Der Zugang zu Sozialleistungen
Der Zugang zu Sozialleistungen
Angesichts der hohen Kompetenz des hier versammelten Fachpublikums möchte ich darauf verzichten, meine Redezeit für eine Darstellung der unionsrechtlichen Lage und der bisherigen Rsp zu verwenden. Frau Univ.-Prof. Dr. Windisch-Graetz hat uns dazu soeben einen exzellenten Überblick verschafft. Ich hoffe es ist auch in Ihrem Sinne, wenn ich unmittelbar in die aktuelle Debatte einsteige. Diese aktuelle Debatte bestimmt sich vor allem durch das Urteil des EuGH vom 11.11.2014, C-333/13, in der Rs Dano. Dieses Urteil hat europaweit eine derartige Vielzahl von politischen und fachlichen Reaktionen hervorgerufen, wie das nur wenige Urteile in den vergangenen Jahren schafften. Als Berichterstatterin sollte man sich darüber an sich ja freuen, andererseits habe ich so manchen Applaus, zB den von Herrn Cameron oder Frau Le Pen, als unverdient und deplatziert empfunden. Wenn das Urteil auch in der Fachwelt als politisches Urteil qualifiziert wurde, dann kann ich das insofern nachvollziehen, als tatsächlich die Hauptbotschaft die war, dass das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen nicht unbeträchtlichen Spielraum lässt, um gewisse Phänomene des sogenannten „Sozialtourismus“ zu begrenzen. Dass dies auch bedeutet, dass zur Bekämpfung dieser Phänomene bereits das geltende Unionsrecht Grundlagen liefert und deswegen nicht die unionsrechtlichen Prinzipien in Frage gestellt oder neu verhandelt werden müssen, haben einige, die 450voreilig Applaus gespendet haben, offensichtlich nicht verstanden oder verstehen wollen. Was mich als Berichterstatterin mehr freut, ist, dass in den fachlichen Analysen trotz mancher Kritik an der Begründung des Urteils dennoch einige wichtige Klarstellungen gefunden wurden, die grundsätzlich als richtig eingestuft werden und auch als nützlich für alle, die mit den widerstreitenden Vorgaben der Freizügigkeits-RL (RL 2004/38) und der sozialversicherungsrechtlichen Koordinierungs-VO (VO 883/2004) zu leben haben.* In einem ersten Teil möchte ich mich daher auf die Klarstellungen konzentrieren, die dem Urteil in der Rs Dano zu entnehmen sind und die über den Ausgangsfall hinaus von genereller Bedeutung sind. In einem zweiten Teil möchte ich auf jene Fragen eingehen, die sich in derzeit in Behandlung befindlichen Fällen, der Rs Alimanovic (C-67/14) und der Rs Garcia-Nieto (C-299/14), zusätzlich stellen.
Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens lässt sich wie folgt kurz zusammenfassen: Frau Dano ist eine rumänische Staatsbürgerin, die bereits mehrfach nach Deutschland eingereist war; auch ihr Sohn wurde bereits in Deutschland geboren. Ihre letzte Einreise datiert aus dem Jahr 2010 und es wurde ihr von den deutschen Behörden eine unbefristete Freizügigkeitsbescheinigung für EU-Bürger ausgestellt. Sie verfügte über eine minimale Schulbildung, schlechte Deutschkenntnisse und war weder in Rumänien noch in Deutschland je berufstätig, galt aber als erwerbsfähig, und sie hat nach den Angaben des Vorlagegerichts auch keine Arbeit gesucht. Frau Dano stellte für sich und ihren minderjährigen Sohn beim Jobcenter Leipzig einen Antrag auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II, also Leistungen, die im Volksmund als Hartz IV-Leistungen bezeichnet werden. Ein erster ablehnender Bescheid wurde rechtskräftig, ein nach erneuter Antragstellung neuerlich ablehnender Bescheid wurde beim Sozialgericht Leipzig bekämpft. Dieses Gericht hat dann den EuGH um die Beantwortung einiger Fragen gebeten und im Vorlagebeschluss auch festgehalten, dass nach seiner Ansicht Frau Dano und ihrem Sohn kein Aufenthaltsrecht zukomme. Das Gericht hatte keine Zweifel daran, dass die Ablehnung aufgrund der anwendbaren Bestimmungen des deutschen Rechts zu Recht erfolgte, hatte aber Zweifel daran, ob diese deutschen Bestimmungen im Einklang mit dem Unionsrecht standen. Die sowohl im Fall Dano als auch im Fall Alimanovic zentrale Bestimmung ist die des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 des SGB II, die Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und deren Familienangehörige vom Bezug der Leistungen nach dem SGB II generell ausschließt. Im Fall der Frau Dano hatten die in diesem Fall zuständigen deutschen Behörden diese Bestimmung in einem Größenschluss zur Anwendung gebracht, in dem Sinn, dass wenn schon Arbeitssuchende ausgeschlossen sind, dann erst recht solche, die nicht einmal Arbeit suchen. Andere Sozialbehörden und Sozialgerichte haben in anderen Fällen diese Bestimmung allerdings völlig konträr ausgelegt, nämlich so, dass die Bestimmung nur Arbeitssuchende ausschließe und andere nicht. Diese anderen fielen unter den ersten Satz der deutschen Bestimmung und seien deshalb nur in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts ausgeschlossen. Eine E des Bundessozialgerichts, die hier vereinheitlichend hätte wirken können, gab es bis dato offensichtlich nicht. Beide Vorlageersuchen, das des Sozialgerichts Leipzig in der Rs Dano und das des Bundessozialgerichts in der Rs Alimanovic, verdeutlichen das Bemühen, eine unionsrechtskonforme und einheitliche Anwendung der deutschen Bestimmungen sicherzustellen.
Nun zu den Klarstellungen, die in der Rs Dano getroffen werden konnten:
Die Leistungen des SGB II sind „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ iSd Art 70 Abs 2 der VO 883/2004. Diese Einstufung wurde bereits vom Vorlagegericht vorgenommen und vom EuGH durch nicht Infragestellung bestätigt. Als solche „besondere beitragsunabhängige Geldleistung“ wurde schon im Urteil in der Rs Brey (EU:C:2013:965) auch die österreichische Ausgleichszulage eingestuft. Der Art 3 dieser VO sieht ausdrücklich vor, dass die Bestimmungen der VO auch für diese besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gelten und nicht nur für klassische Sozialversicherungsleistungen. Für diese Leistungen gelten zwar einzelne ausdrückliche Ausnahmen, zu diesen Ausnahmen zählt aber nicht das Diskriminierungsverbot des Art 4 der VO. Dieses Gleichbehandlungsgebot gilt daher auch für die „besonderen beitragsunabhängigen Geldleis tungen“ (Rn 46–55). Dies wurde im Verfahren vor allem von der deutschen Bundesregierung in Frage gestellt.
Die Einstufung als „besondere beitragsunabhängige Geldleistung“ iSd VO 883/2004 schließt aber nicht aus, dass es sich bei diesen Leistungen auch um Sozialhilfeleistungen handeln kann und deshalb auch Art 24 der Freizügigkeits-RL zur Anwendung kommt. Der Begriff der Sozialhilfe beziehe sich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichtete Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann. Diese Beschreibung der Sozialhilfe stammt aus dem Urteil in der Rs Brey. Art 24 Abs 2 der Freizügigkeits-RL sieht eine Ausnahme zu dem in Abs 1 dieses Artikels enthaltenen Diskriminierungsverbot vor. Diese Ausnahme (vereinfacht wiedergegeben) erlaubt es den Mitgliedstaaten, Personen, die nicht AN oder Selbstständige oder deren Familienangehörige sind, für die ersten drei Monate des Aufent-451halts oder für einen längeren Zeitraum gem Art 14 Abs 4 lit b der Freizügigkeits-RL bis zum Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt von Sozialhilfeleistungen auszuschließen. Diese Ausnahmebestimmung wurde vom EuGH insofern eng interpretiert und er sah im Unterschied zur Position der deutschen Regierung Nichtarbeitssuchende als nicht in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallend (Rn 66). Ohne ausführliche Prüfung stufte der EuGH eher en passant die gegenständlichen Leistungen als Sozialhilfeleistungen im unionsrechtlichen Sinne ein (Rn 69). Diese ausführlichere Prüfung war in Rs Danoinsofern nicht mehr notwendig, als schon die Anwendbarkeit des Art 24 Abs 2 der Freizügigkeits-RL rationae personae nicht gegeben war und somit sich auch die Prüfung daraufhin, ob es sich um Leistungen handle, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollten, erübrigt hatte.
Die sozialhilferechtliche Situation von Nichtarbeitssuchenden ist hingegen am Diskriminierungsverbot des Art 24 Abs 1 der Freizügigkeits-RL zu prüfen. Dieses Diskriminierungsverbot gilt für alle Unionsbürger, die sich aufgrund dieser RL im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates aufhalten. Das bedeutet, dass eine Gleichbehandlung nur jenen Unionsbürgern zusteht, deren Aufenthalt die Voraussetzungen der RL 2004/38 erfüllt. Für Personen, die sich länger als drei Monate, aber weniger als fünf Jahre im Aufenthaltsmitgliedstaat aufhalten, hat dies zur Folge, dass sie die Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 Buchstabe b der Freizügigkeits-RL erfüllen müssen. Dieser verlangt das Vorliegen ausreichender Existenzmittel und eines umfassenden Krankenversicherungsschutzes im Aufnahmemitgliedstaat (Rn 68–73).
Eine Gleichbehandlung von Personen, denen kein Aufenthaltsrecht zukommt, liefe dem im zehnten Erwägungsgrund genannten Ziel zuwider, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen zu verhindern. Art 7 Abs 1 Buchstabe b der Freizügigkeits-RL soll Unionsbürger daran hindern, das System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats zur Bestreitung ihres Unterhalts in Anspruch zu nehmen. Die sich daraus ergebende Ungleichheit ist eine unvermeidliche Folge der RL selbst (Rn 74–77).
Die in der Freizügigkeits-RL angelegten Ausnahmen von der Gleichbehandlungspflicht schlagen auch auf die Gleichbehandlungspflicht des Art 4 der VO 883/2004 durch. „Besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ werden nämlich gem Art 70 Abs 4 der VO ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffenden Personen wohnen, und nach dessen Rechtsvorschriften gewährt (Rn 83).
Die sekundärrechtlichen Gleichbehandlungsgebote des Art 24 Abs 1 der Freizügigkeits-RL und des Art 4 der VO 883/2004 sind Ausdruck des allgemeinen Diskriminierungsverbots des Art 18 AEUV (Rn 61). Aus den primärrechtlichen Vorgaben des Art 18 und des Art 20 Abs 2 des AEUV ergibt sich nichts anderes als aus dem Sekundärrecht. Das ergibt sich nur indirekt aus dem Urteil in der Rs Dano. Zum einen zitiert das Urteil Art 20 Abs AEUV, der ausdrücklich vorsieht, dass die Rechte, die dieser Artikel gewährt, nur unter den Bedingungen und innerhalb der Grenzen ausgeübt werden, die in den Verträgen und durch die in Anwendung der Verträge erlassenen Maßnahmen festgelegt wurden. Zum anderen prüft der EuGH die aufgrund des Sekundärrechts als zulässig erkannten Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgrundsatz nicht am Maßstab des Primärrechts, wie er das in älteren Fällen durchaus getan hat.*
Wenn die Mitgliedstaaten die Voraussetzungen und den Umfang von besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen festlegen, führen sie nicht das Recht der Union durch und deshalb ist der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta nicht eröffnet (Rn 91). Das Vorlagegericht hat in seiner vierten Vorlagefrage insb auf die Erfordernisse der Art 1 und 20 der Charta Bezug genommen. Der Gerichtshof musste sich aber als für die Beantwortung dieser Fragen unzuständig erklären. Die Ausgestaltung dieser Leistungen unterliegt daher ausschließlich den nationalen Grundrechtsverbürgungen.
Der Sachverhalt wurde vom Vorlagegericht nur sehr lückenhaft dargestellt und konnte auch durch meine Nachfragen bei der mündlichen Verhandlung nur teilweise vervollständigt werden, da die Anwältin, die die Familie Alimanovic vor der EuGH vertrat, nur sehr schlecht über die Biographie der Familie Bescheid wusste. Offensichtlich kam die ursprünglich bosnische Staatsbürgerin Nazifa Alimanovic als Folge des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland und war dort jedenfalls zwischen 1994 und 1999 aufhältig. In der Zeit gebar sie drei Kinder. Welchen aufenthaltsrechtlichen Status sie hatte und ob sie in der Zeit beschäftigt war, konnte nicht geklärt werden. Mit den Kindern verließ sie Deutschland in Richtung Schweden, wo sie und ihre Kinder die schwedische Staatsbürgerschaft erlangen konnten. Sie kamen im Juni 2010 wieder nach Deutschland zurück. Sie bekamen eine Aufenthaltsbestätigung nach dem EU-Freizügigkeitsgesetz ausgestellt. Frau Alimanovic und die ältere Tochter haben in der Folge zeitlich befristet bzw gelegentlich gearbeitet, wurden aber beide nach dem Mai 2011 arbeitslos. Beide bekamen ab dem Dezember 2011 bis zum 31.5.2012 das Arbeitslosengeld II und die noch nicht arbeitsfähigen Kinder die dafür vorgesehenen Leistungen. Diese Leistungen wurden von den deutschen Behörden aufgrund des Europäischen Fürsorgeübereinkommens gewährt und nach Wirksamwerden des deutschen Vorbehalts zu diesem Übereinkommen eingestellt bzw für den Monat Mai 2012 zurückgefordert. Diese E des Jobcenters Berlin Neukölln wurde vom Sozialgericht Berlin aufgehoben. Dies ua mit der Begründung, dass, obwohl sich Frau Alimanovic und ihre ältere Tochter nur auf ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche iSd § 7 Abs 1 zweiter Satz Pkt 2 SGB II berufen können, der Art 4 der VO 883/2004 eine Ungleichbehandlung mit eigenen Staatsbürgern verbiete und dies 452auch nicht in Widerspruch zu Art 24 Abs 2 der Freizügigkeits-RL stehe. Gegen dieses Urteil legte das Jobcenter Berlin Neukölln Berufung beim Bundessozialgericht ein, das dann den EuGH anrief. Das Vorlagegericht bewertete die Lage so, dass im Unterschied zum Fall Dano ein Aufenthaltsrecht iSd Freizügigkeits-RL vorliege, aber nur eines ausschließlich aus dem Titel der Arbeitssuche. Die nur gelegentlichen Beschäftigungen, die in weniger als einem Jahr gegeben waren, hätten zu einer Beibehaltung des AN-Status iSd Bestimmung des Art 7 Abs 3 Buchstabe c der Freizügigkeits-RL nur für sechs Monate geführt. Dieser verlängerte AN-Status war im Dezember 2011 abgelaufen, danach war nur der Status als Arbeitssuchende gegeben.
Die Rs Alimanovic wird von der Großen Kammer entschieden werden, die Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet wurden gestern veröffentlicht, also schön zeitgerecht für unsere Tagung.
Das erlaubt es mir auch, die zusätzlichen Rechtsfragen, die sich anhand dieses Falles stellen, hier bereits im Lichte der Schlussanträge anzusprechen:
Der Generalanwalt bezweifelt, dass im Fall der Mutter Alimanonic und ihrer beiden schulpflichtigen Kinder nur ein Aufenthaltsrecht „ausschließlich zum Zweck der Arbeitssuche“ vorliege. Deren Aufenthaltsrecht könnte sich aus Art 10 der VO 492/2011 und der dazu ergangenen Rsp des EuGH ergeben. Aus dieser Rsp folge,* dass Kindern von EU-Bürgern, die im Aufnahmestaat arbeiten oder gearbeitet haben, ein selbständiges Aufenthaltsrecht allein deshalb zukomme, dass sie ihr Recht auf Zugang zur Bildung wahrnehmen. Dieses vom AN-Status unabhängige Aufenthaltsrecht erstreckt sich auch auf die sorgepflichtige Mutter (Rn 119–122). Falls der Gerichtshof diese Ansicht teilt, könnte dem Vorlagegericht aufgetragen werden, das Vorliegen eines solchen Aufenthaltsrechts zu prüfen. Die vom Vorlagegericht gestellten Fragen bleiben aber dennoch für die Entscheidung des Ausgangsfalls relevant, da sie sich jedenfalls für die ältere, nicht mehr schulpflichtige und erwerbsfähige Tochter stellen.
Der Generalanwalt empfiehlt dem EuGH, im Urteil zur Rs Alimanovic die unionsrechtliche Natur der Hartz IV-Leistungen unter dem Aspekt zu prüfen, ob es sich nicht doch um Leistungen handelt, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen. Sollte es sich um solche Leistungen handeln, dürften sie iSd bisherigen Rsp nicht mehr als Sozialhilfe eingestuft werden und das Gleichbehandlungsgebot des Art 45 Abs 2 AEUV käme uneingeschränkt zum Tragen. Die endgültige Einstufung sollte dem Vorlagegericht überlassen werden, dem der EuGH nur einige Elemente zur Entscheidung zur Verfügung stellen sollte. Der Generalanwalt präsentiert in der Folge einige dieser Elemente und schlägt für den Fall, dass ein gemischter Charakter der Leistungen gegeben sei, vor, sich an den überwiegenden Elementen zu orientieren. Daraus ergäbe sich, dass die Elemente, die für eine Einstufung als Sozialhilfe sprechen, überwiegen. Dies scheint jedenfalls praktikabler zu sein als der Vorschlag der Kommission, der eine betragliche Aufspaltung der Hartz IV-Zahlung ins Spiel gebracht hat. Erwähnenswert ist auch, dass die deutsche Bundesregierung in der Verhandlung darum gebeten hat, dass der EuGH selbst die endgültige Einstufung vornimmt, um so vereinheitlichend auf die deutsche Rsp einzuwirken.
In der Folge prüft der Generalanwalt die Gültigkeit der Ausnahmebestimmung des Art 24 Abs 2 der Freizügigkeits-RL. Ua unter Berufung auf bereits bestehende Rsp* kommt er zu dem Ergebnis, dass sich keine Zweifel an der Gültigkeit dieser Bestimmung ergeben. Er stützt sich auch auf die Argumentation aus dem Urteil in der Rs Dano, dass nämlich die Ungleichbehandlung eine unvermeidbare Konsequenz der vom Gesetzgeber der Union vorgenommenen Abstufungen sei (Rn 77).
Probleme sieht der Generalanwalt hingegen in der uneingeschränkten Anwendung der Bestimmung des Art 24 Abs 2 der Freizügigkeits-RL auch auf Personen, die bereits einmal im Aufnahmestaat gearbeitet haben und die sich nicht in einer Ersteinreisesituation befinden. Daraus habe sich schon eine Verbindung zumindest zum Arbeitsmarkt ergeben. Zu berücksichtigen wären in solchen Fällen auch andere Verbindungselemente zum Aufnahmestaat, zB solche, die sich aus der familiären Situation ergeben. In solchen Fällen müsste es den Betroffenen möglich sein, dass sie für sich eine Ausnahme vom allgemeinen Ausschluss geltend machen können. In diesen Fällen müsste dann eine Einzelfallprüfung stattfinden.
Auf eine Frage, die in der mündlichen Verhandlung eine Rolle gespielt hat, geht der Generalanwalt nicht ein. Es ist dies die Frage der Reichweite der Ausnahmebestimmung des Art 24 Abs 2 der Freizügigkeits-RL. Angesichts des Wortlauts („erste drei Monate“, gegebenenfalls Verlängerung auf die in Art 14 Abs 4 Buchstabe b vorgesehene Dauer) scheint es zumindest prüfenswert, ob damit der langfristige Ausschluss, den das deutsche Recht vorsieht, gerechtfertigt werden kann. In der mündlichen Verhandlung räumte auf meine Nachfrage auch die deutsche Regierung ein, dass damit nur die Ersteinreisesituation gemeint sein könnte.
Zusätzlich zu den Fragen in den Rs Dano und Alimanovic stellt dieser Fall die Frage, ob der nationale Gesetzgeber von der Ausnahme des Art 24 Abs 2 der Freizügigkeits-RL insofern uneingeschränkt Gebrauch machen darf, als er den Ausschluss für die ersten drei Monate auch auf nachreisende Personen anwendet, die mit den bereits im Aufnahmemitgliedstaat befindlichen Personen vorher im Herkunftsstaat einen gemeinsamen Haushalt gebildet haben, ohne aber Familienmitglieder iSd RL zu sein. Dieser Fall wird nicht mehr von der Großen Kammer behandelt werden, sondern von einer Kammer mit fünf Richtern.453