103. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK)
103. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK)
Die 103. Konferenz 2014 fand von 28.5. bis 12.6.2014 in Genf statt. 7000 Badges (Zutrittsausweise) und 5254 Akkreditierungen wurden vergeben, also die größte Konferenz des Systems der Vereinten Nationen. In der nun schon in das letzte Jahrhundert hineinreichenden Tradition, weltweit Konsens betreffend Mindeststandards zu entwickeln, die Arbeitsbeziehungen gerechter gestalten sollen, liegt ein großes Potential, das derzeit Gefahr läuft, von deregulierungsfreundlichen Kräften zerstört zu werden. Im Jahr 2012 zeichnete sich diese problematische Entwicklung im Normenüberprüfungsausschuss ab, als die Kompetenz des unabhängigen Sachverständigenausschusses (CEACR) zur Interpretation der IAO-Übereinkommen (der im konkreten Fall das Übereinkommen 87 zur Vereinigungsfreiheit dahingehend auslegte, dass darin auch ein Streikrecht eingeräumt worden sei) von der AG-Seite abgesprochen wurde und erstmals in diesem Ausschuss keine Schlussfolgerungen angenommen werden konnten.* Im Folgejahr wurde zur Deeskalation kein Fall betreffend Streikrecht auf die Agenda genommen, wodurch der Ausschuss zwar wieder arbeitsfähig war, das Problem aber nicht gelöst, sondern, wie sich dieses Jahr zeigte, nur aufgeschoben war.
Auf der Liste der 25 Länder waren dieses Jahr ua Bangladesch, Belarus, Weißrussland, Nigeria, Venezuela, Kambodscha, USA, Kasachstan, Malaysia, Pakistan, Katar und Swasiland. Der Fokus lag bei der Anwendungsprüfung vor allem auf der Verletzung der Übereinkommen 81 (zur Arbeitsaufsicht), Übereinkommen 87 (Vereinigungsfreiheit und Schutz des Vereinigungsrechtes), Übereinkommen 111 (Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf) und Übereinkommen 29 (Zwangsarbeit). Mit Griechenland (Übereinkommen 102 – soziale Mindeststandards), Kroatien (Übereinkommen 98 – Vereinigungsfreiheit) und Portugal (Übereinkommen 122 – Beschäftigungspolitik) wurde der soziale Rückschritt aufgrund der Austeritätspolitik der EU-Troika zur Diskussion gestellt.*
Das Übereinkommen 81 spielt zB im Zusammenhang mit Katar eine große Rolle. Ein Vertreter der katarischen Regierung musste sich für die zahlreichen Arbeitsunfälle auf den Baustellen für die Fußball-WM 2022 verantworten. Seiner Meinung nach sei in Katar alles in Ordnung, die Arbeitsaufsicht funktioniere einwandfrei. Über 1,5 Millionen Migranten leben und arbeiten mittlerweile in Katar. Im Verhältnis dazu gibt es lediglich 150 Arbeitsinspektoren, die die Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz sowie die Situation in den Wohnlagern der Migranten überprüfen, die dieser Aufgabe nicht entsprechend gerecht werden können. Darüber hinaus gibt es keine wirksamen Sanktionen bei Verstößen gegen Arbeitsgesetze, wodurch AG weiterhin willkürlich vorgehen können und das Kafala-System (AG-Bürgensystem für die fast 90 % ausländischen AN) zu ihren Gunsten ausnützen. Der vorsitzende AN-Vertreter betonte mehrmals, dass Katar das nötige Geld habe, um Veränderungen zu bewirken, was jedoch fehle, seien der politische Wille und eine entsprechende Führung.
Am Ende jedes Normenausschusses werden üblicherweise Resolutionen verabschiedet. Dieses Jahr gelang das aufgrund mangelnden Konsenses zwischen AN- und AG-VertreterInnen neuerlich nicht. Problematisch war die Einigung zu drei Fällen des Übereinkommens 87. Die Sprecherin der AG-Seite verwies darauf, dass die AG das Streikrecht nicht als Teil des Übereinkommens 87, somit der Vereinigungsfreiheit, anerkennen wollen. Laut AN-Vertreter haben die AG-Vertreter dadurch einen Juristenstreit ausgelöst, der andernorts als im Normenausschuss zu lösen wäre. Er bezeichnete das Resultat des Normenausschusses als eine Katastrophe für die AN, äußerte seine Besorgnis und warnte davor, dass die gesamte Internationale Arbeitskonferenz künftig in Frage gestellt werden könnte, wenn keine Einigungen erzielt werden.
Generaldirektor Guy Ryder appellierte am Ende der Konferenz an alle Delegierten, die Gegensätze zu überwinden. Ansonsten drohen Auseinandersetzungen vor dem Internationalen Gerichtshof. Das wäre, abgesehen von der Unsicherheit des Ausganges, auch in Hinblick auf die Rechtsunsicherheit, solange das Verfahren dauert, sicher nicht die beste, aber letzte Lösung, wenn der Konsensweg hier verlassen würde.
Im Bericht „Durchführung des Programms der IAO 2012/13“* wurden ua Datenverknüpfungen präsentiert, bei denen Originaldaten zu Beschäftigung, sozialem Schutz und grundlegenden Rechten mit Analysen der diesen Trends zugrundeliegenden Politiken und Empfehlung zusammengestellt wurden, zur Frage, was auf Basis der IAO-Arbeitsnormen und Vorgaben der Aufsichtsorgane noch getan werden kann.
Der zweite Bericht „Faire Migration“* gab Impulse für die Konferenz, sich mit den Anforderungen, die die610 weltweite Migration an die politischen Rahmenbedingungen stellt, auseinanderzusetzen. Politische Initiativen im Bereich der Migration stoßen häufig auf eine ausgeprägte Divergenz zwischen dem allgemeinen nachgewiesenen wirtschaftlichen Nutzen der Migration und der ebenso allgemeinen Auffassung der Öffentlichkeit hinsichtlich ihrer negativen Auswirkungen. Insofern wird das Ausmaß von MigrantInnen im eigenen Land überschätzt, sowie angenommen, dass MigrantInnen mehr Leistungen aus sozialen Sicherungssystemen erhalten, als sie an Beiträgen einzahlen, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Da dem Mandat der IAO die These zugrunde liegt, dass dauerhafter Friede von der Schaffung von sozialer Gerechtigkeit abhängt, müsse anerkannt werden, dass die künftige kollektive Sicherheit ua entscheidend von der Schaffung von Möglichkeiten für menschenwürdige Arbeit abhängt.
Dieser Ausschuss hat das Ziel, nach zweijähriger Diskussion nächstes Jahr einen Empfehlungstext zu verabschieden, um den geschätzt sehr hohen Anteil informeller Beschäftigung zu reduzieren (höchster Wert für Südasien 82 % der Gesamtbeschäftigung ohne Landwirtschaft, EU laut Eurofound 18 % des BIP, insgesamt 1,47 Mrd Menschen laut IAO, bzw 1,8 Mrd laut OECD).
Wie bei allen Rechtsinstrumenten lag zunächst das Hauptinteresse auf dem Geltungsbereich. Auch bei einer Empfehlung, bei deren Ratifikation keine Umsetzungspflicht besteht, war insb bei dem anspruchsvollen Thema, das ja eingefahrene Pfade verlässt, die Einigung auf einen Geltungsbereich besonders schwierig, auch wenn das Instrument im nächsten Jahr nochmals diskutiert wird, wurden doch dieses Jahr schon gewisse Strukturen vorgegeben. Interessant war in diesem Zusammenhang die Orientierung an einer Matrix, die seitens der Internationalen Konferenz der Arbeitsstatistiker für die Erforschung des informellen Sektors angelegt wurde.
Besonders umstritten war, ob Hausangestellte, HeimarbeiterInnen, Tätige in Untervergabe oder Versorgungsketten und Subsistenzwirtschaftende in den Geltungsbereich aufgenommen werden sollten (Anliegen der AN). Einig war man sich nur, dass Hausfrauen/-männer und freiwillig Tätige nicht erfasst werden sollen. Fraglich aber blieb, ob bzw wie man an Eigentumsrechte oder Lokalitäten anknüpfen sollte (Anliegen der AG).
AG und AN einigten sich auf eine Konsensformel: „Informelle Wirtschaft wird in allen Sektoren im öffentlichen und privaten Raum ausgeführt“.
Explizit aufgeführt sind:
auf eigene Rechnung Tätige, Wirtschaftseinheiten in der informellen Wirtschaft;
AG, die in ihren eigenen Betrieben des informellen Sektors beschäftigt sind;
mithelfende Familienarbeitskräfte, ungeachtet der Art des Betriebes;
Mitglieder von informellen Erzeugergenossenschaften;
Beschäftigte, die informelle Tätigkeiten für informelle oder formelle Betriebe ausüben.
In der Diskussion um die Ziele, und dann konkretisierend im Kapitel Rechts- und Politikrahmen, wurden nach heftigen Diskussionen auch Entwicklungen der Informalisierung aus der formellen Wirtschaft heraus angesprochen, also Betriebe, die sich der informellen Wirtschaftseinheiten bedienen, um Steuern, Arbeitsund Sozialrecht zu vermeiden, dass also ergänzend zur Förderung der Formalisierung auch eine bessere Umsetzung bestehender Bestimmungen und Sanktionen gegen diese Entwicklungen angezeigt sind.
Ein weiterer Punkt der Auseinandersetzung in diesem Kapitel war die Frage, wie man eine inhärente Strategie verfolgen und die Zusammenarbeit der befassten Umsetzungsbehörden fördern kann, ohne Datenschutzprobleme zu generieren. Zu befürchten ist, dass zB Daten zwischen Steuer- und Zollbehörden und jene der Arbeitsinspektion und der Migrationsbehörden so vernetzt werden, dass es zu mehr Abschiebungen kommt, um Lohn- und Sozialdumping „im kurzen Weg“ zu vermeiden, oÄ.
Derzeit lautet der diesbezügliche Passus: „Das vorgeschlagene Instrument sollte vorsehen, dass die Mitglieder sicherstellen sollten, dass die innerstaatlichen Entwicklungsstrategien oder innerstaatlichen Pläne gegebenenfalls einen integrierten Politikrahmen zur Erleichterung der Übergänge von der informellen zur formellen Wirtschaft umfassen, unter Berücksichtigung der Rolle, die die unterschiedlichen Levels der Regierung spielen bei der Förderung des Überganges von der informellen zur formellen Wirtschaft; dabei sollten sie versuchen, die Kooperation zwischen den relevanten Behörden wie Steuerbehörden, Sozialsicherheitsinstitutionen, Arbeitsaufsichtsbehörden, Einwanderungsbehörden und Arbeitsservice unter anderem auf nationalem und lokalem Level, abhängig von nationalen Umständen zu verbessern.“
Als heikle Punkte diskutierte man in diesem Kapitel einerseits inwieweit „Hürden“ der Formalisierung darin zu sehen sind, dass informell Beschäftigte sich Registrierungsbestimmungen, Steuerregelungen, Ein haltung von Rechtsvorschriften unterwerfen müssen und die Kosten des Übergangs und auch diese Bestimmungen „gegebenenfalls“ zu verringern seien und andererseits darin, wie man am besten Zugang für die informell Beschäftigten zu Geschäftsdiensten, Finanzen,611 Infrastruktur, Märkten, Technologie, Qualifizierungsprogrammen und Eigentum schaffen könne und ob die Verschaffung von Zugang zu natürlichen Ressourcen zielüberschreitend wäre.
Heftig wurden die Auseinandersetzungen im Ausschuss im Kapitel „Die Rolle der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände“ hinsichtlich der Frage der Vertretung auf Seiten der informellen Wirtschaftseinheiten und inwieweit die Organisationen, die informell Tätige organisieren, aber eben keine AN-Vertretungen sind, hier in den Sozialen Dialog einbezogen werden sollten.
Die Kompromissformel lautete: „Der Soziale Dialog sollte von den repräsentativsten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen und gemäß nationaler Praxis unter Einbeziehung der Sichtweisen der mitgliederbasierten und repräsentativen Organisationen der Arbeitnehmer und ökonomischen Einheiten in der informellen Wirtschaft (NGOs) wahr genommen werden.“
Fraglich blieb im Kapitel Rechte und sozialer Schutz, welchen sozialen Schutz und welches Einkommen man informell Beschäftigten mindestens zubilligen sollte: soziales Basisschutzniveau, sozialen Schutz, oder Sozialversicherungseinbeziehung. Beim Einkommen war die diskutierte Abstufung: Einkommenssicherheit, existenzsicherndes Einkommen oder Mindestlohn; diese Fragen müssen bis zum nächsten Jahr ausdiskutiert werden.
Zur sozialen Sicherheit lautet der Passus derzeit: „Die Empfehlung sollte vorsehen, dass die Mitglieder im Hinblick auf die Erleichterung von Übergängen zur Formalität den Deckungsumfang der Sozialversicherung schrittweise auf die in der informellen Wirtschaft Tätigen ausweiten und, falls erforderlich, die Verwaltungsverfahren, die Leistungen und die Beiträge unter Berücksichtigung ihrer Beitragszahlungsfähigkeit anpassen sollten.“
In diesem Ausschuss wurde am 11.6.2014 mit großer Mehrheit ein neues Protokoll (verbindliches Instrument) zur Zwangsarbeit zum aus dem Jahr 1930 stammenden ILO-Kernübereinkommen (Nr 29) über Zwangsarbeit angenommen. Prävention, Schutz und Entschädigungsmaßnahmen werden verbessert. Als Protokoll zu einem Übereinkommen fällt es unter den Berichtsmechanismus zu den grundlegenden Rechten und Prinzipien bei der Arbeit: dh jährliche Berichtslegung an die ILO, solange nicht ratifiziert wurde.
Nach konstruktiven Verhandlungen auf Basis des Berichts „Beschäftigungspolitik für nachhaltige Erholung und Entwicklung – Wiederkehrende Diskussion im Rahmen der Erklärung der IAO über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung“ konnten eine Resolution verabschiedet und Schlussfolgerungen angenommen werden. Einigkeit bestand, dass die Notwendigkeit besteht, in den nächsten zehn Jahren 600 Mio Arbeitsplätze zu schaffen (für die derzeit 200 Mio Arbeitslosen und 400 zusätzlich zu erwartende Arbeitslose). Dieses ehrgeizige Ziel könne nur bei bester Kooperation zwischen IAO, Regierungen und Sozialpartnern gelingen.
Die Tagesordnung der nächsten Konferenz (geplant vom 1.6. bis zum 13.6.2015) wird in der nächsten Sitzung des Verwaltungsrates im November dieses Jahres festgelegt werden. Voraussichtlich werden neben den ständigen Tagesordnungspunkten: I Bericht des Vorsitzenden des Verwaltungsrats und des Generaldirektors, II Programm- und Budgetvorschläge für 2016-17, III Informationen und Berichte der Normanwendung, zusätzlich IV Kleine und mittlere Unternehmen und Schaffung menschenwürdiger und produktiver Beschäftigung, V Erleichterung des Übergangs von der informellen zur formellen Wirtschaft (Normsetzung, zweite Diskussion) und VI Wiederkehrende Diskussion zum strategischen Ziel sozialen Schutzes (Arbeitsschutz)* als weitere Tagesordnungspunkte von der Konferenz bzw konkretisierend vom Verwaltungsrat auf die Agenda gesetzt.612