutz und bei der Mitbestimmung bei Kontrollmaßnahmen wurde eine Individualisierung vorgenommen.
Es besteht zwar so etwas wie eine Verpflichtung zur Errichtung der Organe,* diese ist aber sanktionslos. Die bestehende Möglichkeit einer Einrichtung durch Initiative von außen wird wenig genutzt oder auch nicht angenommen. Das Menü an mehr oder weniger subtilen Strategien der BI, die Einrichtung eines BR zu verhindern, ist raffiniert und variantenreich – und zeigt offensichtlich Wirkung. Das Argument, in den Belegschaften werde ein BR oft für überflüssig gehalten („unser Chef ist der beste Betriebsrat“), ist unter die Kategorie schlechter Witze einzureihen und eine Beleidigung der Intelligenz der AN.
Diese Situation muss daher deutlich verbessert werden. Aber wie? Für ungeeignet halte ich die Lösung, dass in Fällen der notwendigen BV auch bei Fehlen funktionsfähiger Organe die betreffenden Maßnahmen rechtsunwirksam sein sollen. Solange die Einrichtung der Organe eine Ermessensentscheidung der Belegschaft bleibt, sind Rechtsfolgen, für deren Vermeidung der BI keine (rechtlichen) Ingerenzmöglichkeiten hat, nicht sachlich begründbar. Ein Zwang zur Einrichtung von Organen ist mE abzulehnen, da bei Desinteresse der Belegschaft die Interessenvertretung nicht funktionieren kann. Oder will man dann subsidiär Kommissare einsetzen? Allerdings muss es Erleichterungen für die Einrichtung der Organe geben. Von den Initiatoren müssen Druck und Risiken genommen, ihr Schutz muss erheblich verstärkt werden. Falls es nicht zur Wahl eines Wahlvorstandes kommt, sollte ein solcher ex lege vorgesehen werden, ersatzweise allenfalls auch durch Übertragung der Funktion des Wahlvorstandes an Funktionäre der Arbeiterkammern, verbunden mit der Verpflichtung, eine Betriebsratswahl zu organisieren.
Nach dem Muster von § 10 AVRAG und dem individuellen Anfechtungsrecht gem § 107 ArbVG könnten verstärkt Individualrechte vorgesehen werden, wo die Mitbestimmung am Fehlen von Organen scheitert. Das würde der überaus reizvollen Idee, Betriebsräte zu verhindern, ein wenig ihre Anziehungskraft nehmen. Sollte sich die Situation aber nicht bessern und die Quote an Betrieben mit Betriebsräten nicht erheblich gesteigert werden können, müsste wohl der bisher betriebsverfassungsrechtlich gewährleistete Schutz (zB im Bereich der Kontrolle, der AN-Datenverarbeitung, der Sozialpläne usw) in entsprechende materielle (statt prozeduraler) Regelungen transferiert werden. Ein erstes Projekt könnte hier ein „Beschäftigtendatenschutzgesetz“ sein. Man sollte aber letztlich auch vor einer „Veröffentlichrechtlichung“ nach dem Muster des ASchG nicht zurückschrecken. So könnte als Ersatz für einen Sozialplan bei Betriebsänderungen eine Evaluierungs- und Maßnahmenpflicht nach dem Muster des § 4 ASchG vorgesehen werden. Ähnliches könnte auch für Frauenförderpläne gelten. Angesichts solcher Maßnahmen würden sich viele AG gerne einen kooperativen BR wünschen.
Wirtschaftlich abhängige Beschäftigtengruppen, die nicht AN iSd § 1151 ABGB sind, nehmen bekanntlich zu. Sie fallen durchwegs aus dem engen, auf die persönliche Abhängigkeit abstellenden AN-Begriff des § 36 ArbVG heraus.* Dieser sollte daher erweitert werden. Hier kann der Begriff der „arbeitnehmerähnlichen Person“ unter Miteinbeziehung der Kriterien, die im Arbeitsrecht und im Sozialversicherungsrecht (insb zu § 4 Abs 4 ASVG) entwickelt wurden, herangezogen werden. Grenzfälle könnten über eine Verordnungsermächtigung bzw eine kollektivvertragliche Regelungsbefugnis gelöst werden. Zu beachten ist, dass nicht alle Regelungsbefugnisse der BV auf diese Rechtsverhältnisse zugeschnitten sind.
Schwieriger zu lösen ist das Problem, den Betriebsbegriff an die neuen Verhältnisse anzupassen.525 Hintergrund ist, dass sich die zeitliche, örtliche und organisatorische Dichte der Arbeits- und Produktionsbeziehungen in einigen Bereichen der Wirtschaft verringert. Die Organisation der Arbeitsprozesse wird fluider, schnelllebiger, labiler, virtueller, netzwerkartiger. Man spricht bei diesen Betrieben etwa von „Amöben“ und von „atmenden Unternehmen“, von „virtuellen Betrieben“, von fluider Organisation. Dabei verkleinern sich die „Kernbelegschaften“ und lose angelagerte Randbelegschaften, netzwerkartig verknüpfte Untereinheiten, Einzelkämpfer, Subunternehmer und Projektgruppen kontrahieren mit dem Unternehmen. Die Beziehungen zu diesen Beschäftigten sind loser, flüssiger und flüchtiger. Bei derartigen „Gebilden“ ist es schwer, einen klassischen Betrieb mit festumrissenen Abgrenzungen zu identifizieren. Ein Betrieb iSd ArbVG wäre nunmehr in etwa so zu definieren, dass als eine organisatorische Einheit gilt, was auf der Grundlage von Vertragsbeziehungen in Bezug auf Produkte und Dienstleistungen produktiv zusammenwirkt, soweit sich auf diese Beschäftigten Entscheidungen eines Inhabers von Leitungs- und Organisationsgewalt beziehen. Man wird also den Betriebsbegriff stärker an den Wirkungen der Entscheidungen auf abhängig Beschäftigte und dem Zweck der Beteiligung an diesen Entscheidungen orientieren müssen. Neue Organisationsformen der Vertretung wird man ebenfalls benötigen, damit Organe wie Betriebsversammlungen uä auch de facto funktionieren.
Die geltende Betriebsverfassung lässt wenig Spielraum für organisatorische Variationen, alternative Organe, Arbeitsgruppen und Sondervertretungen. Das Organisationsrecht ist – angesichts der Zunahme von Differenzierungen und der Heterogenität der Interessenlagen – übertrieben starr und eben absolut zwingend ausgestaltet. Auch der KollV besitzt diesbezüglich keine Regelungsbefugnisse. Berichtet wird, dass ein Bedarf nach Differenzierung besteht, der zT durch privatrechtliche Konstruktionen abgedeckt wird. Deren Nachteil ist die Abhängigkeit vom Entgegenkommen des AG, wenngleich mE die Koalitionsfreiheit hier auch Raum für autonome Lösungen bieten würde. Derartigen Vertretungen stehen keine gesetzlich festgelegten Befugnisse zu, es besteht kein gesetzlich garantierter Schutz bei der Ausübung der Aufgaben und die Zusammenarbeit bzw Abstimmung mit bestehenden gesetzlichen Belegschaftsorganen ist nicht geregelt. Solche Vertretungen sind aber – entgegen Kuderna* – nicht rechtswidrig.*
ME sollte eine kontrollierte und maßvolle Flexibilisierung des Organisationsrechts ermöglicht werden. Die innere Organisation der Belegschaften kann aber nicht Gegenstand einer BV sein. Es muss sich systematisch korrekt um ein Alleinentscheidungsrecht (Selbstverwaltungsrecht) der Belegschaft handeln. Allenfalls für die Übernahme zusätzlicher Kosten und Verpflichtungen durch den BI könnte man eine BV vorsehen. Durch derartige Regelungen darf aber die Einheitlichkeit der Interessenvertretung nicht gefährdet werden. Mit der Übertragung von Kernbefugnissen auf betriebsintern neu geschaffene Organe sollte man daher vorsichtig sein. Es geht eher um „Arbeitsgruppen“, um die Auslagerung von Spezialaufgaben oder um die Nutzung besonderer Fachkompetenz. Der KollV sollte ebenfalls die Befugnis haben, branchenweise neue Organe zu schaffen und auch Pflichten des BI in diesem Zusammenhang zu regeln. Durch KollV und BV wäre es somit möglich, für Spezialaufgaben zB Diskriminierungsbeauftragte oder Anlaufstellen für Mobbing etc einzurichten und mit Befugnissen auszustatten. Quotenregelungen (zB für das unterrepräsentierte Geschlecht) sind hingegen (wie geltend) nur als „Sollvorschrift“ systemgerecht umsetzbar. Förderpläne für strukturell benachteiligte Gruppen, insb Frauen, sollten auch den Aspekt der Repräsentanz in den betriebsverfassungsrechtlichen Organen mit einbeziehen.
Wenn man die geltende Betriebsverfassung mit dem Label „kollektivistisch“ versieht, insb in Bezug auf die Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten, liegt man nicht ganz falsch. Allerdings ist der abwertende Gebrauch dieser Bezeichnung unberechtigt. Politisch konzipierte Organe können nicht primär als Anwälte individueller Interessen fungieren. Das ArbVG anerkennt in diesem Rahmen ohnehin individuelle Rechte betriebsverfassungsrechtlicher Natur (§ 37 ArbVG). Die Belegschaftsmitglieder sind bei der Ausübung dieser Rechte geschützt.
Eine weiter gehende Bindung der Interessenvertretung und Befugnisausübung an die individuellen Interessen einzelner AN wäre systemfremd. Die betriebsverfassungsrechtlichen Befugnisse greifen in die Vertragsbeziehung AG – AN ohnehin nicht ein, sie lassen bestehende vertragliche Rechtspositionen gänzlich unberührt. IdS kann etwa eine Zustimmung zur Versetzung oder zur Kündigung die gesetzlich, kollektivvertraglich oder arbeitsvertraglich eingeräumten Rechte des AN nicht beseitigen (idS auch § 37 Abs 3 ArbVG). Die Akzeptanz wird nicht gerade erhöht, wenn sich die Betriebsräte allzu häufig um Einzelanliegen bemühen. Es sollte also dabei bleiben, dass die Betriebsverfassung einen zusätzlichen Schutz zu Gesetz, KollV und Arbeitsvertrag gewährt, dieser aber folgerichtig an den betriebsverfassungsrechtlichen Willensbildungsprozessen und Verantwortlichkeiten anknüpft. Auch bei den personellen Mitbestimmungsrechten sollte man es bei der geltenden Konzeption belassen, mit einer Ausnahme: Das „Sperrrecht“ (§ 105 Abs 6 ArbVG) bei personenbedingten Kündigungen sollte wegen der existenziellen Bedeutung des Arbeitsplatzes beseitigt werden.* Bei abstrakten betriebsbedingten Kündi526gungen ist eine zwischen den Betriebsparteien koordinierte Personalauswahl aber nach wie vor sinnvoll. Von einer Betriebsvereinbarungsbefugnis für Richtlinien bei Personalentscheidungen (Einstellungs-, Beförderungs- und uU auch Kündigungsrichtlinien etc) könnte eine gewisse Versachlichung dieser heiklen Entscheidungen ausgehen.
Geht es um eine Beeinträchtigung der Interessen einzelner AN, ist der Kontrollmaßstab der „absichtlichen sittenwidrigen Schädigung“ gem § 1295 Abs 2 ABGB maßgeblich. Das ist aber eine sehr hohe Hürde. Wenn man es dabei belässt, wäre zumindest eine Beweislastverteilung analog zu § 105 Abs 5 ArbVG eine gewisse Hilfe für Fälle, in denen der Verdacht besteht, dass Belegschaftsorgane ihre Befugnisse missbraucht haben. Das Antidiskriminierungsrecht bindet wohl auch Entscheidungen, an denen der BR beteiligt war. Bei personellen Entscheidungen sollte eine Verpflichtung zur Anhörung im Kollegium vorgesehen werden, wenn der betreffende AN dies verlangt. Schadenersatzansprüche wären dann angebracht, wenn bei Ausübung des „Sperrrechts“, bei Zustimmung zu einer Versetzung oder einer Disziplinarmaßnahme der Betriebsratsvorsitzende ohne Deckung durch das Kollegialorgan gehandelt hat und der Vertrauensschutz des BI eingreift.
Zur Frage der Rolle der Individualinteressen einzelner AN gehört auch das Günstigkeitsprinzip. Hier werden bisweilen kritische Stimmen laut, die eine zweiseitig-zwingende Wirkung, etwa bei Ordnungsvorschriften, verlangen bzw sogar de lege lata vertreten.* ME ist das Günstigkeitsprinzip im Rahmen einer „korporatistischen Zwangsordnung“ wie der Betriebsverfassung systematisch die richtigere Lösung.
Der alte und wirklich nervende Streit um die „wegen fehlender inhaltlicher Regelungskompetenz unzulässige BV“ kann hier nicht vertieft werden. Diese Frage ist leider ein dogmatisches Minenfeld geblieben. Vorschläge, das strenge System der Unwirksamkeit kompetenzwidrig abgeschlossener Betriebsvereinbarungen und damit auch das ihm zugrunde liegende Konzept der begrenzten Rechtsfähigkeit der Belegschaft aufzugeben, scheinen vorerst viel für sich zu haben. Zum einen ignoriert die Praxis diese Vorgaben beharrlich, zum anderen stehen wir hier vor einer dogmatisch fast absurden Situation, weil die von Rsp und hM abgesegneten Ersatzkonstruktionen eine komplette Umgehung des gesetzlichen Modells der Kompetenzverteilung ermöglichen. Anerkannt sind ja bekanntlich auch perfekte Clones einer BV, die nicht nur die unzulässigen Inhalte erfolgreich transportieren, sondern auch deren Wirkungsweise im Maßstab 1 zu 1* simulieren.* Umso mehr verwundert es, dass den Überlegungen etwa von Spielbüchler und Steindl,* es handle sich dabei um eine Umgehung, „nicht einmal ignoriert“ wurde
Rein praktisch, also vom vielgerühmten „Hausverstand“ her (nebenbei: gute juristische Qualität steht in einem chronischen Konflikt mit dem Hausverstand), stellt sich aber doch die Frage, warum man etwas verhindern soll, was beide Betriebsparteien wollen und was mit den Mitteln des Arbeitsvertragsrechts (allenfalls über echte Verträge zugunsten Dritter oder über ausdrückliche oder konkludente Vertretungsbefugnisse) ohnehin erreicht werden kann. Ist es daher nicht an der Zeit, dass die (gegen die Realitäten kämpfende „klassische“) Dogmatik, der insofern eine gewisse Sturheit anhaftet, ihre Positionen aufgibt?
Dazu nur einige fragmentarische Anmerkungen: Die Gründe für die Absicherung einer begrenzten (auch auf schuldrechtliche Vereinbarungen erstreckten) Regelungsbefugnis der BV sind nach wie vor schlüssig. Auch sprechen gravierende verfassungsrechtliche und systematische Bedenken gegen eine Öffnung iS einer umfassenden Vertragsfreiheit der Betriebsparteien, und das nicht nur wegen der Normwirkungen. Es geht dabei nämlich nicht nur um den Vorrang des KollV, sondern viel maßgeblicher ist, dass die Betriebsverfassung eine ganz andere Art der Interessenvertretung darstellt als jene Regelungsinstrumente in der Arbeitsverfassung, die auf den Selbstbestimmungsrechten der AN als Vertragspartei basieren. Im Bereich einer betrieblichen Selbstverwaltung sind Heteronomisierungsprozesse von der Legitimation her gerade noch tragbar, im Bereich der materiellen Arbeitsbedingungen, um die es bei den „freien Betriebsvereinbarungen“ ja in Wahrheit geht, ist dies aber nicht mehr der Fall. Dass es dazu einer Ermächtigung durch den KollV (§ 29 ArbVG) bedarf, ist daher nur folgerichtig. Ich plädiere in dieser Frage für eine unzeitgemäße theoretische Stringenz, weil man sich gerade in Legitimationsfragen keine Schludrigkeiten leisten sollte.
Das ist aber noch keine Lösung des praktischen Problems. Dennoch sollte man hier nicht den beliebten Trampelpfad augenzwinkernder Toleranz gehen, sondern Farbe bekennen. Was bedeutet uns die Prärogative des KollV? Wie weit soll eine Interessenvertretung im Betrieb, die ja mit nicht gerade vernachlässigenswerten Machtpositionen ausgestattet ist, über die verteilbare Masse an „Leistungen“ für AN und Belegschaft entscheiden? Um nicht mehr und nicht weniger geht es. Der Vorschlag von Cerny, der BV eine Art Generalkompetenz einzuräumen, bestimmte Materien aber davon auszuschließen, ist ein interessanter Kompromiss.* ME müsste dann aber auch dafür vorgesorgt werden, dass der KollV Materien an sich ziehen kann bzw dass von Koalitionen getragenen Vereinbarungen eine Vorrangstellung zukommt, wie527 sie im Kollektivvertragsrecht durch § 6 ArbVG (mE verfassungsrechtlich geboten) abgesichert ist. Das Günstigkeitsprinzip bietet hier zu wenig.
Auswege? Man kann durch das ArbVG nicht abgedeckte Betriebsvereinbarungen durch eine Mitunterzeichnung der zuständigen kollektivvertragsfähigen Interessenvertretungen „sanieren“. Solche Vorgänge sind auch aus der Praxis bekannt.* Überhaupt wäre es systematisch richtiger, außerhalb des eigentlichen Wirkungsbereichs der Belegschaft Verhandlungsprozesse zu installieren, an denen BI (AG), Gewerkschaft (Koalitionen) und BR beteiligt sind. Das Ergebnis wären dann Vereinbarungen, die bestehende Lücken im derzeit sehr geschlossenen System KollV – BV schließen könnten. Sie wären erstreikbar, was Cerny systemgerecht für fakultative Betriebsvereinbarungen bei materiellen Arbeitsbedingungen ohnehin schon eingefordert hat.
Das von der hM nach wie vor vertretene betriebsverfassungsrechtliche Arbeitskampfverbot wird bisweilen in Frage gestellt.* Ist es nicht paradox, dass die österreichische Rechtsordnung über eine sehr weitgehende Streikfreiheit verfügt (nach neuerer Sichtweise ein „Streikrecht“),* aber ausgerechnet die demokratisch legitimierten Vertreter der Belegschaften über dieses Instrument nicht verfügen? Die Praxis ignoriert dieses Kampfverbot ohnehin weitgehend. ME ist der Arbeitskampf mit der inneren Logik eines fein abgestimmten Systems der Machtverteilung nicht kompatibel. Die Frage steht aber ohnehin nicht auf der Tagesordnung, da im Gesetz gar kein explizites Kampfverbot für die Betriebsparteien festgeschrieben ist. Dass der Gesetzgeber Arbeitskämpfe im Betrieb ausdrücklich erlauben wird, liegt außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit. Arbeitskämpfe um betriebliche Fragen sind außerdem ja nicht ausgeschlossen, daher geht es ohnehin nur um die Einhaltung einer korrekten Rollenverteilung.
Vorsicht ist geboten, wenn das Arbeitskampfverbot als ein Gebot zur Wahrung des „Betriebsfriedens“ ausgelegt wird.* Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit und die erwünschte Kooperation mit Koalitionen lassen Aussagen zu Arbeitskämpfen und zu „gewerkschaftspolitischen“ Themen und Strategien zu, in der Betriebsversammlung wie in den Belegschaftsorganen. Solidaritätsadressen sind ebenfalls noch kein Arbeitskampf, die Erörterung von Kooperationen mit der Gewerkschaft unter Wahrung der Trennung der beiden Bereiche sind keine betriebsverfassungswidrigen Aktionen. Vor einer extensiven Auslegung des Kampfverbots muss also gewarnt werden.* Eine Änderung der gesetzlichen Grundlagen ist dafür nicht erforderlich, aber etwas mehr Genauigkeit bei der Auslegung.
Eine Erweiterung der Mitwirkungsrechte in wirtschaftlichen Fragen scheint auf den ersten Blick ein ganz vorrangiges Reformziel zu sein. Dafür spräche, dass mit rechtzeitig eingebrachten Alternativvorschlägen und alternativen Planungen die sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Interessen der Belegschaft besser in die vorgelagerten Entscheidungen integriert werden könnten. Damit könne man Auswirkungen auf den personellen und sozialen Mitwirkungsbereich besser kontrollieren.
In der „fordistischen“ Epoche waren solche Argumente durchaus nachvollziehbar und es haftete daher auch der Forderung nach einer Erweiterung der wirtschaftlichen Mitbestimmung (bis hin zu einer paritätischen) ein verführerischer fortschrittlicher Nimbus an. Heute überwiegen aber die Bedenken: Zum einen ist in einer Zeit der Radikalisierung des Wettbewerbs und der Entfesselung der Marktkräfte eine Mitverantwortung für wirtschaftliche Entscheidungen problematischer geworden. Die Vorteile einer früheren Einbindung werden durch die Nachteile des damit verbundenen wirtschaftlichen Co-Managements (mit letztlich wahrscheinlich sehr geringen positiven Auswirkungen) übertroffen. Die nachfolgenden Entscheidungen im sozialen und personellen Bereich würden dadurch präjudiziert und legimitiert. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass wirtschaftliche Beteiligungsrechte so stark ausgestaltet würden, dass ein signifikanter Einfluss auf solche Entscheidungen möglich wäre (zB auf eine Standortentscheidung oder eine Fusionsentscheidung), abgesehen von verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber paritätischen wirtschaftlichen Mitentscheidungsrechten und der damit verbundenen Beeinträchtigung der (im Bereich der Betriebsverfassung zwar nicht verfassungsrechtlich geschützten, aber doch weithin realisierten) Gegnerunabhängigkeit der Belegschaftsvertretung.*
Wirtschaftliche Verantwortung der AN-Vertretungen wäre mE nur dann hinnehmbar, wenn sie durch entsprechende Makrokontexte, zB einer Art Wirtschaftsdemokratie und wenigstens einem halbwegs sozialverträglichen Kapitalismus (iS einer stark gemischtwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung), eingebettet ist. Da alle Tendenzen heute in die genau gegenteilige Richtung weisen, sollte man von der Forderung nach einer paritätischen wirtschaftlichen Mitbestimmung (anderes gilt für eine Beteiligung in Unternehmensorganen zum Zwecke der Information und Beratung)* Abstand nehmen. Sie wären auch mit einer mE erforderlichen neuen Konflikt- und Mobilisierungskultur nicht kompatibel.528
Die Wirksamkeit der personellen und sozialen Mitbestimmungsrechte wird durch die in Rsp und hL erfolgende weitgehende Anerkennung einer Ermessensfreiheit des BI in wirtschaftlichen Fragen stark geschwächt. Die vorgelagerten wirtschaftlichen Entscheidungen werden nicht auf ihre Sachlichkeit geprüft, es spielt keine Rolle, wenn „schonendere“ Alternativen bestehen.* Hier wäre eine Korrektur durch den Gesetzgeber angebracht. Gibt es zu einer wirtschaftlichen Entscheidung betriebswirtschaftlich sinnvolle Alternativen, die „sozialverträglicher“ sind, dann sollte dies bei der Rechtfertigung von Entscheidungen (wie Versetzungen, Kündigungen, Sozialplänen) eine wesentliche Rolle spielen. Das ist kein Eingriff in die behaupteten wirtschaftlichen „Management-Prerogatives“ (die es bei genauer Betrachtung ja gar nicht gibt), sondern es geht nur um die Feststellung des Gewichts der Betriebsinhaberinteressen im Rahmen der Rechtfertigung von sozialen und personellen Entscheidungen.
Eine weitere wichtige Verbesserung wäre eine Verankerung der Möglichkeit, bei Zugeständnissen der Belegschaft, etwa in Zusammenhang mit Betriebsänderungen, die vom BI als Gegenleistung zugesagten wirtschaftlichen bzw betrieblichen Entscheidungen (Modifikationen der Rationalisierungsmaßnahmen zB), in einer BV verbindlich zu vereinbaren. Wenn zB der BR betriebsbedingten Kündigungen zustimmt und dabei vom BI eine Rücknahme oder zeitliche „Streckung“ von Betriebsentscheidungen versprochen wird, müsste dieses Ergebnis verbindlich paktiert werden können und in der Folge auch einklagbar sein. Das gleiche würde etwa für Entscheidungen über technische Innovationen oder Betriebsmittel gelten, wenn sich im Gegenzug die Belegschaft mit Kontrollmaßnahmen oder Datenverwendungen einverstanden erklärt hat.
Das geltende System der Beteiligungsrechte hat sich gut bewährt. Das gilt auch für die erzwingbare Mitbestimmung. Die Konzeption der deutschen Mitbestimmung gem § 87 dBetrVG ist nicht optimal. Das Modell der erzwingbaren Mitbestimmung ermöglicht es dem BR, die Regelung einer Materie dem BI bzw dem Arbeitsvertrag zu überlassen, ohne mit dieser Regelung einverstanden zu sein. Zudem erfordert eine generelle Zustimmungspflichtigkeit bei betriebsnotwendigen Regelungen unweigerlich Ausnahmen.
§ 96 ArbVG wurde massiv kritisiert, bis hin zur Unterstellung einer Unvereinbarkeit mit der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie.* Abgesehen von dieser leicht überzogenen Bewertung gibt es aber durchaus schlüssige Argumente gegen das Modell einer notwendigen BV ohne Zwangsschlichtung. Vor allem erzeugt dieses Konzept doch sehr intensive Kompromisszwänge. Auch gibt es kein „Initiativrecht“ der Belegschaft. Man kann aber in diesen Zeiten so starke Beteiligungsrechte nicht aufgeben, da sie ja auch die „Gesamtsumme“ an Machtpositionen der Belegschaft erhöhen. Der Rsp und hM ist die unbestreitbare Stärke dieses Beteiligungsrechts offensichtlich nicht ganz geheuer: Mit Hilfe einer Verhältnismäßigkeitsprüfung wurde eine systematisch völlig verfehlte Relativierung iS einer von den betrieblichen Erfordernissen abhängigen variablen Mitbestimmungsschwelle vorgenommen.* Der auf diese Weise düpierte Gesetzgeber müsste das rückgängig machen, ebenso übrigens die völlig verfehlte Interessenabwägung bei Prüfung der betrieblichen Rechtfertigung von Personalbeurteilungssystemen, die zur Bestimmung der Mitbestimmungsschwelle eingesetzt wird.*
Der heikle und heute eminent bedeutsame IKT-Bereich ist in der Lösung in § 96a Abs 1 Z 1 ArbVG ausgezeichnet aufgehoben. Die Bestimmung ist zugegeben sehr weit formuliert, was die AG ziemlich verärgert, ermöglicht aber genau dadurch für den BR ein rechtzeitiges Einklinken in die Gestaltung des ganzen Systems. Die Lösung ist daher intelligent, wenn auch wirklich unangenehm für die BI.
Auch die Schlichtungsstelle ist grundsätzlich sehr überlegt durchkomponiert. Es stört nicht, dass sie wenig genutzt wird, weil man wahrscheinlich zu Recht davon ausgehen kann, dass sie für beide Seiten ein gewisses Drohpotenzial und somit ausgewogene Verhandlungsergebnisse sichert. Mag sein, dass dies aber auch ein Indiz für eine übermäßig ausgeprägte Konsenskultur ist. Unsicherheiten über die Ergebnisse mögen dabei auch eine Rolle spielen. Hingegen ist es ein Verstoß gegen die ursprüngliche Konzeption, wenn die Schlichtungsstellen hinsichtlich der Inhalte ihrer Entscheidungen stärker verrechtlicht werden.* Vertreter des öffentlichen Rechts* haben „berufsbedingt“ ihre Probleme mit einer Behörde, die keiner inhaltlichen Kontrolle unterliegt, die besonderen Verhältnisse der Staatsautonomie im kollektiven Arbeitsrecht sind ihnen wohl nicht ausreichend geläufig. Hier ist staatsferne (freie) Rechtsgestaltung mit „hoheitlichen“ (normativen) Elementen gefragt, wie dies KollV und BV eindrucksvoll vorführen. Schon der Rückgriff auf das verfassungsrechtliche Konstrukt einer unabhängigen Verwaltungsbehörde mit richterlichem Einschlag war ein leicht skurriler Sidestep, hat es aber immerhin ermöglicht, die Entscheidungen der nachprüfenden Kontrolle des VwGH zu entziehen. Der529 treffende Begriff der „Interessenstreitigkeit“ spricht gegen jeden Versuch, Determinierungen inhaltlicher Art vorzugeben. Hier geht es um eine ausschließlich durch Kompetenzen und Verfahrensregeln gesteuerte Rechtserzeugung, die dann eben durch einen Bescheid verbindlich gemacht wird.* Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Schlichtungsstelle privatrechtlich zu konzipieren. Eine andere Sichtweise unterwirft kollektives Arbeitsrecht staatlichen Vorgaben – ein Weg, den ich gar nicht zu Ende denken möchte. Abgesehen davon sind auf Rechtsanwendung trainierte Höchstgerichte denkbar schlecht dazu geeignet, zB über Sozialpläne, Arbeitszeitmodelle oder Rauchverbote (rechtsgestaltend) zu entscheiden.
Es soll nun noch kurz auf die Frage eingegangen werden, ob Verstärkungen und Verschiebungen der Mitbestimmung bei einzelnen Materien erforderlich sind. Es kann sich dabei nur um eine ganz kurz gehaltene Auswahl handeln:
Die Materie „Frauenförderpläne, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, familiengerechte Arbeitswelt“ ist als fakultative BV (§ 97 Abs 1 Z 25 ArbVG) völlig verfehlt eingeordnet. Sie müsste erzwingbar sein. Gleiches gilt für den Bereich der Gesundheit und der Humanisierung der Arbeit, hier ist ohnehin eine hohe Rendite auf präventive Maßnahmen zu erwarten. Die Regelungskompetenz „Arbeitszeit“ sollte (deklarativ) explizit erweitert werden, um Fragen der Erreichbarkeit, der Rufbereitschaft, der Reisezeiten, Sabbaticals, Vertrauensarbeitszeit uä. Mediation, Fairnessvereinbarungen, Diversität, Belästigungen und Mobbing sollten als Gegenstand einer erzwingbaren BV explizit genannt werden.
Eine Klarstellung wäre zum Problem des Verhältnisses unterschiedlicher Mitbestimmungsintensitäten erforderlich. So wie bereits in § 96a Abs 3 ArbVG vorgesehen, sollte generell gelten, dass bei Überlappungen jeweils das stärkste Mitbestimmungsrecht zum Zuge kommt. Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von atypisch Beschäftigten sollte nach dem Muster des Sozialplans der erzwingbaren Mitbestimmung unterworfen werden. Mitarbeitergespräche, Zielvereinbarungen, Gruppenarbeit und andere neue Personalmanagementmethoden sollten in einer BV regelbar sein, zT sind sie es derzeit bereits im Zusammenhang mit Sozialplänen.
Wie angesprochen gibt es bei der Realisierung der Befugnisse massive Lücken und Defizite. Auch etwaige neue Befugnisse könnten in diesem Sinne leerlaufen. Das Problem ist, dass solche Disfunktionalitäten zumeist nicht „rechtswidrig“ sind. Sie sind weitgehend kontextbedingt, zB Ausdruck von Überforderung, mangelhafter Infrastruktur, Zeitmangel, Akzeptanzproblemen, Rechtsunsicherheit, Wissens- und Informationsdefiziten, Untergrabung von Solidarität, Resignation, Erfolglosigkeit, mangelhaften Vernetzungen usw. Es geht generell darum, die Konfliktfähigkeit zu steigern, um die Bewältigung von Komplexität durch mehr Wissen, Information und Experten, um bessere Vernetzungen und schlicht auch um mehr Zeit für das Amt, mehr Ausstattung, mehr Geld und um einen stärkeren Schutz.
Als Ziele und Maßnahmenfelder sind vorrangig zu nennen: Die Informationslage der Belegschaftsorgane ist dringend zu verbessern –* durch rechtzeitigen Zugang zu allen Informationen, durch Kennzahlensysteme, einen Ausbau des Berichtswesens, eine umfassende Digitalisierung der Informationen, durch Anspruch auf fachgerechte Interpretation der Daten. Bei Verletzung der Informationsrechte oder Berichtspflichten sind höhere Verwaltungstrafen angebracht. Die Organe müssen weiters besser ausgestattet werden. § 72 ArbVG gewährleistet das nicht. Neben den Sachmitteln sollte auch eine an das Arbeitsvolumen im Betrieb gebundene Geldsumme zur Verfügung stehen. Hilfreich wären niedrigere Schwellenwerte für Freistellungen, die Ermöglichung von Teilfreistellungen, die Betriebsratstätigkeit sollte grundsätzlich während der Arbeitszeit erfolgen. Nützlich wäre eine Beweislastumkehr beim Nachweis der Erforderlichkeit bei Inanspruchnahme von Zeiten der Amtsausübung. Beim Faktor „Qualifizierung“ geht es um mehr Qualifizierungsfreistellungen, eine freie Wahl der Veranstaltungen, eine Erweiterung auf allgemeines Wissen über Recht, Gesellschaft und Wirtschaft, die Bezahlung der Teilnahme an Universitätslehrgängen ua. Weiters bedarf die Belegschaftsvertretung einer professionellen Unterstützung durch Experten, angestellte Mitarbeiter und Gutachter. Der BR sollte je nach Größe des Betriebes Mitarbeiter anstellen können, die wie in parlamentarischen Körperschaften die Arbeit der ehrenamtlichen Betriebsratsmitglieder unterstützen. Diese wären ausschließlich dem BR verantwortlich. Die Kosten hat der BI zu übernehmen. In härteren Zeiten ist auch der Schutz der Betriebsratsmitglieder zu stärken. Die geltende Rechtslage gewährleistet keine echte Immunität bei der Amtsausübung. Es gelten die arbeitsvertraglichen Pflichten, gemindert allenfalls durch die sogenannte Mandatsschutzklausel des § 120 Abs 1 ArbVG. Für Diskriminierungen wegen einer uU länger zurückliegenden betriebsverfassungsrechtlichen Tätigkeit wäre ein Schutz zumindest im Ausmaß des Diskriminierungsschutzes des GlBG vorzusehen, dh es sollte eine Beweiserleichterung geben. Schadenersatzansprüche für eine „erlittene persönliche Beeinträchtigung“ mit entsprechenden Mindestgrenzen können präventiv wirken. Auf Grund der Trendentwicklungen werden Vernetzungen der betrieblichen Aktivitäten „nach außen“ und „nach oben“ wichtiger. Der Zugang der freiwilligen und gesetzlichen Interessenvertretungen der AN zum Betrieb ist umfassend zu gewährleisten. ME ist die bestehende restriktive Regelung des § 39 Abs 4 ArbVG mit der Koalitionsfreiheit nicht vereinbar. Es sollten auch Betriebsrätekonferenzen institutionalisiert werden. Die Teilnahme daran wäre als Amtstätigkeit530 zu definieren. Die Wählbarkeit von Personen, die nicht zur Belegschaft gehören, ist zu einem Drittel zu ermöglichen. Der BR sollte weitere nicht stimmberechtigte Mitglieder kooptieren können.
Gesetzliche Änderungen, wie zB die oben vorgeschlagenen, sind sicher keine ganz kleine Reform, sie gehen aber über Korrekturen zur Sicherung eines angemessenen Interessenausgleichs, eine Anpassung an neue Problemlagen und eine Verstärkung der unbefriedigenden Wirksamkeit des Betriebsverfassungsrechts nicht hinaus. Dennoch tendieren die Realisierungschancen aus heutiger Perspektive gegen Null, wenn es bei der bisher praktizierten Verhandlungskultur bleibt. Weder ist ein Konsens der Sozial“partner“ zu erwarten noch wird der Gesetzgeber von der bisherigen Praxis, das „Njet“ eines der beiden Sozial„partner“ zu akzeptieren, abgehen. Bezieht man dann noch mit ein, dass auch sehr umfassende Reformen der österreichischen Arbeitsverfassung den oben dargestellten Generaltrend in der Arbeitswelt nicht wesentlich beeinflussen werden, dann stellt sich schlicht die Frage: Wozu eigentlich das Ganze?
Es fällt nicht leicht zu bekennen, dass sich solche Reformen dennoch lohnen und dass daher für solche Änderungen „mittlerer Reichweite“ ein strategischer Masterplan zu entwickeln wäre. Das bedeutet, einen harten Konflikt mit der Wirtschaft in Verfolgung der Gesamtinteressen der Arbeitnehmerschaft und wie ich meine auch der gesamten Gesellschaft erfolgreich durchzustehen. Was aber rechtfertigt diese uU für das österreichische Klima der Kooperation „neue Härte“? Das ist sehr einfach: Die Wirtschaft kann nicht permanent aus Funktionsverlusten des Arbeitsrechts, hier des Betriebsverfassungsrechts, Vorteile lukrieren und sich auf diese Weise schleichend vom Grundkonsens des Interessenausgleichs, der dem ArbVG inhärent ist, verabschieden. Dazu kommt, dass eine starke Betriebsverfassung nicht als „Standortnachteil“ anzusehen ist. Man sollte sich also vom jammernden Habitus der AG, die reflexartig eine Begrenzung ihrer Macht in den Betrieben beklagen, nicht beirren lassen. Hingegen steht die AN-Seite wirklich mit dem Rücken zur Wand. Eher wäre eine gewisse Dankbarkeit, wenn nicht sogar Demut angebracht, dass sich die österreichische AN-Szene trotz aller Angriffe auf soziale Standards und Arbeitsqualitäten immer noch auf ein geordnetes Kooperationsmodell im Betrieb einlässt. Es ginge ja auch anders und man könnte ja auch mal die Frage nach der Quelle der Wertschöpfung stellen.
Nun kurz zum Reformismus-Assimilations-Vorwurf: Ein strategischer Masterplan für „Fairness, Interessenausgleich und Wirtschaftsdemokratie“, um ihn plakativ zu umreißen, ist mehr als nur eine Verwaltung von Prekarisierungsprozessen: zB weil eine mitbestimmte Arbeitswelt doch einiges an Synergieeffekten erschließen kann, zB weil Mitbestimmung mehr Gerechtigkeit bei unzähligen Entscheidungen bedeutet, zB weil Betriebsräte wirksam die Einhaltung der bestehenden Gesetze kontrollieren können, zB weil sie langfristige Stakeholder-Interessen gegenüber kurzfristigen Anleger-Interessen stärken, zB weil sie dem „Neue Personalmanagement“ und dem biopolitischen Zugriff auf die Arbeitskraft Grenzen setzen können. Man sollte auch nicht vergessen, dass es viele Betriebe gibt, die durch ihre starke wirtschaftliche Position über erhebliche Spielräume verfügen, die Arbeitsqualität zu verbessern, und dass es auch viele Betriebe gibt, die durch Missachtung von Gerechtigkeit, Fairness, Persönlichkeit oder Familiensituation letztlich einen produktivitätsfeindlichen Kurs verfolgen und damit gesamtwirtschaftlich großen Schaden anrichten. Außerdem ist die Beteiligung Betroffener in der Wirtschaft ein Ziel, das einen eigenständigen Wert besitzt. Beschäftigte müssten heute als Betriebsbürger definiert werden, nicht als verzweckte Betriebsmittel.
Selbstverständlich ist das „Reformismus“ pur. Es handelt sich immer auch um einen Beitrag zu Anpassung, Konfliktbereinigung und Befriedung, und das in einer Zeit, in der eigentlich eine „große Transformation“ zu organisieren wäre.* Das ist aber nur die eine Seite: Parallel zu gesetzlichen Anpassungen an die neuen Verhältnisse kann und muss – diese Gefahren kompensierend – ein neues Leitbild der betrieblichen Interessenvertretung entwickelt und umgesetzt werden, das über einen Interessenausgleich auf der Basis der Beteiligungsrechte des ArbVG hinausgeht, in dem es dynamische, transzendierende und bewusstseinsverändernde Impulse setzt. Dessen Eckpunkte wären: mehr „konfliktorische Kooperation“, Öffnung für Diskurse, mehr Kontrolle (zB durch Kompromisslosigkeit bei Rechtsverletzungen), eine stärker „anwaltschaftlich“ definierte Rolle der Betriebsräte, eine stärkere Interaktion mit den Beschäftigten und vielleicht auch ein Hauch von „liquid democracy“. Vor allem geht es um „exemplarisches Lernen“* aus Konflikten, auch aus den Niederlagen. Es geht um die permanente Spannung zwischen weiterreichenden berechtigten Zielen (Humanisierung der Arbeit zB versus zunehmender psychischer Druck; Arbeitszeiten, die „Leben“ ermöglichen versus Flexibilisierungen als Anpassung an den betrieblichen Bedarf; durch IKT informierte und qualifizierte Mitarbeiter versus totalitäre Überwachungsregimes) und den bestehenden Grenzen für deren Realisierung, und in der Folge um Lernprozesse, die sich daraus entwickeln. Man kann das Politisierung, Solidarisierung, Entwicklung von Selbstbewusstsein, Wiedergewinnung der Definitionsmacht usw nennen – es ist wohl eine Mischung von alledem.
Auf diese Weise könnte sich die Betriebsverfassung als lernende Organisation verstehen, die tendenziell dazu in der Lage ist, die dominante Tendenz zu Individualisierung und Resignation zu durchbrechen. Dass eine solche Mobilisierung letztlich jene Spielregeln in Frage stellen könnte, nach denen die heutige Wirtschafts- und Arbeitswelt funktioniert, ist nicht ganz auszuschließen, ja durchaus erwünscht.531