48Wegunfall; geschützter Arbeitsweg auf dem Weg zur Bank?
Wegunfall; geschützter Arbeitsweg auf dem Weg zur Bank?
Beim Unfallversicherungsschutz des Arbeitsweges ist nicht nur die streckenmäßig, sondern auch die zeitlich kürzeste Verbindung geschützt.
Der Versicherungsschutz bleibt auch bei erheblichen Umwegen dann erhalten, wenn der Umweg dem Zweck dient, eine bessere Wegstrecke oder eine weniger verkehrsreiche oder eine schneller befahrbare Straße zu benutzen.
Ein Weg vom Arbeitsplatz in der Absicht, aus privatem Interesse eine Bank aufzusuchen, ist versichert, wenn sich der Unfall noch in einer Phase des Weges ereignet, die nicht ausschließlich diesem eigenwirtschaftlichen Interesse dient.
Am 25.3.2011 ereignete sich in K im Bereich der Kreuzung W/M ein Verkehrsunfall, bei welchem der Kl schwer verletzt wurde. Der Kl wohnte damals in K und war bei der in seinem Wohnort ansässigen W- GmbH beschäftigt. Er legte seinen Weg von und zu der Arbeitsstelle üblicherweise im direkten Weg über die H mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurück. Am Unfallstag war der Kl mit dem Fahrrad in die Arbeit gefahren. Vor Arbeitsschluss rief ihn seine Frau an und schlug ihm vor, das Rad stehen zu lassen. Sie holte ihn gemeinsam mit der Tochter mit dem Pkw von der Arbeitsstelle ab. Sodann beschlossen die drei, nicht (sofort) nach Hause, sondern (zunächst noch) zur Bankfiliale in L zu fahren, um Geld für den beabsichtigten Ankauf eines Möbelstücks zu beheben. Der Weg zu dieser Bankfiliale führte über die W und hätte in weiterer Folge über die B nach L geführt. Tatsächlich ereignete sich jedoch bereits an der Kreuzung W/M der Unfall, wobei der von M gelenkte Pkw gegen den von der Ehefrau des Kl gelenkten Pkw stieß.
Wäre die Ehefrau des Kl ohne den geplanten Umweg zur Bankfiliale nach Hause gefahren, hätte sie nicht den direkten, streckenmäßig kürzeren Weg über die H gewählt, sondern hätte die W, in weiterer Folge die H und die H und schließlich die B befahren, wobei sich die am Unfallstag gewählte Strecke bis zum Unfall noch mit dieser von der Ehefrau des Kl sonst befahrenen Strecke deckte. Diesen Umweg hat die Ehefrau des Kl regelmäßig genommen, da sie infolge von zwei von ihr in der H erlittenen Verkehrsunfällen den direkten Weg über diese Gasse mied. Der Kl selbst hätte, wenn er mit dem Pkw oder mit dem Fahrrad unterwegs gewesen wäre, den direkten Weg über die H genommen. Von den Einwohnern des dortigen Wohngebiets wurden bereits mehrmals Verkehrsunfälle wahrgenommen. Es kann nicht festgestellt werden, ob in diesem Bereich eine größere Unfallhäufigkeit gegeben ist als im Bereich des beabsichtigten Umwegs.
Die bekl AUVA sprach mit Bescheid vom 11.1.2012 aus, dass der gegenständliche Unfall nicht als Arbeitsunfall anerkannt werde und daher kein Anspruch auf Leistungen aus der UV bestehe.571
Das Erstgericht wies [die Kl] ab. Es beurteilte den [...] Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht dahin, dass ein Unfallversicherungsschutz nach § 175 Abs 2 Z 8 ASVG („Behebung des Entgelts“) nicht in Betracht komme, weil der Kl das Entgelt bereits in Teilbeträgen zuvor behoben habe. Es liege aber auch kein geschützter Wegunfall iSd § 175 Abs 2 Z 1 ASVG vor. Geschützt sei im vorliegenden Fall nur der „direkte“ Weg zwischen Arbeitsstätte und Wohnung des Kl. Der Weg zur Bankfiliale in L stelle daher einen im privatwirtschaftlichen Interesse gewählten Umweg dar und sei daher nicht vom Versicherungsschutz umfasst.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl dahin Folge, dass es das Ersturteil aufhob und die Sozialrechtssache zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen E an das Erstgericht zurückverwies. [...]
Es schade dem Kl [...] nicht, dass er am Unfallstag nicht mit seinem Fahrrad zu seiner Wohnung gefahren sei, sondern als Verkehrsmittel den von seiner Ehefrau gelenkten Pkw gewählt habe. Unstrittig sei, dass der von seiner Ehefrau eingeschlagene Weg nicht die streckenmäßig kürzeste Verbindung zwischen der Arbeitsstätte des Kl und der gemeinsamen Wohnung darstelle. Es schade dabei nicht, dass der Kl und seine Ehefrau zur Bankfiliale nach L fahren wollten, weil sich der gegenständliche Unfall noch auf dem von der Ehefrau des Kl regelmäßig genommenen Weg von der Arbeitsstätte des Kl zur gemeinsamen Wohnung und somit noch nicht in einer Phase des Weges ereignet habe, der ausschließlich persönlichen, eigenwirtschaftlichen Interessen (Aufsuchen der Bankfiliale) gedient habe.
Im vorliegenden Fall sei maßgebend, dass die das Fahrzeug lenkende Ehefrau des Kl nach den unbekämpften Feststellungen des Erstgerichts annehmen konnte, dass der streckenmäßig kürzeste Weg über die H nur unter für die Verkehrssicherheit wesentlich ungünstigeren Bedingungen benützt werden konnte, da sie in der Vergangenheit bereits selbst zwei Unfälle in der H erlitten und aus diesem Grund diese Strecke gemieden habe. Die von der Ehefrau des Kl gewählte (längere) Wegstrecke sei [...] unter Berücksichtigung der hier gegebenen maßgeblichen Umstände nicht als erhebliche Verlängerung der Wegstrecke anzusehen. In diesem Zusammenhang sei auch zu berücksichtigen, dass nach den erstgerichtlichen Feststellungen im Bereich der H eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h bestehe und somit der Weg über die H mit einem Pkw zeitlich jedenfalls nicht erheblich kürzer sei als die von der Ehefrau des Kl üblicherweise gewählte Fahrtstrecke. Nach der begründeten Auffassung der Ehefrau des Kl sei daher der von ihr gewählte Weg besser geeignet gewesen, den Weg von der Arbeitsstätte des Kl zur gemeinsamen Wohnung zurückzulegen. Der Unfall des Kl sei daher als Arbeitsunfall iSd § 175 Abs 2 Z 1 ASVG zu qualifizieren. Da das Erstgericht ausgehend von einer anderen Rechtsansicht keine Feststellungen über die beim Kl bestehenden Unfallfolgen getroffen habe, erweise sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig. [...]
Der Rekurs [der AUVA] ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.
Die Bekl macht im Wesentlichen geltend, der Umstand, dass die Ehefrau des Kl den Wunsch gehabt habe, den Weg möglichst störungsfrei zurückzulegen, könne keinen Grund dafür darstellen, bei der geringsten Verkehrsstörung einen Unfallversicherungsschutz auf einem Umweg zu begründen. Es bestehe auch kein Unfallversicherungsschutz, weil nicht der Kl, sondern seine Ehefrau als Lenkerin des Pkw bezüglich der Verkehrssicherheit wesentlich ungünstigere Bedingungen angenommen habe. Da der Kl in Kenntnis des Fahrverhaltens seiner Frau davon ausgehen musste, dass diese den Umweg über die W/H nehmen werde, habe er den Umweg bewusst in Kauf genommen, weshalb nicht mehr von seiner Schutzbedürftigkeit ausgegangen werden könne.
Diesen Ausführungen ist Folgendes entgegenzuhalten:
Arbeitsunfälle sind Unfälle, die sich im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung ereignen (§ 175 Abs 1 ASVG). Nach § 175 Abs 2 Z 1 ASVG sind Arbeitsunfälle auch Unfälle, die sich auf einem mit der Beschäftigung nach Abs 1 zusammenhängenden Weg zur oder von der Arbeits- oder Ausbildungsstätte ereignen. Versichert ist somit nach dieser Gesetzesstelle der mit der Beschäftigung zusammenhängende direkte Weg zur oder von der Arbeits- oder Ausbildungsstätte, der in der Absicht zurückgelegt wird, die versicherte Tätigkeit aufzunehmen bzw nach ihrer Beendigung wieder in den privaten Wohnbereich zurückzukehren.
Die Richtigkeit der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, ein Versicherungsschutz scheide nicht schon allein im Hinblick auf den im privatwirtschaftlichen Interesse beabsichtigten Umweg (Aufsuchen der Bankfiliale in L) aus, weil sich der gegenständliche Unfall noch auf dem von der Ehefrau des Kl regelmäßig genommenen Weg von der Arbeitsstätte des Kl zur gemeinsamen Wohnung und somit noch nicht in einer Phase des Weges ereignet habe, der ausschließlich dem erwähnten persönlichen, eigenwirtschaftlichen Interesse gedient habe, wird von der Bekl zu Recht nicht in Zweifel gezogen. Die Bekl bestreitet jedoch den Unfallversicherungsschutz, weil sich der Unfall nicht auf dem streckenmäßig „direkten“ Heimweg des Kl von seiner Arbeitsstätte ereignet habe.
Nach der Rsp ist grundsätzlich immer nur der direkte Weg zwischen der Arbeits- oder Ausbildungsstätte und der Wohnung geschützt. Dies wird in der Regel die streckenmäßig oder zeitlich kürzeste Verbindung sein, wobei einerseits das gewählte Verkehrsmittel maßgebend ist und andererseits der Versicherte zwischen im Wesentlichen gleichwertigen Möglichkeiten frei wählen kann. Auf einem durch Umweg längeren Weg besteht aber dann Versicherungsschutz, wenn der an sich kürzeste Weg unter Bedachtnahme auf das benützte private oder öffentliche Verkehrsmittel entweder überhaupt nicht (zB wegen einer Verkehrssperre) oder nur unter vor allem für die Verkehrssicherheit wesentlich ungünstigeren Bedingungen (zB Witterungs-, Straßenoder Verkehrsverhältnissen) benützt werden oder der Versicherte solche für die tatsächlich gewählte Strecke sprechende günstigere Bedingungen wenigstens annehmen konnte. Durch derartige Umstände erzwungene Abweichungen vom Weg berühren daher den Versicherungsschutz nicht (vgl Rudolf Müller in SV Komm § 175 Rz 178 f mwN; RIS Justiz RS0084380, RS0084838).572
Ist von dem Versicherten nicht der kürzeste Weg eingeschlagen worden, so entfällt der Versicherungsschutz also nur dann, wenn für die Wahl des Weges andere Gründe maßgebend gewesen sind als die Absicht, den Ort der Tätigkeit bzw auf dem Rückweg die Wohnung zu erreichen, und wenn die dadurch bedingte Verlängerung der Wegstrecke unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände als erheblich anzusehen ist. Dabei sind alle nach der allgemeinen Verkehrsanschauung zu berücksichtigenden Umstände in Betracht zu ziehen, insb der Wunsch, den Weg möglichst störungsfrei und zweckmäßig zurückzulegen, wobei auch objektive Kriterien zu berücksichtigen sind. Ferner ist die Wahl des vom Versicherten gewählten Verkehrsmittels und die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit, im Hinblick auf die Art des gewählten Verkehrsmittels einen bestimmten Weg einzuschlagen, um das Ziel möglichst schnell und sicher zu erreichen, zu berücksichtigen (10 ObS 5/05smwN). Wird daher der Umweg eingeschlagen, um eine bessere Wegstrecke oder eine schneller befahrbare oder weniger verkehrsreiche Straße zu benutzen, so ist der Unfallversicherungsschutz auf dem Umweg nicht ausgeschlossen. Ob die Voraussetzungen für einen Versicherungsschutz auf Umwegen vorliegen, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab (10 ObS 37/05x, SSV NF 19/29 mwN).
IS dieser Ausführungen ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass es dem Kl grundsätzlich nicht schadet, dass er am Unfallstag nicht mit seinem Fahrrad zu seiner Wohnung gefahren ist, sondern als Verkehrsmittel den von seiner Ehefrau gelenkten Pkw gewählt hat. Kleine Umwege, die nur zu einer unbedeutenden Verlängerung der Wegstrecke oder der Wegzeit führen, sind für den Unfallversicherungsschutz unschädlich (vgl 10 ObS 5/05s). Dabei sind im vorliegenden Fall die Ausführungen des Berufungsgerichts zu berücksichtigen, wonach die von der Ehefrau des Kl gewählte (längere) Wegstrecke [...] nicht als erhebliche Verlängerung der Wegstrecke angesehen werden könne, im Bereich der direkten Verkehrsverbindung über die H eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h bestehe und somit der Weg über die H mit einem Pkw zeitlich jedenfalls nicht erheblich kürzer sei als der von der Ehefrau des Kl üblicherweise eingeschlagene Weg.
Aber selbst wenn man davon ausgeht, dass die für eine abschließende Beurteilung der Frage, ob der von der Ehefrau des Kl gewählte Umweg unbedeutend oder erheblich ist, notwendigen eindeutigen Feststellungen fehlen, bleibt nach den oben dargelegten Grundsätzen auch bei erheblichen Umwegen der Versicherungsschutz bestehen, wenn der innere Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Weges und der versicherten Tätigkeit bestehen bleibt. Dies wird insb bei Umwegen bejaht, um eine bessere Wegstrecke oder eine weniger verkehrsreiche oder eine schneller befahrbare Straße zu benutzen. Im vorliegenden Fall traf die das Fahrzeug lenkende Ehefrau des Kl die Entscheidung, nicht den streckenmäßig kürzeren Weg über die H zu fahren, sondern den vom Erstgericht festgestellten streckenmäßig etwas längeren Weg. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Ehefrau des Kl habe wenigstens annehmen können, dass der streckenmäßig kürzeste Weg über die H nur unter für die Verkehrssicherheit wesentlich ungünstigeren Bedingungen benützt werden konnte, da sie in der Vergangenheit bereits selbst zwei Verkehrsunfälle in der H erlitten und aus diesem Grund diese Strecke gemieden habe, ist im Hinblick auf die festgestellten Umstände nicht zu beanstanden.
Soweit die Bekl damit argumentiert, die Abweichung vom streckenmäßig kürzesten Weg sei jedenfalls dem Kl vorwerfbar, weil er dies bei Fahrtantritt bereits gewusst habe und er daher die Heimfahrt mit diesem Verkehrsmittel gar nicht hätte antreten müssen bzw jederzeit die Möglichkeit gehabt hätte, den Pkw zu verlassen, ist ihr entgegenzuhalten, dass der Kl in diesem Fall den Heimweg mit dem Fahrrad oder zu Fuß hätte antreten müssen und er dann zwar die streckenmäßig, nicht aber die zeitlich kürzeste Verbindung gewählt hätte. In der Unfallversicherung geschützt ist jedoch nicht nur die streckenmäßig, sondern auch die zeitlich kürzeste Verbindung. Der der E 10 ObS 15/09t(SSVNF 23/14) zu Grunde liegende Sachverhalt ist mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar, weil der ebenfalls auf dem Heimweg des damaligen Kl wegen eines Geschäftstermins seiner Ehefrau eingeschlagene Umweg insgesamt ca zwei Stunden bzw ca 25 km betragen hat. [...]
Der Sachverhalt sei zum besseren Verständnis noch einmal vereinfacht wiederholt: Der Kl legt den Arbeitsweg üblicherweise mit dem Fahrrad zurück und befährt dabei die H-Straße,* die der geographisch kürzeste Weg ist, auf der aber eine 30 km/h- Geschwindigkeitsbeschränkung besteht. Er wird am Unfalltag von seiner Frau abgeholt, die auf dem Weg über die H-Straße in der Vergangenheit schon zwei Unfälle hatte und daher den ihrer Meinung nach sichereren (längeren) Weg über die W-Straße bevorzugt. Auf dieser Strecke besteht keine Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h. Das Ehepaar hatte aber nicht die Absicht, über die von der Ehefrau des Kl bevorzugte Route W-Straße und sodann „in weiterer Folge die H. und die H und schließlich die B“ nach Hause zu fahren, sondern es wollte von der W-Straße über die B-Straße nach L fahren, um dort Bankgeschäfte zu verrichten.
Der OGH handelt drei Problemkreise ab: Der (unproblematische) Wechsel des Kl in Bezug auf das573 Verkehrsmittel vom Fahrrad auf das Auto der Ehegattin (dazu ist weiter nichts zu bemerken), dann die Frage des Begriffs des „kürzesten Weges“ (Weg durch die H-Straße oder die W-Straße, siehe unten 1.) und letztlich noch die Frage, ob die W-Straße auch als Umweg versichert ist, der deshalb eingeschlagen wurde, weil die Ehefrau des Kl nach zwei dort erlittenen Unfällen den kürzesten Weg durch die H-Straße meidet (unten 2.). Die alledem vorgelagerte, mE aber in erster Linie entscheidungswesentliche Frage, ob sich der Kl zum Unfallzeitpunkt überhaupt auf einem Arbeitsweg iSd § 175 Abs 2 Z 1 ASVG befunden hat, erledigt der OGH mit dem Bemerken, dass sich der gegenständliche Unfall noch auf dem von der Ehefrau des Kl regelmäßig genommenen Weg von der Arbeitsstätte des Kl zur gemeinsamen Wohnung und somit noch nicht in einer Phase des Weges ereignet habe, der eigenwirtschaftlichen Zwecken diente. Damit vermischt der OGH aber mE zu Unrecht die Frage des Grundsätzlichen mit jener des Umweges (siehe dazu 3.).
Es ist ein ehernes Gesetz des Wegschutzes, dass grundsätzlich immer nur der direkte Weg zwischen den Endpunkten des Weges (zB der Arbeits- oder Ausbildungsstätte und dem ständigen Aufenthaltsort oder der Unterkunft) geschützt ist (OGH9 ObS 5/87SSV-NF 1/12; OGH10 ObS 86/88SSV-NF 2/55). Dies ist nach der Rsp idR die streckenmäßig oder zeitlich kürzeste Verbindung, wobei einerseits das gewählte Verkehrsmittel maßgebend ist und andererseits die versicherte Person zwischen im Wesentlichen gleichwertigen Möglichkeiten frei wählen kann (OGH10 ObS 374/89SSV-NF 3/158). Es entspricht daher der bisherigen Rsp, wenn der OGH auch in der vorliegenden E als „direkten Weg“ sowohl den streckenmäßig (H-Straße) als auch den zeitlich kürzesten Weg (W-Straße) gelten lässt und den Versicherten die Wahl zwischen diesen gleichwertigen Alternativen überlässt. Wenn daher auf dem Weg über die W-Straße eine auf dem kürzeren Weg durch die H-Straße bestehende Geschwindigkeitsbeschränkung (die beim Radfahren wohl nicht ins Gewicht fällt, wohl aber beim Autofahren) vermieden und damit im Ergebnis eine kürzere Fahrzeit erzielt werden kann, dann ist auch der geographisch weitere Weg durch die W-Straße geschützt.
Eigentlich hätte es der OGH – abgesehen von dem noch unter 3. zu behandelnden Problem – dabei bewenden lassen können. Wenn er den Weg über die W-Straße dennoch auch unter den für Umwege geltenden Kriterien untersucht hat, dann wegen einer in der Begründung angedeuteten Restunsicherheit, die daraus resultiert, dass die Tatsacheninstanzen just zur Frage des zeitlich kürzeren Weges im Verhältnis zum geographisch kürzeren Weg in Wahrheit keine Tatsachenfeststellungen getroffen hatten. Der OGH hat diese Frage selbst erstmals ins Spiel gebracht.
Selbst auf einem durch Umweg längeren Weg besteht aber dann Versicherungsschutz, wenn der an sich kürzeste Weg unter Bedachtnahme auf das benützte private oder öffentliche Verkehrsmittel entweder überhaupt nicht (zB wegen einer Verkehrssperre) oder nur unter – vor allem für die Verkehrssicherheit – wesentlich ungünstigeren Bedingungen (zB ungünstigen Witterungs-, Straßen- oder Verkehrsverhältnissen) benützt werden oder der Versicherte für die tatsächlich gewählte Strecke sprechende günstigere Bedingungen wenigstens annehmen konnte (OGH10 ObS 374/89SSV-NF 3/158; OGH 27.3.1990, 10 ObS 39/90uva). Es geht also entweder um die Unmöglichkeit oder um die Unzumutbarkeit der Benützung des kürzesten Weges. Durch derartige Umstände erzwungene Abweichungen vom Weg berühren den Versicherungsschutz nicht.
Dabei hat die bisherige Rsp entweder objektive Kriterien herangezogen oder es für die Zumutbarkeitsfrage genügen lassen, wenn der Versicherte auf der Alternativroute entsprechend günstigere Bedingungen (auch wenn sie dann nicht eingetreten sind) zumindest vertretbarerweise annehmen konnte.
Im vorliegenden Fall haben wir es aber nun mit zwei Besonderheiten zu tun: Erstens fährt nicht der Versicherte, sondern seine Ehefrau und diese bestimmt auch die Wahl der Strecke. Zweitens besteht der Grund für die Streckenwahl nicht darin, dass die W-Straße objektiv ungefährlicher ist (im Gegenteil: Wir erfahren, dass die andere Strecke sogar eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 30 km/h aufweist). Der H-Straße wird nach den Feststellungen empirisch keineswegs eine erhöhte Unfallgefahr zugeschrieben.
Das Motiv für die Streckenwahl lag aber darin, dass die Ehefrau des Versicherten auf der H-Straße schon zwei Unfälle hatte und aus diesem Grund diese Straße meidet. Es wäre daher (erstens) die Frage näher zu begründen gewesen, warum allein der Umstand, dass jemand in einer Straße schon zwei Unfälle hatte, es als vertretbar erscheinen lässt, dass er berechtigterweise einen Umweg wählt. Zweitens war zu klären, ob es einen Unterschied macht, ob der Versicherte selbst diese Annahme und Entscheidung trifft oder ob es sich um Befürchtungen eines Dritten (der Lenkerin) handelt.
Die erste Frage kann man nur dann bejahen, wenn man die unfallbedingte Angst des Versicherten vor einer bestimmten Wegstrecke zumindest als erhöhtes Unfallrisiko beurteilt und daher als rechtfertigendes Motiv gelten lässt (Risikovermeidung durch den Umweg). In einem zweiten Schritt muss man im vorliegenden Fall dann aber eine gleichgelagerte Angst des unversicherten Lenkers dem mitfahrenden Versicherten „gutschreiben“.
Ich halte die – teils implizite – Lösung beider Fragen durch den OGH für rechtlich vertretbar. Bei der zweiten Frage wäre für mich ausschlaggebend, dass der Versicherte, der bei jemand anderem mitfährt, bis zu einem gewissen Grad dessen Routenwahl ausgeliefert ist und daher jedenfalls nicht schlechter gestellt werden soll als er es wäre, wenn er unter denselben Bedingungen selbst gefahren wäre.
Auch in dieser Frage ist dem OGH mE also im Ergebnis zuzustimmen, wenngleich man sich den einen oder anderen zusätzlichen Gedanken in der Begründung als richtungsweisend für künftige Fälle gewünscht hätte.574
Zu dieser Frage hat der OGH nur nebenher Stellung genommen und sich auf die Erwägung beschränkt, der Unfall habe sich noch in einem Strecken teil ereignet, der als versichert gelten konnte (siehe dazu 1. und 2.) und nicht erst in der eigenwirtschaftlich geprägten Phase des Weges, welche der Kl und seine Ehefrau danach zu fahren beabsichtigten. Damit bezog sich der OGH der Sache nach auf die oben erwähnte Rsp zu trennbaren, gemischten Wegen.
Das ist aber nur dann richtig, wenn trotz des zum Zwecke eines Bankbesuchs geplanten Umwegs nicht in Zweifel steht, dass wir es immer noch mit einem Weg „zur oder von der Arbeitsstätte“ (§ 175 Abs 2 Z 1 ASVG) zu tun haben, der durch den Umweg bloß verlängert, aber in seiner rechtlich bedeutsamen Qualität nicht verändert wird.
Genau das ist aber nach dem Sachverhalt mehr als fraglich: Der Kl und seine Frau beabsichtigten vom Beginn der Fahrt an keineswegs, sich an ihren ständigen Aufenthaltsort zu begeben, sondern sie wollten nach L (offenbar einen Nachbarort) zu einer Bank fahren, um dort Bankgeschäfte zu erledigen. Damit bekam der Weg aber nicht nur eine (teilweise) andere räumliche Dimension, sondern auch einen ganz anderen Zweck.
Dazu eine Gedankenprobe: Wird der kürzeste Arbeitsweg (zufällig) an einem arbeitsfreien Tag befahren, so ist ein Unfall unbestreitbar nicht versichert, auch wenn der Weg räumlich „gepasst“ hätte: Der Weg wurde nämlich nicht in der Absicht zurückgelegt, (erstens) die Arbeitsstätte aufzusuchen, um dort (zweitens) der versicherten Tätigkeit nachzugehen.
Tomandl hat schon 1977 darauf hingewiesen, dass der Schutz der UV beim Arbeitsweg voraussetzt, dass ein geschützter Endpunkt des Weges erreicht wird und dass die Absicht besteht, dort eine bestimmte Tätigkeit (versicherte Arbeit bzw Wohnfunktion) zu verrichten. Das Erfordernis dieser „doppelten Finalität“ des Wegschutzes (Tomandl, Das Leistungsrecht der österreichischen Unfallversicherung [1977] 41) resultiert aus dem Umstand, dass es sich beim Arbeitsweg an sich um einen genuin privaten Bereich handelt, den der Gesetzgeber bloß aus sozialpolitischen Gründen in den Schutzbereich der UV einbezogen hat. Der private, aber unfallversicherungsrechtlich geschützte „Arbeitsweg“ muss daher von anderen privaten Wegen – auch auf derselben Strecke – unterschieden werden. Diese Unterscheidung kann nur eine dem Erfordernis der „doppelten Finalität“ entsprechende „Absicht des Versicherten“ (Tomandl, Der Wegunfall in der österreichischen und deutschen Unfallversicherung, in ders [Hrsg], Sozialversicherung: Grenzen der Leistungspflicht [1975] 146) leisten, maW eine den Anforderungen des Wegschutzes adäquate „innere Handlungstendenz“ der versicherten Person (vgl dazu mwN R. Müller in
Die innere Handlungstendenz entscheidet dann aber über den Schutz auf dem gesamten Weg. Denn wenn der Endpunkt des Weges nicht geschützt ist, dann ist es auch der gesamte Weg dorthin nicht, mag er geographisch auch ganz oder teilweise dem Arbeitsweg entsprechen. So sah das bisher an sich auch der OGH: Der Versicherungsschutz am Arbeitsweg setzt voraus, dass die Fortbewegung im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung oder mit der Inanspruchnahme der Wohnfunktionen steht (OGH10 ObS 24/88SSV-NF 2/23; OGH10 ObS 288/89SSV-NF 3/132).
Zurück zu unserem Fall: Bestand schon am Beginn des Weges erwiesenermaßen nicht die Absicht, an den ständigen Aufenthaltsort zu gelangen, sondern (wenngleich vielleicht nur als erstes von mehreren Zielen) eine Bank in einer anderen Gemeinde aufzusuchen, um Bankgeschäfte zu tätigen, dann schiene es mir auf den ersten Blick näherliegend zu sein, dass dieser abweichende Zweck den Weg als Ganzes „infiziert“. Die Konsequenz müsste sein, dass der gesamte Weg – und damit auch der Unfall – nicht versichert ist (ein geschützter Bankweg nach § 175 Abs 2 Z 8 ASVG kam nach dem Sachverhalt nicht in Betracht).
Man muss dem ersten Blick aber einen zweiten folgen lassen: Ein solcher von Anfang an schutzzweckfremder und daher nicht versicherter Weg muss nämlich von einem bloßen Umweg, der zwar selbst nicht versichert ist, dem aber nach der Rsp ein versicherter Weg vorangeht und auch nachfolgen kann, also vom Fall eines (bloß) gemischten Weges, abgegrenzt werden.
Denn auch ein solcher Umweg ist im Allgemeinen nicht zweckfrei: Entsprechend den Grundsätzen bei gemischten Tätigkeiten für den Versicherungsschutz ist bedeutsam, ob sich der zurückgelegte Weg eindeutig in zwei Teile zerlegen lässt, von denen der eine der versicherten und der andere der nicht versicherten Tätigkeit gedient hat (vgl R. Müller in
Ob somit ein bloß durch einen unversicherten Umweg unterbrochener, vorher und nachher aber geschützter (gemischter) Weg oder ein von Anfang an nicht geschützter, „anderer“ Weg vorliegt, kann mE nur danach bestimmt werden, inwiefern der Zweck des Umwegs (oder Abwegs) den geschützten Zweck daneben noch bestehen lässt, ob also die den Umweg prägende innere Handlungstendenz mit der für den Unfallversicherungsschutz erforderlichen Handlungstendenz noch vereinbar ist.
Besteht zB die Absicht, von der Arbeitsstätte ins Theater zu fahren, so ist evident, dass diese Absicht mit jener, den Wohnort aufzusuchen, auch dann nicht vereinbar ist, wenn der Weg ins Theater geographisch ganz oder teilweise derselbe sein sollte. Ein solcher Weg ist auch dann nicht geschützt, wenn und insoweit er mit dem Arbeitsweg räumlich ident ist.
Besteht hingegen zB die Absicht, auf dem Heimweg eine Tante abzuholen und zum Abendessen mit nach Hause zu nehmen, wofür ein Umweg575 gemacht werden muss, dann wird die den Versicherungsschutz begründende innere Handlungstendenz vor und nach dem Umweg nicht gefährdet sein.
Man hat also je nach dem räumlichen Ausmaß des Umwegs sowie nach dem Grund und der Zeitdauer der dadurch gegebenen Unterbrechung des eigentlichen Arbeitsweges zu beurteilen, ob der Zusammenhang mit dem geschützten Wegzweck noch gegeben oder ob dieser Zusammenhang weggefallen ist.
Diese Frage stellt sich also im Prinzip nicht anders als beim verspäteten Wegantritt, wobei an die Stelle der für ein Abendessen oder für die Einnahme eines Drinks judizierten Toleranzzeit von zwei Stunden (OGH10 ObS 246/97tSSV-NF 11/111– Lösung des Zusammenhangs mit einem kurzen Heimweg durch zweieinhalb- bis dreistündigen Gasthausaufenthalt; OGH10 ObS 1/90SSV-NF 4/20; OGH10 ObS 29/94SSV-NF 8/15– Heurigenbesuch von etwa drei Stunden; OGH10 ObS 246/95SSV-NF 10/25) andere Kriterien treten müssen. Zwei Stunden werden mit Rücksicht auf die bei Um- und Abwegen hinzutretenden versicherungsfremden Zwecke zu lang sein.
Zurück zu unserem Fall: Die Auffassung des OGH, so wie sie in der vorliegenden Begründung zum Ausdruck kommt, läuft darauf hinaus, dass es bei einem mit der Beschäftigung zumindest zeitlich zusammenhängenden Weg auf die Zweckbestimmung des Weges nicht ankommt, solange sich die versicherte Person nur geographisch im Schutzbereich des Arbeitsweges aufhält. Das führt aber – zu Ende gedacht – zu einer weitgehenden Auflösung des Systems des Wegschutzes, wie es uns in § 175 Abs 2 ASVG nach Maßgaben verschiedener Zweckbestimmungen sehr differenziert entgegentritt. Den obigen Rechtssatz Nr 3 halte ich daher für verfehlt. Ob der Fall im Ergebnis richtig gelöst wurde, hängt davon ab, welchen Weg- und Zeitaufwand der beabsichtigte Bankweg erfordert hätte und ob die Absicht bestand, gleich danach dem Heimweg von L an den Wohnort fortzusetzen. Davon hängt ab, ob am Unfallort noch Versicherungsschutz bestanden hat oder nicht.