Der Einfluss der „Zeller Tagung“ auf die Entwicklung des Arbeitsrechts und des Sozialrechts

JOSEFCERNY (WIEN)
Im folgenden Beitrag unternimmt der Autor, selbst mehr als 35 Jahre lang Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht und Teilnehmer der ersten „Zeller Tagung“, einen Streifzug durch ein halbes Jahrhundert Geschichte dieser aus dem wissenschaftlichen Leben in Österreich nicht mehr wegzudenkenden Veranstaltung. Anhand zweier Schwerpunktthemen, nämlich des Arbeitsverfassungsrechts und des Arbeitszeitrechts, wird dargestellt, welch große Bedeutung die „Zeller Tagung“ für die Entwicklung des Arbeitsrechts und des Sozialrechts hatte und immer noch hat.50 Jahre „Zeller Tagung“ sind nicht nur Anlass für ein Jubiläum, sie sind auch ein wichtiges Stück Geschichte des Arbeitsrechts und des Sozialrechts in Österreich.
1.
Vorgeschichte: „Die kollektiven Mächte im Arbeitsleben“

Die seit nunmehr fast 50 Jahren jedes Jahr in Zell am See stattfindende Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht (ÖGARSR) ist zu einer aus dem österreichischen Rechtsleben nicht mehr wegzudenkenden Einrichtung und zu einem Fixpunkt im Kalender einschlägig tätiger Juristinnen und Juristen geworden. Ihre Vorgeschichte ist – wie alles, was mit der „Zeller Tagung“ zusammenhängt – mit den Namen und dem Wirken der beiden Doyens der österreichischen Arbeitsrechtswissenschaft Hans Floretta und Rudolf Strasser auf das Engste verbunden. Wie es dazu gekommen ist, kann man authentisch in Strassers „Lebensbericht“* nachlesen. Demnach haben die beiden Freunde auf einer Bahnfahrt Ende 1962 beschlossen, im nächsten Jahr ein internationales Seminar zu veranstalten, bei dem die Rolle der Interessenverbände der AG und der AN aus der Sicht der verschiedenen daran interessierten Fachwissenschaften beleuchtet werden sollte. Die Wahl des Titels der Veranstaltung war vor allem von der beabsichtigten Öffentlichkeitswirkung bestimmt: „Die kollektiven Mächte im Arbeitsleben“ sollte ein besonders „zugkräftiger“ Titel sein.* Die Realität hat diese Überlegung nicht nur bestätigt, sondern die Erwartungen der Organisatoren sogar noch übertroffen: Mehr als 300 Teilnehmer aus ganz Österreich folgten der Einladung in das Salzburger379 Kongresshaus zu Vorträgen hochkarätiger Referenten mit interdisziplinärem Zugang zum Thema.*

Die starke Resonanz der Veranstaltung und vor allem der auch für die Initiatoren überraschend große Interessentenkreis veranlassten Floretta und Strasser, eine solche Tagung in Zukunft jährlich abzuhalten. Dafür sollte ein „interessenneutraler Veranstalter“* als wissenschaftliche und organisatorische Basis für die Zukunft geschaffen werden. Das führte zwei Jahre später zur Gründung der ÖGARSR (Näheres dazu unter 2.) und in der Folge zur ersten „Zeller Tagung“ im März 1966.

Die besondere Bedeutung des Themas in der Entstehungsgeschichte der ÖGARSR und im Wirken ihres langjährigen Präsidenten Rudolf Strasser würdigte der Vorstand der Gesellschaft, indem er nach dem Ableben von Strasser am 28.10.2010 die 47. Tagung (2012) dem Gedenken an Strasser widmete und den ersten Tag der Veranstaltung unter das Motto „Die kollektiven Mächte im Arbeitsleben heute“ stellte. Grundlegende Referate von Jabornegg* und Mosler* zu zentralen Themen des kollektiven Arbeitsrechts und eine lebhafte Diskussion bildeten einen würdigen Rahmen für die Gedenkveranstaltung.

An dieser Stelle scheint mir ein kurzer interessenpolitischer Exkurs angebracht.

Rund um das Salzburger Seminar über „Die kollektiven Mächte im Arbeitsleben“ rankten sich lange Zeit Mythen und Gerüchte, darunter auch jenes, diese Veranstaltung wäre bei den etablierten Interessenvertretungen, vor allem bei den AN-Organisationen, auf heftige Kritik und Ablehnung gestoßen. Strasser berichtet, Floretta, der als Direktor der Arbeiterkammer Salzburg die Organisation der Veranstaltung übernommen hatte, sei danach „von Spitzengewerkschaftern kritisiert und sogar nach Wien zitiert“* worden. Was bei Manchen Unmut hervorgerufen hätte, sei offenbar der etwas „reißerische Titel“, also die Bezeichnung der Interessenverbände als „kollektive Mächte“, gewesen.

Die Unklarheit oder eine Fehlinterpretation des Begriffs „kollektive Mächte“ mag tatsächlich Ursache für manche emotionale Diskussion in diesem Zusammenhang gewesen sein. Während dieser Begriff zB in der Bundesrepublik Deutschland in der einschlägigen Fachdiskussion durchaus geläufig war,* musste man sich an seine Verwendung in Österreich offenbar erst gewöhnen.

Ausgehend von einer individualistischen Ideologie lassen sich die „kollektiven Mächte“ als etwas Bedrohliches darstellen, als geheimnisvolle dunkle Mächte, die im Hintergrund die Fäden ziehen und die individuelle Freiheit einschränken oder gefährden.

Man kann freilich an die Begriffsbestimmung auch anders herangehen: Wenn man den Begriff „Kollektiv“ wertneutral als soziales Gebilde versteht, in dem Menschen durch gemeinsame Interessen, gemeinsame Ziele und gemeinsame Arbeit miteinander verbunden sind, und den Begriff „Macht“ iSd berühmten Definition von Max Weber* als Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, dann kann man an dem Begriff „Kollektive Mächte“ nichts Negatives finden – im Gegenteil: Er beschreibt sogar sehr klar die wichtige Rolle, die die Interessenverbände im gesellschaftlichen Leben spielen.

Die Irritationen, die offenbar im Zusammenhang mit dem Seminar entstanden sind, haben Floretta und Strasser als Herausgeber der nachfolgenden Publikation* zu einer Klarstellung im Vorwort veranlasst:

„Die Wahl des Begriffes ‚kollektive Mächte‘ entsprang keinem negativen Vorurteil; darunter werden vielmehr die Träger des kollektiven Arbeitsrechts verstanden, die entscheidend dazu beigetragen haben, die lediglich formale Gleichberechtigung der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt zu einer materiellen zu machen. Diese Funktion konnten die Interessenverbände nur deshalb erfüllen, weil sie einen entsprechenden Machtfaktor im gesellschaftlichen Leben darstellen. So gesehen bezeichnet der Titel des Seminars treffend den hier maßgeblichen soziologischen Tatbestand“.

Trotz dieser beschwichtigenden Erklärung hat das Seminar unter führenden Gewerkschaftern für eine gewisse Unruhe und Irritation gesorgt. Die Kritik entzündete sich aber nicht am Begriff der „kollektiven Mächte“, sondern am Inhalt und an den „gewerkschaftsfeindlichen Untertönen“* einzelner bei dem Seminar gehaltener Referate. Insb die von Klecatsky* vertretenen Thesen, durch die der KollV als Rechtsquelle des Arbeitsrechts rechtsdogmatisch grundsätzlich in Frage gestellt und als verfassungswidrig qualifiziert wurde, lösten in Gewerkschaftskreisen Unverständnis und Empörung aus. Klecatskys Thesen fanden zwar bei einigen anderen Öffentlichrechtlern Zustimmung, stießen aber schon beim Seminar in Diskussionsbeiträgen von Floretta, Strasser, Tomandl, Winkler, Martinek und Pernthaler sowie später im arbeitsrechtlichen Schrifttum* auf massive Kritik und zT auf entschiedene Ablehnung.

Im Zuge der Vorarbeiten für eine Kodifikation des kollektiven Arbeitsrechts kam es 1970 zur Ausarbeitung zweier Entwürfe für ein Verfassungsgesetz, mit dem die Rechtsetzung durch KollV ausdrücklich verfassungsrechtlich abgesichert werden sollte.* Im Begutachtungsverfahren zu diesen Entwürfen zeigte sich aber, dass nach überwiegender Auffas-380sung der begutachtenden Stellen für eine derartige Initiative keine Notwendigkeit gesehen wurde,* weil an der Verfassungsmäßigkeit der kollektivvertraglichen Normsetzung ohnehin kein Zweifel bestand. Besonderes Gewicht kam dabei der Meinung des VfGH zu, der in seiner Stellungnahme* betonte, es könne davon ausgegangen werden, dass der Verfassungsgesetzgeber des Jahres 1920 den Sozial- und Gesetzesstand gekannt habe, und hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des KollV – ähnlich wie zuvor die AN-Organisationen in ihrer Reaktion auf Klecatskys Thesen – zu der Feststellung kam: „Es scheint dem Verfassungsgerichtshof fast nicht angebracht zu sein, Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der das Wirtschafts- und Sozialgeschehen durch ein halbes Jahrhundert beherrschenden Institutionen zu äußern“.

Inzwischen ist die Diskussion um die „kollektiven Mächte im Arbeitsleben“ abgeklungen. Die Wogen der Emotion haben sich geglättet, und die Interessenverbände gehen durchaus selbstbewusst und gelassen mit diesem Begriff um.* Sie verstehen sich im positiven Sinn als Machtfaktor in der Politik und im gesellschaftlichen Leben. Was in den 1960er-Jahren vielleicht von manchen noch als geheimnisvolle dunkle Mächte gesehen wurde, wird heute als österreichisches Modell der Sozialpartnerschaft in aller Welt bewundert.

Auch der sachliche Teil der Diskussion hat sich inzwischen erledigt. Nach jahrzehntelangen Debatten, zuerst in der Kodifikationskommission, dann in der Grundrechtskommission und zuletzt auch beim Österreich-Konvent,* hat der Verfassungsgesetzgeber endlich gehandelt: Seit der B-VG-Novelle 2008* ist die Sozialpartnerschaft ausdrücklich verfassungsrechtlich verankert. Nach dem eingefügten Art 120a B-VG anerkennt die Republik die Rolle der Sozialpartner. Sie achtet deren Autonomie und fördert den sozialpartnerschaftlichen Dialog durch die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern.

Auch wenn die Formulierung unklar* und die konkrete Bedeutung der verfassungsgesetzlichen Regelung noch bei Weitem nicht ausgelotet ist, kann doch mit Mosler* davon ausgegangen werden, dass Art 120a B-VG nicht nur eine Bestandsgarantie für die Sozialpartner, sondern auch eine verfassungsrechtliche Absicherung der wesentlichen Aufgaben der Sozialpartner enthält. Dazu gehört ohne jeden Zweifel auch der Abschluss von Kollektivverträgen.

Als Fazit einer bewegten Vorgeschichte bleibt somit festzuhalten: Das Seminar über „Die kollektiven Mächte im Arbeitsleben“ war die Wurzel der ÖGARSR und der von ihr veranstalteten „Zeller Tagung“.

2.
Die Österreichische Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht

Zwei Jahre nach dem erfolgreichen Seminar über „Die kollektiven Mächte im Arbeitsleben“ gingen Hans Floretta und Rudolf Strasser daran, ihren Plan zur Gründung der Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht in die Realität umzusetzen. Dem Proponentenkomitee gehörten neben Floretta und Strasser der engagierte Sozialpolitiker und Inhaber des ersten Lehrstuhls für Arbeitsrecht und Sozialrecht in Österreich (an der Universität Wien) Hans Schmitz, der damalige Dozent und spätere Leiter des Instituts für Sozialrecht an der Hochschule für Welthandel Albert Nowak, der damalige Generalsekretär (und spätere Präsident) der Österreichischen Juristenkommission RA Rudolf Machacek, die beiden Ministerialbeamten und Verfasser der Teilentwürfe für eine Kodifikation des Arbeitsrechts Oswin Martinek (später Leiter der Arbeitsrechtssektion im Sozialministerium und Honorarprofessor an der Universität Linz) und Walter Schwarz (später Ordinarius für Arbeitsrecht und Sozialrecht an der Universität Graz) sowie der Leiter der Wissenschaftlichen Abteilung der Bundeswirtschaftskammer Theodor Tomandl an, der sich im gleichen Jahr habilitierte und von 1968 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2001 das Institut für Arbeitsrecht und Sozialrecht an der Universität Wien leitete. In der konstituierenden Sitzung der Hauptversammlung wurden Floretta zum Präsidenten, Strasser und Nowak zu Vizepräsidenten gewählt, alle übrigen Proponenten bildeten den ersten Vorstand der Gesellschaft.

Auffallend ist, dass sich unter den Proponenten keine Vertreter der „kollektiven Mächte“ finden. Das ist wohl damit zu erklären, dass die Initiatoren ganz bewusst eine „interessenneutrale“ Gesellschaft gründen wollten.* Folgerichtig sehen auch die Statuten der Gesellschaft keine institutionelle Mitgliedschaft vor. Ordentliche Mitglieder der Gesellschaft können nur (physische) Personen werden, die ihr besonderes Interesse am Arbeitsrecht oder Sozialrecht auf Grund wissenschaftlicher Arbeit nachweisen. Nach diesem Kriterium entscheidet das Präsidium über die Aufnahme von Mitgliedern, wobei die Aufnahme ohne Angabe von Gründen verweigert werden kann. Man war also von Anfang an auf eine gewisse Exklusivität bedacht, die wissenschaftliche Qualifikation sollte der einzige Maßstab für die Mitgliedschaft sein.

Zu den ersten Mitgliedern der Gesellschaft zählten so prominente Juristen wie Hans Kapfer oder Friedrich Kuderna, Kurt Ringhofer, Karl Wahle sowie die Herausgeber der ersten arbeitsrechtli-381chen Gesetzessammlung Robert Dittrich, Helmut Tades und Rolf Veit.

Auch wenn eine institutionelle Vertretung statutarisch nicht vorgesehen ist, haben die Interessenvertretungen der AN der Tätigkeit der Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht von Beginn an große Bedeutung beigemessen. Abgesehen davon, dass die Initiatoren der Gesellschaftsgründung Floretta und Strasser neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit auch Führungspositionen in einer Arbeiterkammer (AK) innehatten, waren die Arbeiterkammern seit jeher Subventionsgeber (und damit „unterstützende Mitglieder“ iSd Statuten), und ihre arbeitsrechtlichen oder sozialrechtlichen Experten, wie zB Karl Kummer, Franz Lechner, Friedrich Neuwirth, Eduard Rabofsky, Hans Reithofer, Robert Rimpel und Otto Scheer gehörten zu den ersten Mitgliedern der Gesellschaft. Auch der ÖGB war durch seinen Sozialpolitischen Referenten (und späteren Sozialminister) Gerhard Weißenberg und durch die Zentralsekretäre der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst Alfred Stifter und Hanns Waas (später Honorarprofessor an der Universität Salzburg) prominent vertreten. An diesem Engagement der AN-Organisationen im Rahmen der Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht hat sich auch in den folgenden 50 Jahren nichts geändert.

3.
Die „Zeller Tagung“

Nach den Statuten der ÖGARSR ist der Vereinszweck die Erforschung des Arbeitsrechts und des Sozialrechts sowohl im nationalen als auch im internationalen Rahmen. Als ideelle Mittel zur Erreichung des Vereinszwecks dienen die Veranstaltung von Kongressen und Vorträgen sowie die Herausgabe von Publikationen, allenfalls die Vergabe von Preisen für wissenschaftliche Arbeiten. In diesem Sinn beschloss die Hauptversammlung der Gesellschaft bereits bei ihrer konstituierenden Sitzung, künftig jährlich eine wissenschaftliche arbeits- und sozialrechtliche Tagung abzuhalten. Veranstalter sollte die neu gegründete Gesellschaft sein. Als Tagungsort wurde Zell am See gewählt. Strasser begründet die Entscheidung für Zell am See damit, dass es ein „attraktiver Fremdenverkehrsort“ sein und die „Verbindung mit dem Bundesland Salzburg“ gewahrt werden sollte.* Dieser Beschluss war die Geburtsstunde der „Zeller Tagung“, die am 10. und 11.3.1966 zum ersten Mal stattfand und heuer ihr fünfzigstes Jubiläum gefeiert hat.

Seit ihrer Premiere hat sich die „Zeller Tagung“ – und mit ihr die ÖGARSR – dynamisch entwickelt. Während an der ersten Tagung „nur“ 121 Personen teilnahmen, stieg die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den folgenden Jahren ständig an und erreichte zu Beginn der 1980er-Jahre mehr als 400. An der 50. Tagung haben heuer erstmals über 500 Personen teilgenommen, davon waren mehr als ein Drittel Frauen. Zugleich erhöhte sich der Stand der Mitglieder der ÖGARSR auf 110.

Das große Interesse der Fachwelt an der Tagung und die ständig steigenden Teilnehmerzahlen waren auch mit entscheidend dafür, dass die Tagung, die ursprünglich im großen Saal der Handelskammer stattgefunden hatte, 2008 in das neu errichtete Kongresszentrum „übersiedelte“ (siehe auch unten 3.3.).

Bei den bisherigen 50 Tagungen haben insgesamt mehr als 130 Referentinnen und Referenten Vorträge zu ca 220 arbeitsrechtlichen oder sozialrechtlichen Themen gehalten.*

Bei der 21. Tagung im Jahr 1986 wurde das Programm der „Zeller Tagung“ um ein Angebot erweitert, das bald zu einem festen Bestandteil der weiteren Tagungen werden sollte: Erstmals fand am Nachmittag des ersten Tages ein Seminar statt. Unter der wissenschaftlichen Leitung von Wolfgang Holzer wurde über „Ausgewählte Probleme der Insolvenzentgeltsicherung“ referiert und diskutiert. Der große Zuspruch veranlasste die Veranstalter, auch bei den nächsten beiden Tagungen jeweils ein Seminar in das Programm zu nehmen, und seit der 26. Tagung (1991) fanden Seminare bei jeder der folgenden Tagungen statt. Der Schwerpunkt liegt dabei in der Darstellung und Diskussion, insb auch der Judikatur, zu besonders praxisrelevanten Themen.

Eine weitere, zukunftsweisende Innovation stellte die Einführung eines Nachwuchsforums im Jahr 2013 dar. Am Vortag der Zeller Tagung sollte jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Gelegenheit geboten werden, ihre aktuellen Forschungsarbeiten einem breiten fachkundigen Publikum zu präsentieren. Aus den zahlreichen Bewerberinnen und Bewerbern wurden vier ausgewählt, die diese Chance eindrucksvoll nützen konnten. Aufgrund des großen Erfolges wurde das Nachwuchsforum auch in das „Vorprogramm“ der Tagungen 2014 und 2015 aufgenommen.

3.1.
AkteurInnen

Die Frage nach der Bedeutung der Zeller Tagung wird allein schon durch die Namen der Beteiligten klar beantwortet. Die Liste der Mitglieder der ÖGARSR liest sich wie ein „Who Is Who“ des Arbeitsrechts und des Sozialrechts. Alle, die in diesen Rechtsgebieten Rang und Namen haben, sind hier vertreten.

An der Spitze der ÖGARSR standen und stehen Persönlichkeiten, die durch ihre wissenschaftliche Tätigkeit die Entwicklung des Arbeitsrechts und des Sozialrechts in Österreich maßgeblich beeinflusst und geprägt haben. Von der Gründung der Gesellschaft im Jahr 1965 bis zum 3.10.1983, also 18 Jahre lang, leitete Hans Floretta als Präsident die Geschicke der Gesellschaft. Als Vizepräsidenten standen ihm in dieser Zeit zuerst Rudolf Strasser (bis 1983) und Albert Nowak (bis 1970) und dann als dessen Nachfolger Theodor Tomandl zur Seite. Im Jahr 1983 übernahm dann Strasser selbst die Funktion des Präsidenten und übte sie weitere382 18 Jahre hindurch bis zum Jahr 2001 aus. Als Vizepräsidenten unterstützten ihn Karl Spielbüchler und weiterhin Theodor Tomandl. Ab 2001 folgte Spielbüchler seinem ehemaligen Lehrer Strasser als Präsident nach, neuer Vizepräsident wurde mit Peter Jabornegg ein weiterer früherer Strasser-Schüler, Tomandl blieb noch bis 2007, also insgesamt 37 Jahre lang (!), in dieser Funktion, die dann von Ulrich Runggaldier übernommen wurde.

Der unerwartete Tod von Karl Spielbüchler (am 9.1.2012) führte zu einem vollständigen Wechsel an der Spitze der ÖGARSR: Nach kurzer interimistischer Leitung der Gesellschaft durch Peter Jabornegg wurden am 22.3.2012 Rudolf Mosler zum neuen Präsidenten, Sieglinde Gahleitner zur Vizepräsidentin und Robert Rebhahn zum Vizepräsidenten gewählt.

Floretta und Strasser blieben bis zu ihrem Tod (am 20.3.2009 bzw am 28.10.2010) Ehrenpräsidenten der Gesellschaft, Tomandl ist seit 2007 ehrenhalber in den Vorstand kooptiert.

Dem Vorstand der Gesellschaft gehören außer dem Präsidium mindestens vier, höchstens acht Mitglieder an. Unter den Persönlichkeiten, die in den vergangenen 50 Jahren diese wichtige Funktion ausgeübt haben, finden sich so prominente Vertreter der Arbeitsrechts- und der Sozialrechtswissenschaft wie Oswin Martinek, Walter Schwarz, Rudolf Machacek, Friedrich Kuderna, Walter Geppert, Walter Schrammel, Gerhard Klein, Konrad Grillberger, Franz Marhold, Martin Mayr usw. Gegenwärtig besteht der Vorstand aus insgesamt 19 ordentlichen oder kooptierten Mitgliedern, darunter neben den Präsidiumsmitgliedern und anderen schon Genannten Günther Löschnigg, Christoph Klein, Walter Pöltner, Walter Pfeil, Gert-Peter Reissner, Reinhard Resch, Martin Risak, Anna Ritzberger-Moser, René Schindler, Anton Spenling und Michaela Windisch-Graetz.

Besonders wichtig für den Erfolg der Zeller Tagungen ist die Auswahl der Vortragenden. Sie erfolgt durch das Präsidium nach vorheriger Beratung im Vorstand der ÖGARSR. Die Leitungsorgane der Gesellschaft achten dabei neben der wissenschaftlichen Qualifikation und dem Nachweis entsprechender Vorarbeiten zum jeweiligen Thema auch auf die berufliche Position und Reputation der Vortragenden. Es wird deshalb geradezu selbstverständlich davon ausgegangen, dass alle Ordinarien des Arbeitsrechts und des Sozialrechts in Österreich auch als Vortragende bei der Zeller Tagung auftreten. Diese legen ihrerseits großen Wert darauf, dass ihre wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur an den Tagungen teilnehmen, sondern auch die Chance bekommen, als Vortragende in Erscheinung zu treten. Ähnliches gilt für die auf dem Gebiet des Arbeitsrechts oder des Sozialrechts wissenschaftlich ausgewiesenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Interessenvertretungen oder Sozialversicherungsträgern und für andere als Referenten in Betracht kommende Personen. Für sie alle bedeutet ein Auftritt als Vortragende bei einer Zeller Tagung eine besondere Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Qualifikation und zugleich einen Meilenstein in ihrer beruflichen Laufbahn. Es verwundert deshalb nicht, dass die lange Liste der Vortragenden bei den bisherigen 50 Zeller Tagungen durchwegs Namen enthält, die in der Fachwelt ein Begriff sind.

So eindrucksvoll die Liste der Mitglieder und Funktionäre der ÖGARSR sowie der Vortragenden bei den Zeller Tagungen auch ist, fordert sie doch zu einer kritischen Anmerkung heraus.

Betrachtet man nämlich die personelle Entwicklung insgesamt, so zeigt sich, dass die ÖGARSR seit ihrer Gründung eine männliche Domäne war und – in abgeschwächter Form – auch heute noch ist. Weder unter den Proponenten noch unter den 40 Erstmitgliedern findet sich eine Frau, und es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, nämlich bis zum Jahr 1977, bis erstmals eine Frau als Vortragende am Rednerpult einer Zeller Tagung stand: Bei der 12. Tagung referierte Elisabeth Kunst über das Thema „Haftpflicht und Sozialversicherung“. Damit war aber keineswegs der Bann gebrochen – Kunst sollte die erste und einzige weibliche Vortragende in den ersten 25 Jahren der Zeller Tagungen bleiben. Erst bei der 28. Tagung (1993) folgte ihr Julia Eichinger mit einem Referat zum Thema „Grundsatzfragen des Gleichbehandlungsgesetzes“ (sic!). 1994 leitete Barbara Trost erstmals ein Seminar. Mit der Übernahme der Präsidentschaft durch Karl Spielbüchler änderte sich das Bild ein wenig: Bei der ersten von ihm geleiteten Tagung im Jahr 2002 fungierte Beatrix Karl als Seminarleiterin, und ab der 39. Tagung (2004) war bei jeder der folgenden Tagungen zumindest eine Frau als Vortragende oder als Seminarleiterin beteiligt.

Nach dem Tod von Spielbüchler wurde mit Sieglinde Gahleitner erstmals eine Frau in das Präsidium der Gesellschaft gewählt. Dem Vorstand gehören außer ihr weitere zwei Frauen als (kooptierte) Mitglieder an, nämlich Anna Ritzberger-Moser und Michaela Windisch-Graetz.

In den letzten Jahren ist also auch bei der ÖGARSR und bei der „Zeller Tagung“ Einiges in Richtung Gendergerechtigkeit in Bewegung geraten. Dennoch besteht noch erheblicher Nachholbedarf, und für die Gesellschaft steht ein weites Betätigungsfeld nicht nur zur wissenschaftlichen Bearbeitung, sondern auch zur Realisierung im eigenen Bereich offen. Von den 110 Mitgliedern der Gesellschaft sind nur ca ein Fünftel Frauen, und unter den bisher 135 Vortragenden bei den 50 Zeller Tagungen waren nur 15 Frauen. Die Frauenquote liegt damit erheblich unter jener im Bereich der Wissenschaft im Allgemeinen.*

Die jüngste Entwicklung gibt aber Anlass zu Optimismus: Von den Vortragenden bei der 50. Tagung waren jeweils vier Männer und Frauen. Bei dem 2013 eingeführten Nachwuchsforum haben bisher je sechs Männer und Frauen ihre Arbeiten präsentiert, beim Nachwuchsforum 2015 waren alle vier Vortragenden Frauen.383

3.2.
Themen

Ebenso wie die Referentinnen und Referenten werden auch die Themen der Zeller Tagungen vom Präsidium nach Beratung im Vorstand ausgewählt. Da die Vorstandsmitglieder hauptberuflich in verschiedenen Bereichen und zeitnah am aktuellen Geschehen tätig sind, ist bei der Themenauswahl für entsprechende Vielfalt und Aktualität gesorgt. Das zeigt sich in der großen Anzahl und fachlichen Bandbreite der Themen: in den bisherigen 50 Tagungen wurden in den Vorträgen und Seminaren insgesamt mehr als 220 Themen aus dem Arbeitsrecht und dem Sozialrecht behandelt. Die folgende Übersicht kann sich nur auf einige Schwerpunkte beschränken.

Im Arbeitsrecht knüpfte die 1. Zeller Tagung thematisch an das Salzburger Seminar über „Die kollektiven Mächte im Arbeitsleben“ an. Nach der intensiven Diskussion über die Einordnung der kollektiven Rechtsgestaltung in den Stufenbau der österreichischen Rechtsordnung referierte Zöllner rechtsvergleichend über die Rechtsnatur des Tarifvertrags und der Tarifnormen nach deutschem Recht. Die folgenden Tagungen befassten sich, zeitlich begleitend zu den mit der Einsetzung einer Kodifikationskommission begonnenen Arbeiten an einer Kodifikation des kollektiven Arbeitsrechts und den Bemühungen um eine Neufassung des österreichischen Grundrechtskatalogs, zunächst mit dem Themenkomplex der Grundrechte mit Arbeitsrechtsbeziehung, in der Folge mit der dogmatischen Fundierung des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes, und nach dem in der Praxis sehr bedeutsamen Thema der kollektivvertraglichen Ist-Lohnregelung bei der 5. Tagung nochmals zusammenfassend mit der Rechtsnatur der Quellen des kollektiven Arbeitsrechts. Eine weitere Grundsatzfrage der Arbeitsrechtskodifikation, nämlich jene nach dem Verhältnis von Allgemeinem Bürgerlichen Recht und Arbeitsrechtskodifikation, behandelte Gamillschegg in seinem Referat bei der 7. Zeller Tagung (1972).

In den folgenden Jahren verlagerte sich der thematische Schwerpunkt der Zeller Tagungen, der sozialpolitischen Entwicklung folgend, auf Fragen des Arbeitsverfassungsrechts und der Mitbestimmung. Grundsatzfragen des Arbeitszeitrechts und der immer spürbarer werdende Trend zu einer Flexibilisierung der Arbeitszeitgestaltung bildeten einen weiteren Themenschwerpunkt (Näheres dazu unter 5.).

Die tiefgehenden Strukturveränderungen in der Wirtschaft und der rasante technologische Wandel in den 1980er- und 90er-Jahren beeinflussten auch die Entwicklung des Arbeitsrechts und die Themenwahl bei den Zeller Tagungen. Nachdem bereits Zöllner bei der 20. Tagung (1985) über den Einsatz neuer Technologien als arbeitsrechtliches Problem referiert und Schnorr bei der 22. Tagung (1987) Rechtsfragen der Kurzarbeit behandelt hatte, warnte Klaus Firlei bei der gleichen Tagung in einem tiefgründigen Referat erstmals nachdrücklich vor der immer mehr um sich greifenden „Flucht aus dem Arbeitsrecht“ und dem damit verbundenen Funktionsverlust des Arbeitsrechts.* 13 Jahre später, im Rahmen der 35. Zeller Tagung (2000), konzentrierte und vertiefte Firlei seine rechtsdogmatischen und rechtspolitischen Überlegungen in einem weiteren grundsätzlichen Referat unter dem Titel „Flucht aus dem Kollektivvertrag“ auf Rechtsfragen zur Verlagerung, Dezentralisierung und Auflösung der Ordnungs- und Schutzfunktionen des KollV.

Probleme im Zusammenhang mit Ausgliederungen, Standortverlegungen, Betriebsübergängen, Fusionierungen, Unternehmensteilungen, Stilllegungen und anderen Strukturänderungen beschäftigen seit den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts in zunehmendem Ausmaß die Arbeitsrechtswissenschaft und -praxis. Sie waren auch wiederholt Themen von Vorträgen und Diskussionen im Rahmen von Zeller Tagungen: Bei der 25. Tagung (1990) referierte Jabornegg grundlegend über Unternehmensrecht und Arbeitsrecht. „Betriebsvereinbarungen und Betriebsratsorganisation bei Umstrukturierungen“ war das Thema des Vortrags von Runggaldier bei der 27. Tagung (1992). Mit Kündigungen bei Betriebsübergängen nach dem AVRAG befasste sich Holzer in seinem Referat bei der 30. Tagung (1995).

Dass der wirtschaftliche und soziale Wandel auch vor dem öffentlichen Dienst nicht haltgemacht hatte und auch dort vorher fest gefügte Strukturen in Bewegung geraten waren, zeigte B. Schwarz in seinem Referat bei der 37. Tagung (2002) auf.

Dem Generalthema „Arbeitsrecht in der Krise“ war der erste Tag der 45. Tagung (2010) gewidmet. Dazu referierten Monika Drs über Kurzarbeit und Konrad Grillberger über Entgeltkürzung.

Ein Jahr später, bei der 46. Tagung (2011), behandelte Martin Risak in seinem Vortrag Probleme der Rechtsgestaltung beim Betriebsübergang. Das Thema Betriebsübergang war schließlich auch Gegenstand eines „Doppelreferats“ von Christoph Kietaibl einerseits und Gerhard Kuras andererseits im Rahmen der diesjährigen 50. Jubiläumstagung.*

Als Begleiterscheinung der immer wieder aufflammenden Debatte über die Zukunft und die Finanzierbarkeit des Systems der Sozialen Sicherheit und nach entsprechenden Aktivitäten des Gesetzgebers trat auch das Thema Betriebspensionen und Pensionskassen stärker in den Fokus arbeitsrechtswissenschaftlicher Betrachtung. Schon bei der 26. Tagung (1991) referierte Tomandl über „Ausgewählte Probleme des neuen Betriebspensionsrechts“, und bei der 39. Tagung (2004) widmete Walter Schrammel seinen Vortrag ebenfalls dem Thema „Aktuelle Fragen des Betriebspensions- und Pensionskassenrechts“.

Seit dem EU-Beitritt Österreichs bildeten europarechtliche Fragen des Arbeitsrechts und des Sozialrechts einen weiteren Themenschwerpunkt der Zeller Tagungen. Gleichsam zur Einstimmung hielt Her-384bert Buchner bei der 30. Tagung (1995) ein Referat zum Thema „Der Einfluss der Rechtsprechung des EuGH auf das nationale Arbeitsrecht – dargestellt an der Entwicklung des deutschen Arbeitsrechts“. Beim Seminar im Rahmen der 31. Tagung (1996) wurde unter der Leitung von Josef Wöss über die EuGH-Rsp zu den Betriebspensionen und deren Auswirkung auf Pensionszusagen in Österreich referiert und diskutiert. „Arbeitnehmerentsendung im Rahmen der EG – arbeitsrechtliche Probleme“ war Thema des Vortrags von Robert Rebhahn bei der 34. Tagung (1999), und René Schindler beschäftigte sich in seinem Referat bei der 38. Tagung (2003) generell mit der Umsetzung arbeitsrechtlicher Richtlinien der EU in Österreich. Mit aktuellen Entscheidungen des EuGH zu zentralen Fragen des kollektiven Arbeitsrechts und deren Folgen befasste sich Abbo Junker bei der 44. Tagung (2009) in einem Vortrag über „Europäische Grundfreiheiten und Arbeitsrecht“. Europäische Entwicklungen im Kündigungsschutz, Vorgaben in der Europäischen Sozialcharta und im Unionsrecht und ein Rechtsvergleich waren Inhalt eines breit angelegten Referats von Rebhahn im Rahmen der 49. Tagung (2014). Die Rsp des EGMR, betreffend die Koalitionsfreiheit, und jene des EuGH, betreffend den Zugang zu Sozialleistungen, wurden in (Ko-)Referaten von Angelika Nußberger bzw von Maria Berger bei der 50. Tagung dargestellt.

Ein markantes Ereignis in der langen Geschichte der Zeller Tagungen war der Vortrag von Barbara Trost bei der 42. Tagung (2007) über das Thema „Arbeitsrecht und Vereinbarkeit von Beruf und Familie“. Dogmatisch fundiert im Inhalt, locker und medial illustriert im Stil, vor allem aber gesellschaftspolitisch äußerst engagiert, löste das Referat zunächst bei der Tagung und in der Folge dann auch in den Organen der ÖGARSR eine intensive, kontroversielle Diskussion aus. Für manche, die sich der Tradition der Zeller Tagungen und konservativen gesellschaftlichen Werten verpflichtet fühlten, bedeutete der Vortrag von Trost einen Tabubruch. So sah sich zB Tomandl in einem kritischen Diskussionsbeitrag zu einem eindringlichen Plädoyer für das traditionelle Rollenbild von Frau und Familie veranlasst. Andere – so auch ich – empfanden Trosts Auftritt eher als frischen Wind in dem doch schon ein wenig in Routine erstarrten Tagungsablauf und brachten anerkennende Zustimmung zum Ausdruck, wie etwa Gahleitner.* Für mich war es jedenfalls eine der interessantesten und spannendsten Tagungen, die auch dem wissenschaftlichen Anspruch durchaus gerecht wurde.

Beim Sozialrecht spiegelt die Liste der Themen, die bei den Zeller Tagungen behandelt wurden, die rasante Entwicklung des positiven Rechts, insb auf dem Gebiet der SV, aber auch den großen dogmatischen Nachholbedarf wider. Einerseits wurden System- und Grundsatzfragen in großflächigen, übersichtsartigen Vorträgen dargestellt, andererseits findet sich unter den Tagungsthemen eine Fülle von speziellen Einzelfragen, die eher in Form von Rechtsgutachten abgehandelt wurden. Zur ersten Kategorie gehören zB folgende Vorträge bzw Themen:

  • Nowak, Die Wertsicherung der Leistungen der Sozialversicherung;

  • Dragaschnig, Der Widerstreit von Versicherungs- und Versorgungsprinzip im Leistungsrecht der Krankenversicherung;

  • Bakule und Geiecker, Entwicklung und Strukturen der Unfallversicherung;

  • K.-H. Wolff, Entwicklungstendenzen der österreichischen Sozialversicherung; Erfahrungen mit der Pensionsdynamik und deren Entwicklung;

  • Korinek und Steinbach, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung;

  • Kunst, Haftpflicht und Sozialversicherung;

  • Tomandl, Die Grundstruktur der österreichischen Pensionsversicherung im Wandel;

  • Öhlinger, Die Rechtsetzung in der Sozialversicherung; Die Bedeutung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung;

  • Pöltner, Fragen des Sachleistungsprinzips in der Krankenversicherung;

  • Spiegel, Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das Leistungsrecht der Pensionsversicherung;

  • Mosler, Die sozialversicherungsrechtliche Stellung freier Dienstnehmer;

  • Karl, Rehabilitation in der Pensionsversicherung;

  • Pfeil, Systemfragen der geminderten Arbeitsfähigkeit;

  • Pfeilund Siess-Scherz, Vertrauensschutz im Sozialrecht.

Bei den Spezialthemen zu Einzelfragen waren Vielfalt und Bandbreite so groß, dass eine auch nur beispielhafte Aufzählung hier nicht möglich ist.* Die meisten solcher Themen betrafen Fragen der KV oder der PV.

Neben dem materiellen Sozialversicherungsrecht waren auch Fragen des Verfahrensrechts wiederholt Gegenstand von Vorträgen und Diskussionen bei Zeller Tagungen: Schon bei der 8. Tagung (1973) referierte Oberndorfer über Grundprobleme des Verwaltungsverfahrens in der österreichischen SV, bei der 18. Tagung (1983) Fasching über die verfahrensrechtlichen Probleme im Sozialgerichtsgesetz-Entwurf. Vorträge von Rudolf Müller über die Abgrenzung von Leistungsverfahren und Verwaltungsverfahren, eine erste Bilanz über den OGH als Sozialgericht sowie über die richterliche Rechtsfortbildung im Leistungsrecht der SV zeichneten sich durch besondere Präzision und Klarheit aus. Die neue Verwaltungsgerichtsbarkeit im Sozialversicherungsrecht war Gegenstand eines Referats von Katharina Pabel bei der 49. Tagung (2014). Das grundsätzliche Thema des Zugangs zu Sozialleistungen wurde in Referaten von Michaela Windisch-Graetz und der EuGH-Richterin Maria Berger bei der 50. Tagung (2015) behandelt.*

In den ersten Jahren standen fast nur Themen des Sozialversicherungsrechts auf dem Programm der Zeller Tagungen. Erst später, ab den 1980er-Jahren,385 fanden auch andere Bereiche des Sozialrechts zunehmend Interesse bei den Vortragenden und bei den TagungsteilnehmerInnen, so Fragen der Insolvenz-Entgeltsicherung, des Sozialhilferechts, der Arbeitslosenversicherung oder der Pflege.

Fragen der Rechtspolitik und der Sozialpolitik stehen zwar nicht im Vordergrund der wissenschaftlichen Zielsetzung der ÖGARSR, sie spielen aber vor allem im Zusammenhang mit größeren Reformen auf dem Gebiet des Sozialrechts eine wichtige Rolle. Dem trägt auch die Programmgestaltung der Zeller Tagungen immer wieder Rechnung: „Neue Wege im Leistungsrecht der Pensionsversicherung“ war der Titel eines Vortrags von Sedlak bei der 20. Tagung (1985). Mehr als ein Jahrzehnt danach, bei der 31. Tagung (1996) stellte Jabloner die Frage „Vereinfachung des Sozialversicherungsrechts – reelle Chance oder Utopie?“, und Tomandl zeigte rechtspolitische Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers bei der Pensionsreform auf. Die 33. Tagung (1998) mit Referaten von Ulrich Runggaldier und Walter Pöltner war den Problemen der Einführung einer umfassenden Sozialversicherungspflicht für alle Erwerbseinkommen gewidmet. Bei der 39. Tagung (2004) stand nach Referaten von Josef Wöss und von Franz Schrank die Pensionsreform 2003 zur Diskussion. Dem Generalthema Pensionsharmonisierung war der zweite Tag der 41. Tagung (2006) gewidmet. Tomandl referierte über den Paradigmenwechsel in der PV und Pöltner behandelte in seinem Vortrag „Ausgewählte Fragen“, insb zum Pensionskonto. Ebenfalls Pöltner – nicht nur wegen seiner hervorragenden Sachkenntnis, sondern auch wegen seiner rhetorischen Fähigkeiten ein besonders gefragter Vortragender – sprach bei der 47. Tagung (2012) über „Neue Probleme bei der Invaliditätspension“.

3.3.
Gesellschaftlicher Rahmen

Für die Wahl von Zell am See als Tagungsort waren wohl auch persönliche Gründe der beiden Initiatoren ausschlaggebend: Floretta stammte aus dem benachbarten Saalfelden und Strasser war, nachdem er sich in den 1970er-Jahren einen komfortablen Wohnsitz am Zeller See eingerichtet hatte, „in Zell schon sehr heimisch geworden“ (Autobiographie 192). Bei der Wahl des Tagungsortes kalkulierten sie damit, dass neben dem fachlichen Interesse an den Vorträgen und Diskussionen auch der Reiz der Landschaft und die breite Palette an Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung die Bereitschaft zur Teilnahme an der Tagung fördern würden – eine Überlegung, die sich von der ersten Tagung an als richtig bestätigt hat.

In den fast 50 Jahren seit der ersten Tagung hat sich die Stadt Zell am See imposant entwickelt: Die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner ist um rund ein Viertel (auf zuletzt fast 10.000) gestiegen, und der Fremdenverkehr hat einen enormen Aufschwung genommen. Zusammen mit der Nachbargemeinde Kaprun bildet Zell am See das Zentrum der „Europasportregion“ mit ca 2,5 Mio Übernachtungen im Jahr. Die Errichtung einer Fußgängerzone, vor allem aber die Untertunnelung und die dadurch bewirkte Entlastung vom Durchzugsverkehr haben die Lebensqualität der Stadt weiter verbessert. Trotz des touristischen Booms ist Zell eine attraktive, überschaubare Bergstadt geblieben.

Der überschaubare Raum und die gute Infrastruktur sind auch ein Teil des Erfolgsrezepts der „Zeller Tagung“. Die fachlichen Diskussionen enden nicht mit dem Schluss der Tagung, sondern werden bei verschiedenen Gelegenheiten vielfach auch außerhalb des eigentlichen Tagungszeitraums fortgesetzt. Im Lauf der Jahrzehnte haben sich – zum Teil gefördert von wissenschaftlichen Verlagen, die am Rande der Tagung ihre Produkte präsentieren – eine Reihe von Stammtischrunden in bestimmten Lokalen gebildet, bei denen in gemütlicher Atmosphäre (auch) munter weiter diskutiert wird. Man trifft sich aber nicht nur beim Stammtisch, sondern auch bei Spaziergängen am Ufer des Zeller Sees oder gelegentlich auch auf der Schipiste. Solche Begegnungen fördern die Kommunikation und tragen zum angenehmen, kollegialen Klima der Zeller Tagungen bei.

Schon lange vor der Zeit von Facebook und Twitter bildeten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Zeller Tagungen so etwas wie eine Social Community, allerdings nicht bloß auf einer virtuellen, sondern auf der realen Basis persönlicher Begegnungen. Wissenschaftliche Kontakte und Projekte, berufliche Beziehungen, langjährige Freundschaften, ja sogar Lebenspartnerschaften sollen ihre Wurzeln in einer Zeller Tagung haben.

Umgekehrt profitiert auch die Fremdenverkehrsstadt Zell am See von den hunderten TagungsteilnehmerInnen, die in jedem Jahr zum Ausklang der Wintersaison in die Stadt kommen und als Gäste die touristischen Kapazitäten für einige Tage noch einmal voll auslasten. Deshalb betont auch der Bürgermeister jedes Jahr in seiner Begrüßungsansprache zu Beginn der Tagung, wie wichtig diese Veranstaltung für die Stadt und ihr positives Image als Konferenzort ist. Auch für den Bau des Ferry Porsche Congress Centers, in dem die Tagungen seit einigen Jahren stattfinden, dürfte die „Zeller Tagung“ eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben.

In den 50 Jahren seit der ersten Zeller Tagung hat es bei Vorstandssitzungen gelegentlich Ansätze für eine Diskussion über einen allfälligen Wechsel des Tagungsortes gegeben. Diese Überlegungen sind aber jedes Mal rasch wieder ad acta gelegt worden. Zell am See und die „Zeller Tagung“ sind längst zu einer symbiotischen Marke geworden.

3.3.
Internationale Aspekte

Die ÖGARSR wurde als nationale Vereinigung der Internationalen Gesellschaft für das Recht der Arbeit und der Sozialen Sicherheit (International Society for Labour and Social Security Law – ISLSSL) gegründet. Sie hat daher auch Aufgaben auf internationaler Ebene zu erfüllen. Im Rahmen der statutarischen Zweckwidmung und vor allem in der öffentlichen Wahrnehmung steht aber die Veranstaltung der Zeller Tagungen ganz eindeutig im Zentrum der Vereinstätigkeit.386

Die ISLSSL wurde 1958 in Brüssel konstituiert, ihr Sitz ist Genf. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, das Arbeitsrecht und das Sozialrecht sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene zu erforschen, den Gedankenaustausch und die Information aus vergleichender Sicht sowie eine möglichst enge Zusammenarbeit zwischen WissenschaftlerInnen, AnwältInnen und sonstigen ExpertInnen auf den Gebieten des Arbeitsrechts und des Sozialrechts zu fördern. Zur Erreichung dieser Ziele veranstaltet die ISLSSL in periodischen Abständen Welt- und Regionalkongresse. Zu den dort diskutierten Themen erstatten die nationalen Gesellschaften jeweils Landesberichte. Jene der ÖGARSR wurden ursprünglich in einer eigenen Schriftenreihe (Herausgeber Floretta) publiziert, jetzt sind sie über die Homepage der ISLSSL (http://islssl.orghttp://islssl.org) zugänglich.*

Mitglieder der ÖGARSR haben wiederholt an Kongressen der ISLSSL teilgenommen und dort wertvolle Beiträge geleistet. Umgekehrt hat der ehemalige Generalsekretär der ISLSSL, Johannes Schregle, der auch Honorarprofessor an der Universität Salzburg und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats dieser Zeitschrift ist, bei der 14. Zeller Tagung (1979) einen viel beachteten Vortrag über „Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses in rechtsvergleichender Sicht“ gehalten.

Ähnlich dem Nachwuchsforum der ÖGARSR hat auch die ISLSSL eine „Abteilung junger Rechtsgelehrter“ eingerichtet. Bei ihrem ersten Treffen im Rahmen des Europäischen Regionalkongresses in Dublin (2014) wurden die Auswirkungen der ökonomischen Krise auf die aktuelle Entwicklung der Arbeitsrechtssysteme in den europäischen Ländern diskutiert. Den österreichischen Landesbericht zu diesem Thema verfasste ein Team von jungen WissenschaftlerInnen der Wirtschaftsuniversität unter der Leitung von Franz Marhold.*

Besonders gute Kontakte bestehen traditionell zu deutschen Arbeitsrechts- und SozialrechtswissenschaftlerInnen. Prominente Vertreter ihres Faches sind wiederholt als Referenten bei Zeller Tagungen in Erscheinung getreten, meistens mit Vorträgen zu rechtsvergleichenden oder europarechtlichen Themen. In deutschen Fachzeitschriften wird auch regelmäßig über die Zeller Tagungen berichtet.

4.
Einfluss auf Wissenschaft und Praxis

Besonders interessant ist der Landesbericht, den die ÖGARSR nach der ersten Zeller Tagung (1966) zum VI. Internationalen Kongress für das Recht der Arbeit und der Sozialen Sicherheit in Stockholm* erstattet hat. Er enthält ua einen Beitrag von Strasser, in dem dieser nicht nur grundlegend – und bis heute aktuell – Fragen der wissenschaftlichen Begriffs- und Systembildung im Arbeitsrecht und im Sozialrecht behandelt, sondern auch den Stand der Lehre und Forschung zum damaligen Zeitpunkt anschaulich darstellt.

Strassers Bestandsaufnahme fällt eher ernüchternd aus: Zwar gab es bereits an vier Juridischen Fakultäten dem Arbeitsrecht und dem Sozialrecht allein oder schwerpunktmäßig gewidmete Ordinariate (Wien, Innsbruck, Salzburg und Linz), aufgrund veralteter Studien- und Prüfungsvorschriften wurden aber die österreichischen JuristInnen im Arbeitsrecht gar nicht und im Sozialrecht nur sehr unzulänglich ausgebildet. Die arbeitsrechtliche und sozialrechtliche Forschung wurde hauptsächlich von theoretisch ambitionierten Praktikern, vor allem der Interessenvertretungen, einzelnen Richtern und Ministerialbeamten getragen. Es war daher kein Zufall, dass drei Inhaber der damals bestehenden Lehrkanzeln für Arbeitsrecht und Sozialrecht von der Praxis her den Weg in die Wissenschaft gegangen sind.

Trotz der nur rudimentären Ansätze in der Lehre und Forschung gab es im Arbeitsrecht neben einigen Grundrissen und dem groß angelegten Kommentar von Floretta und Strasser zum Betriebsrätegesetz bereits eine beachtliche Zahl von dogmatischen Untersuchungen zu Einzelfragen.

Wesentlich trister war die Situation auf dem Gebiet des Sozialrechts: „Ein Grundriss, eine Reihe von Aufsätzen und einige erläuterte Gesetzesausgaben enthalten die Ergebnisse der bisherigen Forschung.* Von einer systematischen wissenschaftlichen Bearbeitung und Durchdringung dieses Rechtsgebiets konnte jedenfalls keine Rede sein.

Es ist vor allem das Verdienst von Theodor Tomandl, das Sozialrecht aus diesem wissenschaftlichen Schattendasein herausgeführt zu haben. Sowohl bei seiner akademischen Tätigkeit als auch in seiner Funktion im Rahmen der ÖGARSR forcierte Tomandl die dogmatische Bearbeitung des Sozialrechts. Zu Recht weisen Rudolf Mosler, Rudolf Müller und Walter J. Pfeil als Herausgeber des jüngsten (und ersten) wissenschaftlichen Kommentars zum österreichischen Sozialversicherungsrecht* im Vorwort darauf hin, dass Tomandls Bemühungen erfolgreich waren und die intensive Beschäftigung nicht nur mit dem Arbeitsrecht, sondern gleichermaßen auch mit dem Sozialrecht heute als „best practice“ in den einschlägigen Universitätseinrichtungen angesehen werden kann.

Für die weitere Entwicklung der Arbeitsrechtswissenschaft waren vor allem zwei Ereignisse von besonderer Bedeutung: die Einsetzung der Kodifikationskommission beim Sozialministerium387 aufgrund einer parlamentarischen Entschließung im Jahr 1967 und die Gründung der ÖGARSR mit den nachfolgenden Zeller Tagungen.

Die Kodifikationskommission hat unter dem Vorsitz von Strasser durch ihre fundierten Beratungen nicht nur wesentliche Entscheidungsgrundlagen für die Politik, insb im Zusammenhang mit der Schaffung des Arbeitsverfassungsgesetzes als (Teil-)Kodifikation des kollektiven Arbeitsrechts, geliefert,* sondern auch zur Weiterentwicklung der Arbeitsrechtsdogmatik in Österreich maßgeblich beigetragen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Grundsatzfragen einer Arbeitsrechtskodifikation und mit dem neuen Arbeitsverfassungsrecht führte zu einer regelrechten Flut von Publikationen und prägte auch das Programm mehrerer Zeller Tagungen (Näheres unter 5.1.).

Wie groß der Beitrag der Zeller Tagungen zur Weiterentwicklung der Arbeitsrechtswissenschaft tatsächlich war, kann natürlich nicht exakt iS eines kausalen Zusammenhangs festgestellt werden. Bei einzelnen wichtigen Publikationen ist das aber doch evident: Ein im Jahr 2006 von Matthias Neumayr und Gert-Peter Reissner herausgegebener zweibändiger Kommentar trägt ausdrücklich den Titel „Zeller Kommentar zum Arbeitsrecht“.* Im Vorwort begründen die Herausgeber diese Bezeichnung wie folgt:

„Zell am See ist zu einem Markenzeichen für das Arbeitsrecht in Österreich geworden. Die im Jahr 1965 von Hans Floretta und Rudolf Strasser gemeinsam ins Leben gerufene Österreichische Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht hält alljährlich in Zell am See ihre wissenschaftliche Tagung ab, die sich zu einem Pflichttermin für alle entwickelt hat, die mit dem österreichischen Arbeitsrecht verbunden sind. Unter der Präsidentschaft von Hans Floretta, Rudolf Strasser und Karl Spielbüchler hat sich die Veranstaltung zur größten juristischen Fachtagung unseres Landes entwickelt.

Mit der im Jahr 2006 erschienenen 1. Auflage des Zeller Kommentars haben wir diesen großen Verdiensten sichtbare Anerkennung gezollt…“

Ergänzend zum Zeller Kommentar sind in den folgenden Jahren ein Zeller Handbuch Arbeitsvertrags-Klauseln* und ein Zeller Handbuch Betriebsvereinbarungen* erschienen und zu einer „Zeller Bibliothek zum Arbeitsrecht“ zusammengefasst worden.

Einen unmittelbaren Beitrag zur arbeitsrechtswissenschaftlichen Publizistik stellen auch die Veröffentlichungen der schriftlichen Fassung der bei den Zeller Tagungen gehaltenen Vorträge und die Tagungsberichte in Fachzeitschriften dar. Hier nimmt „Das Recht der Arbeit“ eine führende Stellung ein. Die meisten Zeller Referate wurden hier veröffentlicht, und über den gesamten Zeitraum seit der ersten Zeller Tagung gab es regelmäßig fachkundige Tagungsberichte.

Bei anderen Publikationen ist der unmittelbare Zusammenhang mit den Zeller Tagungen nicht gleich ersichtlich. Vielfach wird aber im arbeitsrechtlichen Schrifttum auf Inhalte von Vorträgen oder Diskussionsbeiträgen bei Zeller Tagungen Bezug genommen. Insgesamt ist allein schon die fast explosionsartige Zunahme arbeitsrechtlicher Publikationen ein Indiz für die starken Impulse, die von den Zeller Tagungen ausgegangen sind.

Ähnliches gilt für die Auswirkungen der Zeller Tagungen auf die arbeitsrechtliche Judikatur. Probleme, die Gegenstand höchstgerichtlicher Entscheidungen waren, stehen häufig auch bei Zeller Tagungen zur Diskussion (besonders bei den Seminaren). Mit dem Senatspräsidenten Anton Spenling ist ein prominenter Richter des OGH im Vorstand der ÖGARSR vertreten und kann somit beratend bei der Auswahl der Tagungsthemen mitwirken. Umgekehrt kann wohl davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse der Zeller Tagungen auch bei gerichtlichen Verfahren und Entscheidungen über einschlägige Fragen Beachtung finden. Es fällt jedenfalls auf, dass der OGH seine Entscheidungen in arbeitsrechtlichen Angelegenheiten mit großer Sorgfalt, oft unter gründlicher Auseinandersetzung mit dem einschlägigen wissenschaftlichen Schrifttum, begründet.

5.
Beispiele

Eine detaillierte Analyse der Inhalte und der Ergebnisse der Zeller Tagungen unter dem Gesichtspunkt ihres Einflusses auf die Entwicklung des Arbeitsrechts und des Sozialrechts würde – auch wenn sie nur auf Schwerpunkte beschränkt bliebe – den Rahmen eines Aufsatzes bei Weitem überschreiten. Im Folgenden wird deshalb versucht, dieser Frage beispielhaft in zwei Themenbereichen tiefer nachzugehen, wobei allerdings auch hier die Zusammenhänge nur punktuell angesprochen, nicht aber vollständig ausgeleuchtet werden können.

5.1.
Arbeitsverfassungsrecht

Als erstes Beispiel bietet sich das Arbeitsverfassungsrecht an, nicht nur weil die Arbeitsverfassung der wichtigste Teil der Arbeitsrechtsordnung und darüber hinaus ein Grundpfeiler der gesamten Sozialordnung ist, sondern auch deshalb, weil arbeitsverfassungsrechtliche Themen in den letzten 50 Jahren immer wieder auf der Agenda von Zeller Tagungen gestanden sind.

Wie eng die personellen und thematischen Verflechtungen zwischen der Arbeitsrechtswissenschaft und der ÖGARSR bzw der „Zeller Tagung“ sind, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die Kommentarliteratur: Alle bedeutenden Kommentare zum Arbeitsverfassungsrecht wurden oder werden von Wissenschaftlern und einer Wissenschaftlerin herausgegeben, die auch im Rahmen der ÖGARSR388 und der „Zeller Tagung“ eine führende Position einnehmen.*

Darüber hinaus hat die wissenschaftliche Bearbeitung des ArbVG eine nahezu unüberschaubare Flut von Publikationen zu arbeitsverfassungsrechtlichen Themen ausgelöst, von denen einige auch im Rahmen der „Zeller Tagung“ referiert und diskutiert wurden.

5.1.1.
Regelungsumfang des ArbVG

Die besondere sozialpolitische Bedeutung des ArbVG besteht nicht nur darin, dass es Regelungen über die kollektive Rechtsgestaltung und über die Betriebsverfassung enthält, also die Kernbereiche der Arbeitsverfassung gesetzlich regelt, sondern auch in dem Umstand, dass es andere wichtige Bereiche, die üblicherweise zur Arbeitsverfassung iwS gezählt werden,*nicht regelt. Es sind dies das Koalitionsrecht, die Organisation der überbetrieblichen freiwilligen Berufsvereinigungen und der gesetzlichen Interessenvertretungen (Kammern) der AG und der AN sowie der Arbeitskampf.

In der ersten Phase der Beratungen der Kodifikationskommission gab es eine lebhafte Diskussion darüber, ob auch diese Bereiche in einem neuen ArbVG geregelt werden sollten, wie das hinsichtlich des Koalitionsrechts und der überbetrieblichen Interessenvertretungen im II. Teilentwurf des Arbeitsrechtskodex vorgesehen war. Letztlich wurde aber vor allem aus verfassungsrechtlichen und rechtssystematischen Erwägungen von einem solchen Vorhaben Abstand genommen und der Regelungsumfang des ArbVG auf die engeren Bereiche der Arbeitsverfassung beschränkt.*

Das Koalitionsrecht ist innerstaatlich durch Art 12 StGG und Art 11 der in Österreich im Verfassungsrang stehenden EMRK, unionsrechtlich durch Art 28, Art 52 Abs 3 und Art 53 GRC abgesichert.* Diesbezüglich besteht in Österreich kein weiterer Regelungsbedarf.

Hinsichtlich der überbetrieblichen Interessenverbände regelt das ArbVG im I. Teil lediglich die Voraussetzungen, die Zu- und Aberkennung der Kollektivvertragsfähigkeit (§§ 4 und 5 ArbVG) und den Vorrang der freiwilligen Berufsvereinigungen (§ 6 ArbVG). Das Betriebsverfassungsrecht normiert unter den Grundsätzen der Interessenvertretung in § 39 ArbVG auch die Zusammenarbeit zwischen betrieblichen (Organen der Arbeitnehmerschaft) und überbetrieblichen Interessenvertretungen (Gewerkschaften und Arbeiterkammern) der AN und sieht darüber hinaus eine Reihe von weiteren Anknüpfungspunkten für diese Zusammenarbeit vor.* Abgesehen von diesen punktuellen Regelungen greift aber das ArbVG nicht in das Recht der überbetrieblichen Interessenverbände ein. Deren innere Organisation und Tätigkeitsbereich wird bei den gesetzlichen Interessenvertretungen durch die jeweiligen Kammergesetze (AKG, WKG) und bei den freiwilligen Berufsvereinigungen durch das Vereinsrecht geregelt. An diesen Grundsätzen hat auch der Verfassungsgesetzgeber festgehalten, als er nach jahrzehntelangen Diskussionen mit der B-VG-Novelle 2008 zwar die Sozialpartnerschaft und die berufliche Selbstverwaltung institutionell in der Verfassung verankert, zugleich aber deren Autonomie verfassungsrechtlich abgesichert hat (siehe oben 1.).

Die österreichische Rechtsordnung enthält weder in der Verfassung noch auf einfachgesetzlicher Ebene Bestimmungen, die den Arbeitskampf ausdrücklich und speziell regeln.* Nur in Randbereichen (wie zB im Arbeitslosenversicherungsrecht) bestehen punktuelle Regelungen im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf.

Auch das ArbVG klammert dieses Thema von seinem Regelungsumfang vollständig aus. Weder im Rahmen der Vorarbeiten der Kodifikationskommission noch in den Sozialpartnerverhandlungen oder bei den (kurzen) parlamentarischen Beratungen über das ArbVG war die Frage einer gesetzlichen Regelung des Arbeitskampfes Verhandlungsgegenstand.

Im Gegensatz zum deutschen Betriebsverfassungsgesetz (§ 74 Abs 2 BetrVG) normiert das ArbVG folgerichtig weder ein Arbeitskampfverbot noch ein Verbot der Beeinträchtigung des „Betriebsfriedens“.* Da auch die Rsp zu Fragen des Arbeitskampfes eher spärlich und – bis auf eine E des OGH, in der dieser aus dem Ziel des Interessenausgleichs nach § 39 ArbVG ein Kampfverbot und eine gesetzliche Friedenspflicht abzuleiten versucht hat* – mit grundsätzlichen Aussagen weise zurückhaltend war, blieb es der Wissenschaft überlassen, die rechtlichen Rahmenbedingungen des Arbeitskampfes auszuloten.* In Anbetracht 389des spärlichen Normenmaterials einerseits und der naturgemäß höchst unterschiedlichen Interessenlage andererseits fand – und findet – sie hier ein weites Betätigungsfeld vor.

Das Schweigen des ArbVG zu diesen grundsätzlichen Fragen der kollektiven Arbeitsbeziehungen ist kein Hinweis auf eine Gesetzeslücke – im Gegenteil, es ist ein „beredtes Schweigen“, eine klare rechts- und sozialpolitische Entscheidung auf der Basis eines breiten gesellschaftlichen Konsenses für das Grundmodell unserer Arbeits- und Sozialordnung.

Zurückhaltung haben auch die Veranstalter der „Zeller Tagung“ bei der Wahl des Themas Arbeitskampf geübt. Nur ein einziges Mal in fast 50 Jahren stand dieses Thema auf der Tagesordnung: Bei der 39. Tagung (2004) referierte Rebhahn über „Der Arbeitskampf bei weitgehend gesetzlicher Regelung der Arbeitsbedingungen“. Nach einem Rechtsvergleich mit anderen Ländern, einem Blick auf übernationale Regelungen und einer ausführlichen Analyse der österreichischen Rechtslage kam Rebhahn zum Ergebnis, dass von der überwiegenden Lehre auszugehen sei, wonach der Streik als Gesamtaktion rechtswidrig ist, wenn er gegen ein Gesetz oder gegen die guten Sitten verstößt. Obwohl Rebhahn um eine ausgewogene Darstellung bemüht war und seinen Beitrag selbst (nur) als „erste systematische Aufbereitung“ bezeichnete, die „Denkanstöße liefern“ sollte, kam es schon bei der Tagung zu einer lebhaften Diskussion, die später, nach der Veröffentlichung der erweiterten Fassung seines Vortrags in DRdA,* mit zwei Repliken auf hohem Niveau fortgesetzt wurde. Zunächst merkte Firlei an, der Arbeitskampf sei „ein Instrument des Ausgleichs fehlender Marktmacht bei der Gestaltung der Vertragsbeziehung ‚Arbeitsverhältnis‘“. Politische Streiks, für die die Verbände des Arbeitslebens „unzuständig“ seien, wären rechtswidrig, unzulässig und verboten.* Darauf und auf Rebhahns einschränkende Thesen replizierte Schindler, es gebe keine normative Basis für die Annahme, dass der Gesetzgeber das freie Wahlrecht der Koalitionen, welches Instrumentarium sie zur optimalen Vertretung der Interessen der Mitglieder für geeignet erachten, einschränkt. Das Ergebnis von Rebhahns Untersuchung sei „letztendlich falsch“, und grundsätzlich: „Die rechtswissenschaftliche Diskussion zu Fragen des Arbeitskampfes sollte den Wandel der Zivilgesellschaft reflektieren, will sie nicht zu irrelevanter juridischer Haarspalterei verkommen“.*

Nach diesem heftigen intellektuellen Schlagabtausch ist wieder Ruhe in die wissenschaftliche Auseinandersetzung um das Thema Arbeitskampf und Arbeitsverfassung eingekehrt. Erst bei der 50. Zeller Tagung hat Franz Marhold in seinem Referat über die Koalitionsfreiheit auch wieder Fragen des Arbeitskampfes aufgegriffen und in Übereinstimmung mit der weitaus überwiegenden Lehre aus der Rsp des EGMR die Entwicklung von der Streikfreiheit zum Streikrecht abgeleitet.* Trotz dieses qualitativen dogmatischen Fortschritts sieht Marhold aber keinen Bedarf nach einer Änderung des Status quo im innerstaatlichen österreichischen Recht.* Das entspricht auch durchaus der Realität der gelebten österreichischen Sozialordnung. Trotz einiger spektakulärer Arbeitskämpfe in den letzten Jahren zeigt die Streikstatistik weiter ein klares Bild: Die durchschnittliche jährliche Streikdauer wird in Österreich in Minuten oder Bruchteilen davon gemessen.* Soziale Konflikte werden in der Regel am Verhandlungstisch der Sozialpartner ausgetragen. Oder, wie Bruno Kreisky es auf den Punkt gebracht hat: Sozialpartnerschaft ist „sublimierter Klassenkampf am grünen Tisch“.

5.1.2.
Grundsätze und Systematik

Schon mit der ersten Auflage ihres Kommentars zum Betriebsrätegesetz (1961) hatten Floretta und Strasser die rechtsdogmatische Basis des Betriebsverfassungsrechts geschaffen. Der II. Teilentwurf eines Arbeitsgesetzbuches aus dem Jahr 1962, konzipiert von Martinek und Schwarz nach ausführlichen Beratungen in einem Arbeitskreis des ÖGB unter der Leitung von Weißenberg, baute auf dem wissenschaftlichen Konzept von Floretta und Strasser auf und ergänzte es um Bestimmungen über die kollektive Rechtsgestaltung, wobei die tragenden Grundsätze aus dem großartigen sozialpolitischen Werk von Ferdinand Hanusch in den ersten Jahren der Republik (Betriebsrätegesetz 1919, Kollektivvertragsgesetz und Einigungsamtsgesetz 1920) mit den Änderungen nach dem Wiederaufbau der österreichischen Rechtsordnung in der 2. Republik übernommen werden konnten. Die Kodifikationskommission fand also zu Beginn ihrer Beratungen über ein neues Arbeitsverfassungsrecht bereits ein wissenschaftlich-systematisch aufbereitetes Grundkonzept vor. Strasser als Vorsitzender der Kommission brachte seine hohe wissenschaftliche Autorität in die Diskussion ein und sorgte dafür, dass sich die Beratungen der Kommission weitgehend an diesem Grundkonzept orientierten. Der von ihm gemeinsam mit Martinek verfasste Gesetzentwurf, der eine der Grundlagen für die Beratungen der Kommission war, weist in zentralen Punkten bemerkenswerte Parallelen mit dem letztlich beschlossenen Gesetz auf. Man kann deshalb wohl feststellen: Das ArbVG ist, was die wissenschaftlichen Vorarbeiten und Grundlagen betrifft, in erster Linie ein Werk der Gründungsväter der ÖGARSR. Es trägt in weiten Bereichen die wissenschaftliche Handschrift von Rudolf Strasser.390

Ergebnis ist ein Gesetzeswerk, das wegen seiner klaren Systematik in Aufbau und Gliederung und wegen seiner hohen legistischen Qualität durchwegs Anerkennung, auch über die Grenzen des Landes hinaus, gefunden hat.*

Im Zuge der weiteren Entwicklung des ArbVG* ist zwar durch zahlreiche Novellierungen, zum Teil in „Sammelgesetzen“ und in Form von leges fugitivae, die Übersichtlichkeit des Gesetzesstoffes stark beeinträchtigt worden, die tragenden Grundsätze des Arbeitsverfassungsrechts sind aber unverändert geblieben. So konnte Rudolf Mosler in seinem Vortrag* bei der „Rudolf Strasser Gedächtnistagung“ im Jahr 2012 bilanzierend feststellen:

„Das österreichische Kollektivvertragsrecht hat sich über viele Jahrzehnte bewährt. Es wurde bemerkenswert wenig geändert, was einerseits ein Hinweis auf die Stabilität der Arbeitsbeziehungen, andererseits auch auf die legistische Qualität des I. Teils des ArbVG ist, an dessen Zustandekommen Rudolf Strasser maßgeblich mitgewirkt hat.“

Bei der gleichen „Zeller Tagung“ referierte Peter Jabornegg zum Thema „Mitbestimmung durch Betriebsvereinbarung“,* einem zentralen Bereich Strassers wissenschaftlicher Tätigkeit, und kam zu dem Schluss, dass er „die diesbezüglichen grundlegenden Forschungen Rudolf Strassers mangels rechtspositiver Änderung des geltenden Betriebsvereinbarungsrechts durch den Gesetzgeber weiterhin für maßgeblich halte“.*

5.1.3.
Rechtsnatur der kollektiven Normen

Seit Klecatskys provokanter These über die angebliche Verfassungswidrigkeit der kollektivvertraglichen Normsetzung (siehe oben 1.) hat sich die Rechtswissenschaft intensiv mit der Frage der Rechtsnatur der kollektiven Regelungsinstrumente und der durch sie geschaffenen Regelungen auseinandergesetzt.*

Schon bei der ersten Zeller Tagung (1966) referierte Zöllner über die Rechtsnatur des Tarifvertrags nach deutschem Recht, und bei der fünften Tagung 1970, also zeitgleich mit den Beratungen der Kodifikationskommission, befassten sich Floretta und Kafka in grundlegenden Vorträgen mit der Rechtsnatur der Quellen des kollektiven Arbeitsrechts. Dabei vertrat Floretta mit überzeugender Begründung die heute weitaus überwiegende Auffassung, dass die repräsentativ-privatrechtliche Rechtsetzungsbefugnis der Parteien des KollV und der BV aus der Privatautonomie abzuleiten ist.

Mehr als 40 Jahre später, bei der Strasser-Gedächtnistagung 2012, konnte Mosler zwar konstatieren, mit der B-VG-Novelle 2008 sei geklärt, dass der KollV als Rechtsquelle nicht verfassungswidrig ist, er warf aber zugleich die Frage nach der Reichweite der sogenannten Tarifautonomie auf, die ein neuerliches Aufgreifen des Themas rechtfertigen könnte.

In der Lehre wird die Rechtsnatur der kollektiven Normen differenziert gesehen: KollV und BV werden nach überwiegender Ansicht als Institute des Privatrechts, der normative Teil des KollV als Gesetz im materiellen Sinn und damit als Rechtsquelle qualifiziert. Jene Normen des Kollektivvertragsrechts, die den Kollektivvertragsparteien eine autonome Rechtsetzungsbefugnis verleihen sowie die Bestimmungen über die Kollektivvertragsfähigkeit sind dagegen öffentlich-rechtlicher Natur.* Mindestlohntarif, Lehrlingsentschädigung und Satzungserklärung sind Formen der behördlichen Regelung von Arbeitsbedingungen.*

5.1.4.
Absolut zwingendes Arbeitsverfassungsrecht?

Obwohl das ArbVG dazu keine ausdrückliche Regelung enthält, gehen Lehre und Rsp* ganz überwiegend davon aus, dass die Bestimmungen des ArbVG im Allgemeinen absolut (zweiseitig) zwingenden Charakter haben und daher durch kollektive oder privatautonome Rechtsgestaltung weder zu Gunsten noch zu Lasten der AN abgeändert werden können.* Diese von Floretta/Strasser bereits im HK zum ArbVG vertretene These ist von Jabornegg unter Hinweis auf die Diskrepanz von Norm und Realität und auf die große praktische Bedeutung hinterfragt und nach einer überaus sorgfältigen und gründlichen Analyse im Ergebnis bestätigt worden.*

Im Rahmen der Strasser-Gedächtnistagung (2012) hat Jabornegg einen wichtigen Teilaspekt dieses Themas, nämlich das gesetzliche Konzept der BV als Instrument der Mitbestimmung, näher untersucht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, dass das ArbVG neben der BV keine weiteren Möglichkeiten verbindlicher kollektiver Vereinbarungen zwischen Betriebsinhaber und Belegschaft vorsieht.* Er hat damit auch in dieser für die Praxis außerordentlich relevanten Frage Strassers Grundthese nachdrücklich verteidigt und untermauert (Näheres unter 5.1.5.).

Eine andere Grundsatzfrage des Arbeitsverfassungsrechts, die ebenfalls Gegenstand der „Zeller Tagung“ war, ist jene nach dem Umfang und den Grenzen der Regelungsbefugnis der Kollektivvertragsparteien.* Im Besonderen geht es dabei um die Frage, ob durch KollV auch betriebsverfas-391sungsrechtliche Angelegenheiten geregelt, also zB weiter gehende Mitwirkungsrechte oder alternative Organisationsformen der Arbeitnehmerschaft normiert werden können. Eine derartige Möglichkeit war zwar in der RV des ArbVG vorgesehen, wurde aber – als Ergebnis der Sozialpartnerverhandlungen – letztlich nicht in das Gesetz aufgenommen. Daraus haben Lehre* und Rsp* den Schluss gezogen, dass betriebsverfassungsrechtliche Angelegenheiten über den durch das ArbVG abgesteckten Rahmen (§ 2 Abs 2 Z 5 und 6 sowie § 29) hinaus nicht durch KollV geregelt werden können. Strasser hat zwar schon im ArbVG-HK* (kritisch) darauf hingewiesen, dass § 29 ArbVG (auch) die Ermächtigung enthält, betriebsverfassungsrechtliche Bestimmungen bestimmter Art in den KollV aufzunehmen, im ArbVG-Großkommentar* vertritt er aber die gleiche Auffassung wie der weitaus überwiegende Teil der Lehre.

Runggaldier (43. Tagung 2008) und Mosler (47. Tagung 2012) haben sich in ihren Vorträgen zu dieser Frage nicht geäußert, letzterer weist aber als Beispiel für eine gesetzliche Erweiterung von Mitwirkungsrechten durch den KollV insb auf § 1a AZG hin und bezeichnet im Übrigen die derzeitige Regelung des ArbVG als „Torso, der nur durch die Logik des Kompromisses erklärbar ist“.* Rechtspolitisch tritt er dafür ein, hinsichtlich der Erweiterung der Mitwirkungsrechte am Modell des AZG anzuknüpfen (dazu näher unter 5.2.). Firlei* sieht einen Änderungsbedarf vor allem unter dem Gesichtspunkt größerer organisatorischer Flexibilität der Arbeitnehmerschaft.*

5.1.5.
Betriebsvereinbarung

Das Thema BV beschäftigt die Arbeitsrechtswissenschaft in Österreich seit ihren Anfängen. Schon in den ersten Jahren nach der Wiedererrichtung einer demokratischen Betriebsverfassung durch das Betriebsrätegesetz 1947 sind Arbeiten zu diesem Thema publiziert worden. In seiner Habilitationsschrift über die BV nach österreichischem und deutschem Recht (1957) errichtete dann Strasser ein komplexes Lehrgebäude, das trotz diverser Zu- und Umbauten und trotz vielfacher Kritik an der Praktikabilität seiner Thesen bis heute die dogmatische Grundlage dieses Teilgebietes des Arbeitsverfassungsrechts bildet.

Strassers zentrale These lautet: Betriebsvereinbarungen können nur in jenen Angelegenheiten abgeschlossen werden, die durch spezielle Ermächtigungen im Gesetz oder in einem KollV einer Regelung durch BV überantwortet worden sind. Insoweit eine BV aus unzulässigem Inhalt besteht, ist sie zumindest als BV absolut nichtig.*

Die Kritik an Strassers Lehre setzte vor allem am Begriff der „unzulässigen“ BV an. Unter Hinweis auf die weit verbreitete Praxis, Vereinbarungen zwischen Betriebsräten und Betriebsinhabern in allen möglichen Angelegenheiten abzuschließen, wurde stattdessen von „freien Betriebsvereinbarungen“ gesprochen und versucht, deren Rechtswirkungen mit verschiedenen Rechtsfiguren des bürgerlichen Rechts zu erklären.*Strasser ist solchen Versuchen stets vehement entgegengetreten* und konsequent bei seiner „reinen Lehre“ geblieben.*

Aufbauend auf der wissenschaftlichen Grundlagenarbeit von Strasser und auf den Beratungen der Kodifikationskommission hat das ArbVG erstmals die BV umfassend und einheitlich geregelt. Dabei wurde, was den Inhalt und die Rechtswirkungen betrifft, ein differenziertes System von Betriebsvereinbarungstypen entwickelt, das später durch zahlreiche Ergänzungen immer breiter aufgefächert und durch eine überbordende Kasuistik des Gesetzgebers zunehmend komplizierter und für die praktische Rechtsanwendung schwieriger handhabbar wurde. Diese Entwicklung hat auch für die Arbeitsrechtswissenschaft ein weites Betätigungsfeld eröffnet und einen regelrechten Boom an einschlägigen Publikationen ausgelöst.*

Das facettenreiche Thema BV hat auch die „Zeller Tagung“ durch die Jahrzehnte begleitet. Höhepunkte der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema waren die Vorträge von Mosler* und von Jabornegg* im Rahmen der Strasser-Gedächtnistagung (2012) und die Diskussion darüber.

Vor allem Jabornegg ist es in beeindruckender Weise gelungen darzulegen, dass das Werk seines Lehrers Strasser nach wie vor relevant ist und die Theorie zur BV dogmatisch weiter zu vertiefen. Jaborneggs Vortrag und die anschließend publizierte erweiterte Fassung sind geradezu ein Musterbeispiel für den Einfluss der „Zeller Tagung“ auf die Entwicklung der Arbeitsrechtswissenschaft.

Die überzeugende Logik von Jaborneggs theoretischen Ausführungen ändert freilich nichts an der Tatsache, dass das geltende System der Betriebsvereinbarungen für die Praxis zu kompliziert und für eine effiziente Mitbestimmung unzureichend ist. Rechtspolitische Überlegungen über eine Reform des ArbVG müssen deshalb (auch) an diesem Punkt ansetzen.* Dabei sollte der leidige, an der Realität des Arbeitslebens vorbeigehende Theorienstreit über Begriffe beendet werden. Betriebsräte und Betriebsinhaber, die – oft nach schwierigen Verhandlungen – Vereinbarungen schließen, die nach der Lehre von Strasser „unzulässige Betriebsverein-392barungen“ sind, haben dabei sicher kein Unrechtsbewusstsein, sondern nur Unverständnis für die „reine Lehre“. Umgekehrt kann es nicht so sein, dass außerhalb des durch das Gesetz abgesteckten Rahmens für den Abschluss von Betriebsvereinbarungen mit den besonderen Rechtswirkungen des § 31 ArbVG unbeschränkte Vertragsfreiheit besteht, was der Begriff „freie Betriebsvereinbarung“ vermuten ließe.*

Jabornegg hat schon Recht, wenn er meint, dass „dies nicht bloß lebensfremde Begriffsjurisprudenz ist, sondern handfeste sozial- und wirtschaftspolitische Entscheidungen des Gesetzgebers dahinterstehen“.* In letzter Konsequenz geht es um die Grundsätze einer Sozialordnung, in deren Mittelpunkt der KollV als vorrangiges Instrument der Lohnpolitik steht.* Am Vorrang des KollV bei der Regelung der materiellen Arbeitsbedingungen, insb der Löhne und Gehälter, muss auch eine Reform der kollektiven Rechtsgestaltung festhalten. Entgeltregelungen in Betriebsvereinbarungen* sollen auch in Zukunft nur in eindeutig definierten und klar abgegrenzten Randbereichen getroffen werden können. Im Übrigen sollte aber der Gestaltungsspielraum für Betriebsvereinbarungen möglichst groß und flexibel sein.

5.2.
Arbeitszeitrecht

Gesetzliche Regelungen zur Einschränkung der grenzenlosen Ausbeutung standen am Beginn der Entwicklung des Arbeitsrechts. Obwohl somit das Arbeitszeitrecht eine lange Geschichte hat, ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Teilgebiet des Arbeitsrechts in Österreich bis weit in die Zeit der 2. Republik hinein erstaunlich bescheiden geblieben. Dass es zum Zeitpunkt der Gründung der ÖGARSR und der ersten „Zeller Tagung“ nur relativ wenige wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema gegeben hat, hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass das damals in Österreich geltende Arbeitszeitrecht ein Relikt aus der NS-Zeit war. Die im Jahr 1939 in Österreich in Kraft gesetzte reichsdeutsche Arbeitszeitordnung (AZO) wurde durch das Rechtsüberleitungsgesetz 1945 in das österreichische Recht übernommen und galt bis zum Inkrafttreten des Arbeitszeitgesetzes (AZG) mit 5.1.1970. Aber auch dann dauerte es noch einige Jahre, bis eine intensivere Forschungs- und Publikationstätigkeit zu Fragen des Arbeitszeitrechts einsetzte. Erst im Zuge der Diskussion über eine „Flexibilisierung“ der Arbeitszeit und der damit zusammenhängenden Gesetzesänderungen (siehe 5.2.2.) entfaltete sich eine rege wissenschaftliche Debatte im Schrifttum, dann freilich in großer Intensität und in kaum noch überschaubarem Umfang.*

Mit der Behandlung von Grundsatzfragen des Arbeitszeitrechts bei der 8. Zeller Tagung (1973)* hat die ÖGARSR wissenschaftliche Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet. Vorträge und Diskussionen bei weiteren Tagungen haben zur systematischen Bearbeitung des Arbeitszeitrechts maßgeblich beigetragen.

5.2.1.
Schutzprinzip

Ziel der Arbeitszeitregelungen war es von Anfang an, das zeitliche Ausmaß der Arbeitsleistung so zu begrenzen, dass gesundheitliche Gefahren und Schäden verhindert werden können.

In meinem Referat bei der 8. „Zeller Tagung“ habe ich versucht, den Nachweis zu erbringen, dass das AZG 1969 trotz einer weitgehenden Auflockerung des Gesetzesrechts durch Ermächtigungen an die Kollektivvertragsparteien zur Vereinbarung abweichender Regelungen („Zulassungsnormen“) am Schutzgedanken als tragendem Prinzip des Arbeitszeitrechts festgehalten hat.

Die Rechtsnatur solcher „Zulassungsnormen“* ist schon vorher von Weißenberg,*Martinek* und insb von Floretta* eingehend wissenschaftlich untersucht worden. Floretta kam dabei zum Ergebnis, dass es sich bei den gesetzlichen Ermächtigungen zur abweichenden Regelung um eine in der Selbstbestimmung der Kollektivvertragsparteien begründete Erweiterung der kollektivvertraglichen Rechtsetzung handle, die vorwiegend privatrechtlichen Charakter* habe. Das ArbVG hat diese Form der kollektivvertraglichen Rechtsetzung in einer Art Generalklausel in § 2 Abs 2 Z 7 „eingefangen“.

ME wird bei den „Zulassungsnormen“ die für das Arbeitszeitrecht typische Gemengelage von öffentlichem und Privatrecht* besonders augenscheinlich. Da die Kollektivvertragsermächtigungen Tatbestandselement der öffentlich-rechtlichen393 Arbeitszeitnormen sind, unterliegt ihre Einhaltung öffentlich-rechtlicher Kontrolle und Sanktionen. Insofern kann von einer Beeinträchtigung der Schutzfunktion des Arbeitszeitrechts durch „Zulassungsnormen“ keine Rede sein.

Dagegen sind mit dem Hinweis auf den Kompromisscharakter kollektivvertraglicher Regelungen sozialpolitische Bedenken in der Richtung erhoben worden, die Kollektivvertragsparteien könnten aus beiderseits gegebenen finanziellen Interessen den Arbeitszeitschutz einvernehmlich „opfern“.*

Eine Analyse der Kollektivvertragspraxis zum damaligen Zeitpunkt hat jedoch ergeben, dass die Kollektivvertragsparteien von den gesetzlichen Ermächtigungen zur Vereinbarung von Arbeitszeitnormen im Allgemeinen in durchaus maßvoller und zweckmäßiger Weise Gebrauch gemacht haben. Ihre Beteiligung an der Gestaltung des Arbeitszeitrechts hat – bis dahin – nicht zu einer Beeinträchtigung des Schutzzwecks geführt. Zu prüfen, wie weit dieser Befund auch nach den „Flexibilisierungswellen“ der letzten Jahrzehnte (siehe 5.2.2.) noch zutrifft, wäre eine lohnende Aufgabe für die sozialwissenschaftliche Forschung.

Im Mittelpunkt weiterer Zeller Tagungen standen arbeitsrechtliche Probleme neuer Arbeitszeitformen,* Entwicklungstendenzen im Arbeitszeitrecht,* neue Aspekte im Arbeitszeitrecht,* arbeitsrechtliche Probleme der Teilzeitbeschäftigung* und Fragen der Kurzarbeit.* Einen umfassenden Überblick über Möglichkeiten der Arbeitszeitregelung hat Gahleitner bei der 41. Tagung (2006) gegeben,* wobei sie Fragen der Arbeitszeitflexibilisierung besondere Aufmerksamkeit widmete.

5.2.2.
Flexibilisierung

Obwohl das AZG schon in seiner Stammfassung genügend Möglichkeiten für eine sowohl dem Schutzgedanken als auch den wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechende Arbeitszeitgestaltung geboten hat, sind zu Beginn der 1990er-Jahre die politischen Forderungen nach einer weiter gehenden Flexibilisierung der Arbeitszeit immer lauter geworden.* Nach schwierigen Sozialpartnerverhandlungen hat der Gesetzgeber diesen Forderungen erstmals mit der Novelle zum AZG und zum ARG 1994, BGBl Nr 446, nachgegeben.*

Die nächsten großen Schritte zur Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts folgten mit der Novelle BGBl I 1997/46 und dann vor allem durch die AZG-Novelle 2007, BGBl I 2007/61. Durch eine Reihe von Gesetzesänderungen* sollten das Arbeitszeit- und das Arbeitsruherecht den geänderten wirtschaftlichen Verhältnissen und betrieblichen Produktionsbedingungen angepasst werden. Für die AN-Organisationen war zentraler Punkt in den Verhandlungen, dass die weiter gehenden Möglichkeiten der Flexibilisierung an die Zustimmung der Gewerkschaft als Kollektivvertragspartner gebunden bleiben. Das ist letztlich auch erreicht worden: Grundsätzlich ist flexibilisierte Arbeitszeit nur auf kollektivvertraglicher Basis möglich.

Damit ist die Diskussion über die Flexibilisierung der Arbeitszeit und deren konkrete rechtliche Ausgestaltung weitestgehend auf jene Ebene verlagert worden, wo sie sozialpolitisch tatsächlich hingehört. In Wahrheit geht es dabei nicht um eine Lockerung des angeblich zu starren gesetzlichen Arbeitszeitrechts, sondern um handfeste ökonomische Interessen der AG.* Eine Durchrechnung der Arbeitszeit und deren Qualifizierung als Normalarbeitszeit erspart dem AG die Bezahlung des gesetzlichen Überstundenzuschlags. Es geht also im Kern um Lohnpolitik, und dafür ist der KollV das vorrangige Gestaltungsinstrument. Für die Gewerkschaften bedeutet die Zuordnung der Arbeitszeitflexibilisierung zur Kollektivvertragspolitik insofern eine Erschwerung ihrer Verhandlungsposition, als sie – wie die Kollektivvertragsverhandlungen in den letzten Jahren gezeigt haben – immer wieder mit der Junktimierung von Lohnerhöhungen und Arbeitszeitflexibilisierungen durch die AG konfrontiert werden.* Die bisherigen Erfahrungen lassen aber den Schluss zu, dass die Kollektivvertragspartner den Erwartungen einer durch den Interessenausgleich gegebenen „Richtigkeitsgewähr“ kollektivvertraglicher Arbeitszeitregelungen* durchaus gerecht werden.

Bedenken muss man hingegen unter diesem Gesichtspunkt gegen eine Übertragung der Rechtsetzungsbefugnis zur Arbeitszeitflexibilisierung auf die Partner der BV haben. Der Interessenausgleich auf betrieblicher Ebene bietet keine ausreichende Garantie, dass auch das öffentliche Interesse am Schutz der Gesundheit der AN im notwendigen Umfang gewahrt wird. Insofern ist auch die durch die AZG-Novelle 2007 eröffnete Möglichkeit nach § 1a Z 1 AZG, Kollektivvertragsermächtigungen generell an die BV „weiterzugeben“, als sozialpolitisch problematisch anzusehen.* Die Kollektivvertragspartner sind gut beraten, wenn sie von dieser Möglichkeit nur nach sorgfältiger Abwägung Gebrauch machen.

In seinem Referat bei der 33. Tagung hat Gerhard Klein schwerwiegende sozialpolitische Bedenken gegen die Neuerungen im Arbeitszeitrecht unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes gel-394tend gemacht.* An die Stelle eines für alle AN annähernd gleichen AN-Schutzes, der nur nach gesundheitlichen Belastungen differenziert, sei „ein fast undurchschaubares System unterschiedlicher Regelungen, deren Sachlichkeit in keiner Weise überprüfbar ist“, getreten, bei dem nicht arbeitsmedizinische, sondern weitgehend arbeitsmarktpolitische und finanzielle Überlegungen im Vordergrund stehen. Besonders problematisch seien kollektivvertragliche Zulassungsnormen unter dem Gesichtspunkt einer auch in Österreich möglichen Gewerkschaftspluralität. In diesem Fall entstünde ein sachliches und juristisches Chaos mit der Gefahr von Sozialdumping.

Ähnlich kritische Positionen wie Klein hat auch Gahleitner in ihrem beeindruckenden Vortrag bei der 41. Tagung (2006, also noch vor der AZG-Novelle 2007) eingenommen.* Arbeitszeitflexibilisierung müsse auch den öffentlich-rechtlichen Zielsetzungen des AZG gerecht werden. Gesundheitsschutz sei nach wie vor aktuell und sei auch heute durch Begrenzung der Arbeitszeiten sicherzustellen. Gesundheitsschutz sei nicht an die Arbeitsvertragsparteien delegierbar, weil diese die negativen Folgen zu hoher Arbeitsbelastung selbst nicht abschätzen können und Entgeltaspekte regelmäßig vor Gesundheitsaspekten beachten, sodass letztlich die Allgemeinheit für Gesundheitsschäden aufkommt. Im Hinblick auf die vorwiegend ökonomischen Interessen der AG an einer Arbeitszeitflexibilisierung sollte die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen weniger durch Verwaltungsstrafen, sondern vielmehr durch zivilrechtliche, marktwirtschaftliche Instrumentarien wie den Überstundenzuschlag, gesichert werden. Dieser unterliege aber in der Praxis einem massiven Funktionsverlust durch immer häufiger vorkommende All-In-Entgelte, „unechte“ Gleitzeit-Betriebsvereinbarungen und weitgehende Bandbreitenmodelle.*

5.2.3.
Funktionsverlust und Effizienzmangel

In keinem anderen Teilgebiet des Arbeitsrechts ist die Kluft zwischen Norm und Realität so groß wie im Arbeitszeitrecht. Trotz punktueller Verschärfung der Sanktionen und trotz der Bemühungen der Arbeitsinspektion um eine wirksame Kontrolle* ist die Übertretung von Arbeitszeitvorschriften in weiten Bereichen der Wirtschaft nicht nur gang und gäbe, sondern hat in den letzten Jahren sogar noch deutlich zugenommen.* Das größte Problemfeld des Arbeitszeitschutzes ist die Überstundenarbeit. Nach einer Studie des WIFO* wurden in Österreich im Jahr 2012 von 170.000 Personen 68 Mio (!) unbezahlte Überstunden geleistet.

Die Gründe für die mangelnde Effizienz des Arbeitszeitschutzes liegen einerseits in der nach wie vor unzureichenden personellen und budgetären Ausstattung der Arbeitsinspektion,* andererseits aber auch im Spannungsverhältnis zwischen individuellen wirtschaftlichen Interessen der Arbeitsvertragspartner und dem gesellschaftlichem Interesse an der Arbeitssicherheit und am Gesundheitsschutz der AN.

AG sind bestrebt, die Lohnkosten zu minimieren und AN sind unter dem Druck der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt oder aber zur Verbesserung ihrer Einkommenssituation vielfach bereit, Arbeitsleistungen über die gesetzlich zulässigen Grenzen hinaus zu erbringen.

In Zeiten einer krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung wirkt sich der auch bei den Zeller Tagungen konstatierte allgemeine Funktionsverlust des Arbeitsrechts im Arbeitszeitrecht besonders gravierend aus. Unter dem Druck eines drohenden Arbeitsplatzverlustes und einer schwierigen Arbeitsmarktlage mit hoher Arbeitslosigkeit bleibt den AN vielfach gar keine andere Wahl als Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, die mit den gesetzlichen Bestimmungen nicht im Einklang stehen.

Mit der weitgehenden „Flexibilisierung“ der gesetzlichen Arbeitszeitnormen ist der Gestaltungsspielraum der Kollektivvertragsparteien erheblich erweitert, zugleich ist ihnen aber auch – zusätzlich – ein hohes Maß an sozialer Verantwortung übertragen worden. Die Aufrechterhaltung der Arbeitssicherheit und des notwendigen Gesundheitsschutzes der AN in einer zunehmend deregulierten und fragmentierten Arbeitswelt ist eine der großen gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft.

6.
Ausblick

50 Jahre „Zeller Tagung“ sind eine Erfolgsgeschichte und zugleich ein Stück Geschichte des österreichischen Arbeitsrechts und Sozialrechts. Der vor kurzem erfolgte Generationswechsel an der Spitze der ÖGARSR, die Einführung des Nachwuchsforums und die Erprobung neuer Präsentationsformen bei der Jubiläumstagung waren richtungsweisende Signale für die künftige Entwicklung der „Zeller Tagung“.

An der grundsätzlichen Ausrichtung der Tagung sollte sich auch in Zukunft nichts ändern. Die wissenschaftliche Zielsetzung, wie sie im Statut der ÖGARSR festgeschrieben ist, muss auch weiterhin im Vordergrund stehen, aber: Wissenschaftliche Auseinandersetzung findet nicht im luftleeren Raum, sondern in der Realität des gesellschaftlichen Lebens statt, und hinter wissenschaftlichen Positionen stehen Wertvorstellungen und Werthaltungen, die auch bei den Zeller Tagungen offen dargelegt395 und diskutiert werden sollten.* Mit kurzen, vorher im Internet veröffentlichten Thesenpapieren zu den Themen der Tagung könnte die Diskussion zusätzlich angeregt und belebt werden.

Auch in formaler Hinsicht sind noch andere Gestaltungsmöglichkeiten denkbar: Gelegentliche Podiumsdiskussionen, Round-Table-Gespräche oder Team-Präsentationen unter Einsatz zeitgemäßer Kommunikationstechnologie könnten zusätzlich für Abwechslung sorgen. Dabei sollte freilich nicht das Kind mit dem Bad ausgeschüttet werden. Ein gut strukturierter, pointiert und engagiert in freier Rede gehaltener Vortrag ist für die Zuhörer immer noch wesentlich anregender, als eine mit Information vollgestopfte, im dunklen Raum mühsam abgelesene Powerpoint-Präsentation.

Bei konstant hoher fachlicher Qualität ist die „Zeller Tagung“ vielfältiger, jünger und weiblicher geworden. Mit diesem Befund kann man getrost in die Zukunft blicken.