Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Koalitionsfreiheit*
Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Koalitionsfreiheit*
Wer wann wo wie oft und wofür streikt oder eben auch nicht streikt – mit Antworten auf diese Fragen ließe sich wohl eine kleine europäische Kulturgeschichte schreiben. Dementsprechend vielfältig sind auch die Probleme, mit denen die Gerichte konfrontiert werden. In Deutschland bewegt im Augenblick das Streikrecht der Beamten die Gemüter.* Auch wird über den neuen Gesetzentwurf zur Tarifeinheit gestritten.* Im Vereinigten Königreich werden besonders heftige Auseinandersetzungen über Sekundär-(Unterstützungs-)streiks geführt. Und in Österreich wird über Fragen wie die Bestimmung der Repräsentativität von Koalitionen und den Eingriff des Gesetzgebers in Kollektivvertragsbestimmungen diskutiert.*
Über all dem wölben sich der europäische und der internationale Normenhimmel mit einer Vielzahl von verbindlichen und unverbindlichen Standards. Verbindlich ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), genauer ihr Art 11, der die Freiheit des Einzelnen, „zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten
“408 als allgemeines Menschenrecht schützt, zugleich aber auch nach Art 11 Abs 2 EMRK eine Reihe von Einschränkungen und Ausnahmen zulässt. Die Verbürgung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner jahrzehntelangen Rsp dynamisch ausgelegt. Im Folgenden sollen die neuesten Entwicklungen der Rsp dargestellt und dabei auch die in dem Beitrag von Franz Marhold dargestellten besonderen Probleme bei der Umsetzung von Art 11 EMRK in Österreich reflektiert werden.
Ausdrücklich bekennt sich die Große Kammer des Gerichtshofs in ihrer grundlegenden E Demir und Baykara v. Türkei dazu, dass die EMRK ein „lebendiges Instrument“ sei und im Jahr 2008 die in den 70er-Jahren gegebene enge Auslegung der von Art 11 EMRK geschützten Koalitionsfreiheit nicht mehr aufrechterhalten werden könne.* Die inhaltliche Ausgestaltung des Garantiegehalts von Art 11 Abs 1 EMRK hat damit von dem Recht, Gewerkschaften zu bilden und sich ihnen anzuschließen* und dem Recht der Gewerkschaften, für ihre Mitglieder zu sprechen, ihre Interessen zu vertreten und damit gehört zu werden* – Rechte, die von Anfang an als essentiell erachtet wurden –, bis hin zu einer Anerkennung des Rechts auf Tarifverhandlungen* und des Streikrechts* geführt.* In einer Vielzahl von insb gegen die Türkei gerichteten Fällen wurden Beschränkungen des Streikrechts für konventionswidrig erklärt.* Ungeklärt ist aber noch immer, ob das Streikrecht nur „clearly protected“ (klar geschützt) oder sogar „an indispensable corollary“ (unabdingbarer Bestandteil) der Koalitionsfreiheit ist; im Urteil R.T.M. v. Vereinigtes Königreich wird letztere Interpretation als nicht authentisch dem Gerichtshof zuzurechnen bezeichnet und die Frage offen gelassen. Würde das Streikrecht als „indispensable corollary“ angesehen, wäre der Ermessensspielraum bei nationalstaatlichen Regelungen entscheidend eingeengt und wohl jede Form des Ausschlusses des Streikrechts unzulässig. So weit wollte der Gerichtshof nicht gehen.* Essentiell ist nach der Rsp des Gerichtshofs dagegen – wie der Gerichtshof etwas gewunden ausdrückt – „das Recht der Gewerkschaften zu versuchen, den Arbeitgeber zu überzeugen zuzuhören, was sie für ihre Mitglieder zu sagen haben
“ und das „Recht, in Kollektivverhandlungen einzutreten
“, nicht dagegen auch, einen KollV abzuschließen.* Das Scheitern mache die aus Art 11 EMRK garantierten Rechte noch nicht illusorisch.*
Das Streikrecht wird auch den in Art 11 Abs 2 EMRK genannten Gruppen – Angehörigen der Streitkräfte, der Polizei und der Staatsverwaltung – grundsätzlich zuerkannt; die entsprechenden Ausnahmebestimmungen sind nach Meinung des Gerichtshofs eng auszulegen. In dem Urteil Demir und Baykara v. Türkei wird zum ersten Mal betont, die Angehörigen der Staatsverwaltung müssten grundsätzlich dieselben Rechte wie alle anderen AN haben. Dies war im Grunde nur ein obiter dictum, da es im konkreten Fall um Kommunalbeamte ging und damit, wie der Gerichtshof explizit feststellt, nicht um Angehörige der Staatsverwaltung ieS. Allerdings wird dieser Ansatz in nachfolgenden Entscheidungen bestätigt und weiter konkretisiert.* Interessant ist die Übertragung auch auf Militärangehörige in zwei für Frankreich sehr wichtigen Urteilen. In Adefdromil v. Frankreich und Matelly v. Frankreich ging es darum, dass Militärangehörigen die Mitgliedschaft in für gewerkschaftsähnlich gehaltenen Vereinigungen untersagt wurde. Auch wenn der Gerichtshof die Möglichkeit selbst weitreichender Einschränkungen der Rechte für diese Berufsgruppen zugestand, so erklärte er doch, dass dies nicht bedeuten dürfe, die Militärangehörigen und ihre Gewerkschaften des allgemeinen Rechts, sich zur Verteidigung ihrer beruflichen und immateriellen Rechte zusammenzuschließen, zu berauben.* Damit hat der Gerichtshof eine Art „Wesentlichkeitstheorie“ entwickelt: Die Koalitionsfreiheit darf nicht in ihrer Substanz in Frage gestellt werden.
Ein anschauliches Beispiel für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit entsprechender Einschränkungen 409bietet der Fall Hrvatski Lijecnicki Sindikat v. Kroatien, bei dem es um die Versagung des Streikrechts von Ärztegewerkschaften aufgrund eines formalen Fehlers bei der Unterzeichnung des Annexes zu einer Koalitionsvereinbarung ging; das Streikverbot wurde über mehrere Jahre durch die kroatischen Gerichte aufrechterhalten.* Dies hielt der Gerichtshof für unverhältnismäßig, auch wenn er den von den kroatischen Gerichten intendierten Schutz der Rechte anderer Gewerkschaften als legitimen Zweck der Einschränkung grundsätzlich anerkannte.
Schließlich ist auch die Aussage des Gerichtshofs bedeutungsvoll, die Einschränkungen des Streikrechts müssten klar und vorhersehbar sein. So hat der Gerichtshof in dem Fall Veniamin Tymoshenko ua v. Ukraine* entschieden, eine in sich widersprüchliche Gesetzgebung genüge den Anforderungen der Konvention nicht. Im konkreten Fall waren die Einschränkungen des Streikrechts in zwei verschiedenen Gesetzen nicht miteinander kompatibel; insb war auch nicht klar, welchem Gesetz im Zweifel der Vorrang gebühren sollte. Einer konsistenten richterrechtlichen Entwicklung des Streikrechts dürfte dieses Urteil allerdings nicht entgegenstehen.
Weder das Recht, Gewerkschaften zu bilden noch das Streikrecht sind „absolute“ Rechte.* Einschränkungen kommen aufgrund der nach Art 11 Abs 2 EMRK zu berücksichtigenden Rechtsgüter und Interessen sowie auch aufgrund entgegenstehender Konventionsgarantien wie etwa der Religionsfreiheit in Betracht. Besonders wichtig ist, wie der Gerichtshof in diesem Zusammenhang die Einschränkungsmöglichkeit zugunsten der „Rechte anderer“ auslegt. Fallen darunter auch die Rechte der vom Streik betroffenen Allgemeinheit und des AG, könnte dies zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung mit Blick auf die Streikfolgen führen. Der Gerichtshof akzeptiert den Schutz der Rechte des AG in UNISON v. Vereinigtes Königreich als „legitimen Zweck“ eines Streikverbots.* Gleiches gilt, wie der Gerichtshof in R.M.T. v. Vereinigtes Königreich entschieden hat, bei der Auseinandersetzung um einen Sekundärstreik für den Schutz der Rechte derjenigen, die an der arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung unbeteiligt sind.* In diesem Zusammenhang verweist der Gerichtshof auch auf das allgemeine Interesse („general interest“).* Explizit zurückgewiesen hat der Gerichtshof die Annahme, die Rechte von Gewerkschaften zum Schutz der Rechte der AN müssten immer mehr ins Gewicht fallen als die wirtschaftlichen Interessen der AG. Vielmehr sei eine Abwägung im Einzelfall notwendig.*
Zudem sind die von Art 11 EMRK umfassten Rechte auch gegen andere von der Konvention garantierte Rechte abzuwägen, so etwa die Autonomie religiöser Gemeinschaften, deren Veto gegen eine Gewerkschaftsgründung von den staatlichen Behörden zu respektieren ist. Im Fall Sindicatul v. Rumänien, in dem diese Frage entschieden wurde, ging es um die Gründung einer Gewerkschaft von orthodoxen Priestern gegen den Willen des Bischofs.*
Damit hat sich die Streikfreiheit in der Rsp des Gerichtshofs zum Streikrecht entwickelt.* Allerdings markiert gerade das im Jahr 2014 ergangene Urteil R.M.T. v. Vereinigtes Königreich doch eine gewisse Zurückhaltung gegenüber unbegrenzten Ausdehnungen und auch gegenüber einer ungeprüften Übertragung des internationalen arbeitsrechtlichen soft law auf die Auslegung von Art 11 EMRK.
Grundsätzlich berücksichtigt der Gerichtshof bei der Auslegung der Konvention alle völkerrechtlich relevanten Normen und bemüht sich, Widersprüche und Inkompatibilitäten zu vermeiden. Dies gilt, wie in dem Grundsatzurteil Demir und Baykara ausgeführt, gerade auch für das Arbeitsrecht, das aufgrund der Normsetzungstätigkeit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) besonders detaillierte Vorgaben enthält. Wichtig ist, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Rechtsquellen dessen, was gemeinhin als „Arbeitsvölkerrecht“ angesprochen wird, unterschiedlich sind. So unterscheidet die ILO in ihrem eigenen Normenkorpus zwischen Konventionen und Empfehlungen, wobei letztere in der Regel ergänzend zu Konventionen, aber in unverbindlicher Form, Details regeln. Auch Konventionen sind nach allgemeinem Völkerrecht nur nach Ratifikation für den jeweiligen Staat verbindlich. Relevant ist zudem als eine weitere Form des soft law die Spruchpraxis der internationalen Sachverständigen organe, insb des Committee of Experts on the Application of the Conventions of the ILO und des Committee on Social Rights des Europarats, die nach einer jahrzehntelangen Übung zwar die Anwendung der ILO-Konventionen bzw der Europäischen Sozialcharta in den Mitgliedstaaten überprüfen und entsprechende Sachberichte verfassen können, nach offizieller Lesart aber nicht zur verbindlichen Auslegung berufen sind; gerade bei der ILO gibt es dazu gegenwärtig Streit insb in Bezug auf das nicht im Wortlaut der Konventionen Nr 87 und 98 enthaltene, wohl aber von den Expertenkomitees entwickelte Recht auf 410Streik.* Der EGMR hat diese Normen in Demir und Baykara unabhängig von ihrem Rechtscharakter als richtungsweisend für die Auslegung der Konvention als „lebendes Instrument“ verstanden, wenn auch in einer vorsichtigen Formulierung – „sie könnten eine relevante Erwägung für den Gerichtshof darstellen, wenn er die Bestimmungen der Konvention in Einzelfällen auslegt
“.* Er hat derartige unverbindliche Stellungnahmen auch in nachfolgenden Entscheidungen umfassend zitiert.* Nichtsdestotrotz hat der Gerichtshof in R.M.T. v. Vereinigtes Königreich einer automatischen Übernahme des relevanten soft law eine Absage erteilt. So betont er, dass in den konkret zu entscheidenden Einzelfällen auch andere Erwägungen ausschlaggebend sein können als bei den Expertenkomitees, die allgemeine Entwicklungen von Gesetzgebung und Praxis beurteilen und auch potentielle Gefahren etwa im Zusammenhang mit der Globalisierung in ihre Analyse einbeziehen können.* Auf dieser Grundlage hielt der Gerichtshof das generelle Verbot von Sekundärstreiks für mit der EMRK vereinbar, obwohl dem die – im Grunde einheitliche – Spruchpraxis der internationalen Sachverständigenkomitees* entgegenstand. Letzterer erkannte er insoweit kein ausreichendes „pursuasive weight“ zu:
„… der Gerichtshof meint, dass die negativen Stellungnahmen der relevanten Kontrollgremien der ILO und der Europäischen Sozialcharta für die Feststellung, ob die Auswirkungen des gesetzlichen Verbots von Sekundärstreiks unter Umständen wie den im gegenwärtigen Fall vorliegenden innerhalb des Spektrums der für die nationalen Behörden nach Art 11 zulässigen Optionen geblieben sind, nicht wirklich ausschlaggebend sind.“*
Neben den internationalen Dokumenten sind für den Gerichtshof bei der Auslegung auch rechtsvergleichende Erkenntnisse von Bedeutung. Dabei geht er grundsätzlich von einer Diversität der europäischen Rechtsordnungen mit Blick auf die jeweiligen Regelungen zu den Gewerkschaften aus, sieht aber auch bei Einzelfragen, wie der Zulässigkeit von Sekundärstreiks, eine gewisse Konsensbildung.*
Für die Feststellung einer Konventionsverletzung ist oftmals der Umfang des Ermessensspielraums die entscheidende Frage. Dazu hat der Gerichtshof eine sehr differenzierte Technik entwickelt und grenzt ab zwischen dem Bestehen eines Ermessensspielraums an sich sowie einem engen oder limitierten und einem weiten Ermessensspielraum. Auch in dem jüngst ergangenen Urteil R.T.M. v. Vereinigtes Königreich spielt diese Frage eine entscheidende Rolle. Der Gerichtshof unterscheidet dabei nach der Art des Eingriffs und erklärt, bei besonders weitreichenden Einschränkungen wie der Auflösung einer Gewerkschaft sei es angebracht, von einem beschränkten Ermessensspielraum auszugehen.* Grundsätzlich aber nicht: So könne der Ermessensspielraum der nationalen Behörden bei der auf der Grundlage eines demokratischen Verfahrens erreichten Regelung der Gewerkschaftsfreiheit innerhalb des sozialen und wirtschaftlichen Rahmens in einem bestimmten Land nicht als entscheidend eingeengt verstanden werden.* An anderer Stelle nimmt der Gerichtshof seine Kontrollbefugnisse noch weiter zurück: „Im Bereich der Sozial- und Wirtschaftspolitik, die auch die Arbeitskampfpolitik einschließt, respektiert der Gerichtshof grundsätzlich die politische Wahl der Gesetzgebung, solange sie nicht offensichtlich ohne vernünftigen Grund ist.
“*
Grundsätzlich kann man daher sagen, dass die Mitgliedstaaten bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit einen weiten Ermessensspielraum haben, da es sich um sensible soziale und politische Entscheidungen im Rahmen der allgemeinen Wirtschaftspolitik handelt.*
Insb sind die Staaten auch frei, den Status der als repräsentativ anzusehenden Gewerkschaften zu regeln, ein Problem, das für den österreichischen Kontext relevant ist.* In dem Urteil Demir und Baykara führt der Gerichtshof aus, die Staaten könnten den repräsentativen Gewerkschaften einen besonderen Status zuerkennen. Er macht keine Vorgaben, nach welchen Kriterien „Repräsentativität“ zu bestimmen wäre, auch nicht, ob dies ex ante411 in einem gesonderten Verfahren oder ex post vor Gericht geschehen müsse.* Nach Meinung von Franz Marhold ist nicht die Statusbestimmung ex ante, wohl aber das in Österreich gewählte Verfahren aufgrund der Zusammensetzung des Bundeseinigungsamtes konventionswidrig, da die „Vertreter der gesetzlichen Interessenvertretungen bei der Zuerkennung oder Abweisung der Kollektivvertragsfähigkeit an eine freiwillige Berufsvereinigung implizit auch über den Umfang ihrer eigenen Kollektivvertragsfähigkeit
“ entscheiden.*
Grundsätzlich ist zuzugeben, dass im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Einschränkung von Art 11 Abs 1 EMRK, die unter dem Stichwort „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ zu analysieren ist, auch verfahrensrechtliche Absicherungen von Bedeutung sein können. Eine derartige „Prozeduralisierung“ der Konventionsrechte ist allgemein in der Rsp des EGMR zu beobachten. Sie steht im Zeichen der vom Gerichtshof geforderten Subsidiarität, soweit die inhaltlichen Sachentscheidungen dem demokratisch gewählten Gesetzgeber überlassen werden sollen. Im Fall Sindicatul, in dem es um die Weigerung der staatlichen Behörden, die neue Gewerkschaft von Priestern zu registrieren, ging, kann der verfahrensrechtliche Aspekt als mit ausschlaggebend für die unterschiedliche Entscheidung der Kammer einerseits, die eine Verletzung fand, und der Großen Kammer andererseits, die gegen eine Verletzung votierte, gesehen werden. So hatte die Kammer insb kritisiert, dass die Entscheidung, die Eintragung der Gewerkschaft zurückzuweisen, ausschließlich mit auf die Religion verweisenden Argumenten motiviert und damit einseitig war.* Die Große Kammer dagegen hielt das Verfahren für sachgerecht mit Blick auf die vom Staat zu respektierende Autonomie der Religionsgemeinschaften.
Wird eine freiwillige Berufsvereinigung in Österreich von dem aus Vertretern der Wirtschaftskammer Österreich und der Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte zusammengesetzten Bundeseinigungsamt für nicht kollektivvertragsfähig erklärt, so sollte gegen diese Entscheidung der Weg zum Gericht offenstehen. Erst wenn der Rechtsweg bis zum VfGH ausgeschöpft ist, käme eine Beschwerde an den EGMR in Betracht. Sowohl bei der Prüfung einer potentiellen Verletzung nach Art 11 wie auch nach Art 6 EMRK würde der Gerichtshof nicht nur das Ausgangsverfahren vor dem Bundeseinigungsamt ins Visier nehmen, sondern auch fragen, ob eventuell vorhandene Elemente eines unfairen Verfahrens aufgrund der fehlenden Unparteilichkeit der ursprünglichen Entscheidungsträger in einem späteren Teil des Verfahrens vor Gericht ausgeglichen wurde. Dies ist stRsp des Gerichtshofs.* Bei der Prüfung einer Verletzung von Art 11 EMRK wäre auch die Sachnähe der Entscheidungsträger im Ausgangsverfahren als möglicher Rechtfertigungsgrund für eine derartige Verfahrensgestaltung zu berücksichtigen; auch in diesem Zusammenhang wäre die nachfolgende gerichtliche Kontrolle als Ausgleichsfaktor in Rechnung zu stellen.
Relevant für das österreichische Recht ist schließlich nach Meinung von Franz Marhold noch das Problem, inwieweit der Gesetzgeber berechtigt ist, in die ausgeübte Tarifautonomie einzugreifen und in Kollektivverhandlungen gefundene Ergebnisse einseitig zu Gunsten einer Vertragspartei zu ändern. Mit einem vergleichbaren Problem war der Gerichtshof in dem Grundsatzstreit Demir und Baykara konfrontiert. Dabei hatte der Staat aber nicht nur einzelne Elemente des Verhandlungsergebnisses abgeändert, sondern den gesamten Tarifvertrag ex post, nachdem er zwei Jahre angewandt worden war, annulliert. Der Gerichtshof hob hervor, dass nicht nur das Recht auf Verhandeln, sondern auch der Schutz des Verhandlungsergebnisses wesentliche Bestandteile der von Art 11 EMRK gewährleisteten Garantie seien:
„Dementsprechend stellt der Gerichtshof fest, dass die Kollektivverhandlung im vorliegenden Fall und das daraus resultierende Ergebnis für die betroffene Gewerkschaft ein wesentliches Mittel darstellte, um die Interessen ihrer Mitglieder zu fördern und zu sichern.“*
Dabei unterwirft der Gerichtshof die Annullierung des Tarifvertrags ex post* gleichfalls einer Prüfung nach Art 11 EMRK und setzt sich daher mit den Fragen der gesetzlichen Grundlage, des legitimen Zwecks und der Verhältnismäßigkeit auseinander.* An diesem Maßstab wäre grundsätzlich auch das dispositive Kollektivvertragsrecht ebenso wie die einseitige Herabsetzung eines vereinbarten Entgelts zu messen. Im Ergebnis dürfte die Zulassung dispositiven Kollektivvertragsrechts im Vergleich zu der ex post-Annullierung von Tarifverträgen eine andere Wertung erfahren; ein Verbot würde ich aus Art 11 gerade auch mit Blick auf die dem nationalen Gesetzgeber vom Gerichtshof eingeräumte Gestaltungsfreiheit nicht ableiten wollen, soweit dadurch nicht im Einzelfall das Verhandlungsergebnis vollständig zunichte gemacht und die von Art 11 EMRK gewährte Freiheit ausgehöhlt wird. Auch bei Eingriffen ex post wäre eine Einzelfallanalyse vorzunehmen. Zwar garantiert die Konvention, wie der Gerichtshof explizit feststellt, keinen Verhandlungserfolg. Wohl aber könnte man eine positive Verpflichtung, das Verhandlungsergebnis zu sichern bzw eine negative Verpflichtung, unverhältnismäßige Eingriffe zu unterlassen, auf der Grundlage von Art 11 EMRK diskutieren. Zu bedenken wäre auch, dass der Gerichtshof 412bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit, anders als das Bundesverfassungsgericht, nicht unbedingt berücksichtigt, ob der Eingriff das „mildeste Mittel“ war. Aufgrund des weiten Ermessensspielraums im sozialpolitischen Bereich übt er hier, wie sich explizit an dem Urteil R.T.M. v. Vereinigtes Königreich zeigt,* Zurückhaltung.
Kollektives Arbeitsrecht ist nicht nur eine besonders kontroverse, sondern auch eine besonders dynamische Rechtsmaterie. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg hielt man, wie die Gründung der ILO zeigt, länderübergreifende Regelungen zur Sicherung eines fairen internationalen Wettbewerbs für notwendig. Ein knappes Jahrhundert später spricht der EGMR immer noch von einer Diversität der Systeme. Nichtsdestotrotz hat sich in einem langsam fortschreitenden Prozess eine Reihe von Mindeststandards herausgebildet, bei denen es kein „Zurück“ mehr gibt. Dazu gehört auch das grundsätzlich alle Gruppen von AN und Beamten umfassende Streikrecht als Teil der Koalitionsfreiheit. Die grundlegenden Fragen dazu sind beantwortet, die Auseinandersetzung über verschiedene Gestaltungsformen und Details wird dagegen immer weiter gehen. In einer globalisierten Wirtschaftswelt, in der alles mit allem verzahnt ist, lässt sich hier kein Schlusspunkt setzen und keine Auslegung von Art 11 EMRK als „gültig für alle Zeit“ erklären. Zu dieser allgemeinen Entwicklung trägt gerade auch der Dialog mit Österreich wichtige Elemente bei und dies, obwohl die letzte relevante Entscheidung des Gerichtshofs zur Koalitionsfreiheit in Österreich bereits 16 Jahre zurückliegt.* Dass der Gerichtshof auch in dieser Entscheidung keine Konventionsverletzung fand, muss mit Blick darauf, dass das österreichische Recht im Wesentlichen mit den konventionsrechtlichen Vorgaben übereinstimmt, nicht überraschen. Dies schließt aber nicht aus, dass dennoch in Zukunft neue Fragen zu klären sind.