Vertrauensschutz im Sozialrecht*
Vertrauensschutz im Sozialrecht*
In der wissenschaftlichen Literatur wird die Diskussion rund um den Vertrauensschutz im Wesentlichen von einer Auseinandersetzung mit der Judikatur des VfGH und deren Aufarbeitung beherrscht.*433
Das ist nun nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Vertrauensschutz originär eine „Erfindung“ des VfGH ist. Das österreichische Verfassungsrecht enthält keine ausdrückliche Regelung eines allgemeinen verfassungsrechtlich gewährleisteten Vertrauensschutzes.* Diese verfassungsrechtliche Garantie war vielmehr Ergebnis einer Prüfung von Fällen durch den VfGH im Zusammenhang mit Ruhensbestimmungen für „Politikerpensionen“, die zu teilweisen oder gänzlichen Stilllegungen des Ruhebezugs geführt hatten.* Der VfGH hat dabei den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz ausschließlich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz entwickelt.* Bestand der ursprüngliche Ansatz noch darin, Personengruppen mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen einander gegenüber zu stellen und eine Art fiktiven Vergleich anzustellen,* entwickelte sich in der Folge ein eigenständiger Begründungsweg, der zu einem aus meiner Sicht sehr ausdifferenzierten System geführt hat.*
Kritisiert wird in der Literatur insb die mangelnde Methodik in der Judikatur des Gerichtshofes,* ihr stark rechtsschöpfender Charakter,* die übermäßige Einengung des legitimen Spielraums des Gesetzgebers,* die Schwierigkeit, angesichts der hohen Kasuistik der Begründungslinien eine systematische Betrachtung zu erarbeiten,* die Unmöglichkeit, künftige Entscheidungen abzuschätzen.* Dabei wird auch wiederholt kritisiert, dass der VfGH nach Änderung der Rsp des EGMR zum Anwendungsbereich des Eigentumsschutzes gem Art 1 1. ZPEMRK,* der auch der VfGH gefolgt ist,* nicht dazu übergegangen ist, die Eingriffe in Rechtspositionen nach diesem Grundrechtsschema zu prüfen, sondern nach wie vor im Prüfungsschema des Gleichheitssatzes „verharrt“;* dass der VfGH Eingriffe in Pensionsansprüche und -anwartschaften nicht dem Grundrecht auf Eigentum unterstelle, belaste die Judikatur beträchtlich, weil der schutzwürdige Vertrauenstatbestand „von vornherein zu weit geraten“ sei; er sei uferlos.*
Zum Vertrauensschutz wurde und wird in der Literatur zwar schon viel gesagt, aber trotz einer nun schon über 25 Jahre andauernden Judikatur des VfGH zum Vertrauensschutz gibt es noch einige offene Bereiche, die wohl in der Zukunft noch behandelt werden müssen. Um nur einige Fragen zu nennen, die bereits in der wissenschaftlichen Literatur aufgeworfen wurden:
Die Werthaltigkeit einer einmal zuerkannten Pensionsleistung: Ob und in welchem Ausmaß eine laufende Anpassung der Pensionen an die wirtschaftliche Entwicklung, vor allem aber nach Maßgabe des durch die Inflation bedingten Wertverlustes, auch verfassungsrechtlich geboten ist, ist eine offene Frage.*
Einem Beitragszahler in die gesetzliche SV muss als Gegenleistung zumindest eine „Versorgung“ gewährleistet werden, die nicht „außer Verhältnis zum früheren Erwerbseinkommen“ steht (sogenannter „Generationenvertrag“).* Wann gerät nun das Versorgungsniveau des Pensionsbezugs zum Erwerbseinkommen „außer Verhältnis“? Wo liegt diese „Unterkante“? Gibt es einen „Kernbereich“, in den der Gesetzgeber nicht eingreifen kann und wo liegt er?434
Kann der einfache Gesetzgeber durch eine „Salamitaktik“ das Entstehen von schutzwürdigen Vertrauenspositionen verringern oder gar beseitigen?*
In der Literatur wird auch die Meinung vertreten, dass zur Abwendung eines Staatsbankrotts zweifellos weiter reichende Eingriffe zulässig sind.* Derartige Situationen kennen wir bisher zwar nicht, es ist aber zu fragen, wie Verfassungsgerichte, wie der EGMR, damit umgehen, wenn sie genau mit derartigen Maßnahmen konfrontiert sind.
Der folgende Beitrag kann und wird die aufgeworfenen Fragen nicht beantworten. Es wird darin aber auf ein paar Kritikpunkte in der Literatur eingegangen und in der Folge insb die Judikatur des EGMR zu Art 1 1. ZPEMRK bei Eingriffen im Bereich des Sozialrechts beleuchtet; dabei werden ein paar der wesentlichen Prüfelemente des EGMR herausgearbeitet, die Vertrauensschutzaspekte beinhalten. Schließlich wird geprüft, ob der VfGH zu Unrecht weiterhin die Prüfung des Vertrauensschutzes lediglich am Gleichheitssatz ausrichtet.
Einer der Kritikpunkte an der Judikatur des VfGH im Zusammenhang mit Vertrauensschutz betrifft die mangelnde Vorhersehbarkeit seiner Entscheidungen. Ich kann diesen Vorwurf – wohl wenig überraschend – nicht teilen:
Der Vertrauensschutz begleitet mich in meiner juristischen Laufbahn bereits seit dem Beginn meiner Tätigkeit im Verfassungsdienst, Anfang der 1990er-Jahre. Und für mich hatte und hat die Rsp eines Höchstgerichts ganz generell eine wesentliche Aufgabe zu leisten: Sie muss einen möglichst verlässlichen Rahmen geben, um rechtspolitische Entscheidungen zu ermöglichen. Bei Pensionsreformen muss abgeklärt werden, ob eine geplante Maßnahme vor dem VfGH Bestand haben wird. Das Prüfschema für eine Risikoabschätzung ist hier seit langem unverändert.
Es wird zunächst gerechnet und dann geprüft:
Handelt es sich grundsätzlich um eine durch Gesetz erworbene Rechtsposition?*
Gibt es gute Gründe, die zum Vertrauen auf einen Fortbestand berechtigen?*
Ist der Eingriff intensiv? Kommt man über eine 10 %-ige Kürzung hinaus?*
Ist er plötzlich?*
Wie lange müssen die Übergangsfristen sein, um das Risiko einer Verfassungswidrigkeit gering zu halten?*
Wird eine punktuelle Maßnahme geplant, die etwa nur Pensionistinnen und Pensionisten erfassen soll oder handelt es sich um ein großes Maßnahmenpaket, das einen größeren Personenkreis trifft?*
Diese Aspekte sind vom VfGH zu prüfen, wenn er einen Fall zu beurteilen hat. Die vom VfGH dabei verwendeten Formulierungen variieren über die Jahre zwar etwas, sie werden elaborierter und umfassender, sie sind im Gehalt aber im Großen und Ganzen gleich geblieben. Nicht in jeder Konstellation wird eine völlig verlässliche verfassungsrechtliche Einschätzung möglich sein; ich behaupte aber, dass eine Risikoabschätzung in jedem Fall möglich ist.
An dieser Stelle soll eine Anmerkung zur Aussage erfolgen, dass Beamte tendenziell besser geschützt seien als Politiker und Pensionsversicherte. Dieser Satz ist zweifellos zutreffend, wenn man die Judikatur des VfGH zu den Ruhensbestimmungen von Beamten analysiert;* der Grund liegt darin, dass der Ruhegenuss – nach wie vor – als öffentlich-rechtliches Entgelt zu qualifizieren ist, als nachträgliche Abgeltung von über viele Jahre erbrachten Dienstleistungen.* Der VfGH hat dementsprechend auch im Jahr 2005 Bestimmungen des Teilpensionsgesetzes als verfassungswidrig aufgehoben – diesmal allerdings „bloß“ wegen mangelnder sachlicher Rechtfertigung, ohne jegliche Bezugnahme auf Vertrauensschutzaspekte.*
Bei der Prüfung von Kürzungen des Ruhebezuges oder des Hinausschiebens des Pensionsantrittsalters wird hingegen keinerlei Differenzierung zwischen Beamten und Pensionsversicherten vorgenommen. Das Prüfschema ist hier völlig ident.435
In der Literatur wird verschiedentlich diskutiert, dass eine gewisse Tendenz bestehe, den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz für wohlerworbene Rechte bloß als Übergangsproblem zu konstruieren, ohne klarzustellen, dass bestimmte Eingriffe per se so intensiv seien, dass auch Übergangsregelungen den Eingriff nicht rechtfertigen können.* Der bisherigen Judikatur des VfGH kann jedoch deutlich entnommen werden, dass dieser eine Unterkante annimmt, die vom Gesetzgeber auch bei sehr langen Übergangszeiträumen nicht unterschritten werden dürfte: In VfGH 2002/VfSlg 16.764 hat der VfGH festgehalten, dass das mögliche Versorgungsniveau nicht „außer Verhältnis“ zu jenem zur Zeit des Erwerbseinkommens sein darf.
Der VfGH knüpft in diesem Erk am Umlagesystem an (dh an der Finanzierung aktuell ausbezahlter Pensionen durch aktuell eingehobene Beiträge) und rechtfertigt die in diesem System die Erwerbstätigen treffende Verpflichtung zur Finanzierung der Pensionen der aus dem Erwerbsleben schon Ausgeschiedenen mit der im Gegenzug erwartbaren Gewährleistung einer künftigen Versorgung auch an diese Beitragszahler (landläufig auch mit dem Schlagwort vom „Generationenvertrag“ bezeichnet); die in diesem Erk enthaltenen Aussagen sind jedoch von grundsätzlicher Bedeutung und sind in ihrer Bedeutung auch nicht bloß auf die gesetzliche SV beschränkt zu interpretieren: Auf dieses Erk wird dementsprechend auch in VfGH 2013/VfSlg 19.832 („ÖBB-Pensionen“) und in VfGHvom 23.6.2014, B 1081/2013 („Hackler-Regelung“), im Zusammenhang mit den verfassungsrechtlichen Grenzen bei Eingriffen in die Pensionshöhe Bezug genommen.
In der Judikatur des VfGH zum Vertrauensschutz spielt der EGMR (nahezu) keine Rolle. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da der VfGH seine Judikatur unmittelbar am genuin österreichischen Gleichheitssatz entwickelt hat und es bislang nicht für notwendig erachtete, auf den Schutz des Art 1 1. ZPEMRK umzuschwenken, wenngleich dies – wie oben erwähnt – in der Literatur kritisiert wurde.
Eine Ausrichtung an der EGMR-Judikatur war bislang aber auch deshalb nicht erforderlich, weil sich das in der Rsp des VfGH garantierte Schutzniveau weit über jenem der Rsp des EGMR befindet: Ich wage zu behaupten, dass die meisten Fälle, die der VfGH im Einzelnen inhaltlich prüft, vom EGMR möglicherweise schon a limine entweder begründungslos oder im Rahmen einer etwas elaborierteren Unzulässigkeitsentscheidung als „manifestly illfounded“ zurückgewiesen würden. Man könnte auch sagen, die materiell begründeten Entscheidungen des EGMR fangen erst bei so schwerwiegenden Eingriffen an, die in der Rsp des VfGH bis jetzt noch gar nicht behandelt werden mussten.
Die bisherigen Fälle gegen Österreich, die durch eine Sachentscheidung erledigt wurden, sind vereinzelt geblieben und betrafen nie Maßnahmenpakete, wie etwa große Pensionsreformen:
Urteil im Fall Gaygusuz:* Hier ging es um Ansprüche auf Notstandshilfe aus der AlV, die auf österreichische Staatsbürger beschränkt war. Der EGMR nahm an, dass ein geschütztes Eigentumsrecht vorliege, weil der Beschwerdeführer (Bf) Beiträge an den Arbeitslosenversicherungsfonds entrichtet habe. Da dem Bf kein Anspruch auf Notstandshilfe gewährt worden war, stellte der EGMR eine Verletzung von Art 14 iVm Art 1 1. ZPEMRK fest.
Urteil im Fall Zeman:* Der Bf fiel als Witwer in die Übergangsbestimmung hinsichtlich der Bemessung seiner Hinterbliebenenrente nach der Wiener Pensionsordnung; dies wurde vom EGMR als Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK iVm Art 14 EMRK gewertet.
Urteil im Fall Klein:* Dem Bf war in diesem Fall das Berufsausübungsrecht als Rechtsanwalt in Folge eines Konkurses entzogen worden. Dies führte in der Folge zum Verlust seines Pensionsanspruchs. Der EGMR stellte eine Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK fest, weil kein legitimes Interesse daran bestehe, mit der Streichung des Bf von der Rechtsanwaltsliste das Verwirken sämtlicher Pensionsansprüche des Anwalts zu verbinden.
Urteil im Fall Stummer:* Der Bf verbrachte etwa 28 Jahre seines Lebens in Haft, wobei er weder kranken-, noch unfall- oder pensionsversichert war. Im Alter von 61 Jahren stellte er einen Antrag auf Zuerkennung einer vorzeitigen Alterspension wegen Arbeitslosigkeit, der aber abgewiesen wurde, weil er zu wenige Versicherungsmonate nachweisen konnte und daher die erforderliche Wartezeit nicht erfüllte. Vor dem EGMR machte der Bf geltend, dass der Ausschluss von in Haft geleisteter Arbeit von der Allgemeinen SV gegen Art 14 EMRK iVm Art 1 1. ZPEMRK verstoße. Die Große Kammer stellte in diesem Fall keine Verletzung fest, wobei der EGMR im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auch dem Umstand Bedeutung beigemessen hat, dass der Bf nach seiner Haftentlassung, wenngleich nicht pensionsberechtigt,436 so doch nicht ohne sozialen Schutz gewesen sei, denn er habe erst Arbeitslosenunterstützung und danach Notstandshilfe bezogen.*
Urteil im Fall Efe:* Dem Bf, einem türkischen Staatsangehörigen, wurde für seine ständig in der Türkei lebenden Kinder keine Familienbeihilfe gewährt. Der EGMR akzeptierte, dass diese Leistung nach dem System der sozialen Sicherheit nur für in Österreich lebende Kinder zu gewähren ist und nahm keine Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK iVm Art 14 EMRK an.*
Urteil im Fall Wallishauser (2):* In diesem Fall war zu prüfen, ob einer DN einer – extraterritorialen – Vertretung eines anderen Staates nicht nur der DN-Beitrag, sondern auch der DG-Beitrag für die SV ex lege überbürdet werden darf. Dabei war auch auf die Staatenimmunität des DG Bedacht zu nehmen. Der EGMR nahm hier keine Verletzung der Eigentumsgarantie an.
Der EGMR zählt neben bestehenden Eigentumsrechten nach nationalem Recht auch unbedingt entstandene Ansprüche auf vermögenswerte Leistungen bzw Forderungen, sofern diese durchsetzbar sind, zum sachlichen Schutzbereich der Garantie des Eigentums. Jedenfalls erfasst sind Forderungen, die bereits durch eine endgültige und verbindliche gerichtliche E anerkannt wurden. Auch „legitime Erwartungen“ („legitimate expectations“) zählen zum Schutzbereich, wenn die Forderung auf einer ausreichenden Grundlage im innerstaatlichen Recht beruht, etwa infolge einer gesicherten Rsp der nationalen Gerichte.*
In seiner Judikatur zum Sozialversicherungsrecht ging der EGMR zunächst davon aus, dass eine vermögenswerte Rechtsposition dann besteht und somit unter den sachlichen Schutzbereich von Art 1 1. ZPEMRK fällt, wenn der betreffende Anspruch durch eigene Beiträge erworben wurde.* In weiterer Folge hat er den Schutz der Eigentumsgarantie allerdings auch auf solche Sozialleistungen erstreckt, bei denen die Leistung eigener Beiträge nicht Voraussetzung ist.*
Analysiert man die Judikatur des EGMR zu Beschränkungen von Sozialleistungen, so stellt man fest, dass diese die Probleme des Staatshaushalts einiger Mitgliedstaaten widerspiegelt. Und diese Rsp hat notwendigerweise bereits eine „Unterkante“ erarbeitet, die gewährleisten soll, dass ein Pensionsanspruch nicht übergangslos komplett entfällt und den betroffenen Personen dadurch die Lebensgrundlage oder ein wesentlicher Teil derselben dadurch entzogen wird.* Wenn daher die gesamte Pension ohne jegliche Übergangsbestimmung gestrichen wird, so ist jedenfalls ein Problem mit dem Eigentumsschutz entstanden.* Alles darunter kann durchaus als gerechtfertigter Eingriff angesehen werden, so etwa auch beträchtliche Pensionskürzungen, wie im Fall Maggio gegen Italien, in dem einem Bf die Pensionsleistung um 38 % gekürzt wurde.*
Im Zuge der Einzelfallprüfung durch den EGMR können folgende Fragestellungen von Relevanz sein, die zT auch in der Vertrauensschutz-Judikatur des VfGH Bedeutung haben:
Handelt es sich um eine besonders schwierige budgetäre Situation des betreffenden Mitgliedstaates?*
Bezweckt der Gesetzgeber eine Harmonisierung von Systemen?
Sollen Privilegien beseitigt werden bzw werden Höchstpensionen beschränkt?*
War die Rechtsnorm, die zu einer Beeinträchtigung führte, vorhersehbar?*
Wurde in eine legitime Erwartungshaltung eingegriffen?*
Führt der Eingriff zur Beeinträchtigung des „Kerns des Pensionsrechts“ („essence of the pension rights“), der „Grundpension“ („basic pension“)?*437
Handelt es sich bei dem Eingriff nur um eine Kürzung einer Zusatzleistung?*
Erfolgt dieser Verlust nicht nur pro futuro, sondern müssen die Betroffenen durch die Gesetzesänderung auch die bereits bezogene Pension zurückzahlen?*
Handelt es sich um eine gesamthafte Maßnahme?* Ist nur eine kleine Gruppe betroffen?*
Erfolgt der Verlust eines wesentlichen Teils der Pension völlig übergangslos?*
Prüfung des gesamten sozialen Umfelds der Betroffenen; um welche soziale Schicht handelt es sich bei den Betroffenen,* ist die Pension die einzige Einkommensquelle, bestünde die Möglichkeit, in der Heimatregion wieder Arbeit zu finden?*
An dieser Stelle ist ein relativ rezentes Urteil hervorzuheben, der Fall Stefanetti gegen Italien vom 15.4.2014.* Es handelt sich hier um Bf, die viele Jahre in der Schweiz lebten und arbeiteten. Italien stellte 1982 das Berechnungssystem für die Pensionen generell von einer beitragsorientierten auf eine einkommensorientierte Methode um. Dies begüns tigte zunächst Personen, die – wie die Bf – hohe Gehälter bezogen haben und geringe Beiträge im Ausland zahlen mussten.* In der Folge führte dies im Jahr 2007 zu einer Gesetzesänderung, sodass nunmehr bei der Berechnung derartiger Pensionen auch die Beitragsrate zu berücksichtigen war.* Für die Betroffenen ergaben sich da raus erhebliche Eingriffe in die von ihnen erwartete Pensionshöhe.
In diesem Urteil betont der EGMR, dass sich seine Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht allein auf den prozentuellen Verlust, der mit dem Eingriff verbunden ist, beschränkt. Vielmehr bewertet der Gerichtshof alle relevanten Elemente eines Falles.* Aus dem Urteil im Fall Maggio gegen Italien, dem dieselben Rechtsfragen zugrunde lagen, dürfte der Schluss gezogen werden können, dass der EGMR einen substantiellen Eingriff, der zu einer Detailprüfung führt, jedenfalls dann annehmen wird, wenn die betroffene Person mehr als die Hälfte ihrer Pension verliert.* Im Fall Stefanetti traf dies zu: Die gesetzlichen Maßnahmen führten zu Pensionskürzungen in der Höhe von 67 %.*
Der EGMR prüfte in diesem Fall die Höhe der Durchschnittspension in Italien (€ 1.251,– monatlich), der Mindestpension (€ 461,– monatlich) und das durchschnittliche Haushaltseinkommen. Er stützte sich auch auf Unterlagen und Bewertungen des Sozialkomitees.* In den zugrunde liegenden Fällen betrugen die nach der Gesetzesänderung zuerkannten Pensionen der Bf zwischen € 714,– und € 1.820,– monatlich. Bis auf einen Bf bezogen alle weniger als die Durchschnittspension, sechs der acht Bf erhielten weniger als € 1.000,– monatlich. Die italienische Regierung gab keinerlei Informationen darüber, welches Maß an Lebensqualität mit diesen Pensionshöhen in Italien zu erwarten sei. Der EGMR ging somit – gestützt auf die Bewertung des Sozialkomitees – davon aus, dass damit nur eine Grundversorgung gewährleistet ist („must be considered as providing for only basic commodities
“). Und weiter: „Thus, the reductions have undoubtedly affected the applicants´ way of life and hindered its enjoyment substantially.
“* Schließlich berücksichtigte der EGMR in seiner E auch, dass die Bf ihre Entscheidung, aus der Schweiz nach Italien zurückzukehren, auf die legitime Erwartungshaltung gestützt hatten, in Italien höhere Pensionen zu erhalten. Die gesetzgeberische Maßnahme, die diese Erwartung, die auch auf gesicherter höchstgerichtlicher 438Rsp beruhte, enttäuschte, war für die Bf nicht vorhersehbar.*
Welche Relevanz können nun Urteile des EGMR für die österreichische Rechtslage haben, wenn die zu prüfenden Eingriffe, die den vom EGMR entschiedenen Fällen zugrunde liegen, viel intensiver gewesen und der Prüfmaßstab des EGMR gleichzeitig viel großzügiger ist? Nun, zum einen ist eine Auseinandersetzung mit der Rsp des EGMR dann erforderlich, wenn gesetzliche Eingriffe aufgrund verfassungsgesetzlicher Normen der Prüfung durch den VfGH entzogen sind. Zum anderen würden etwa die im Fall Stefanetti herangezogenen Parameter wohl auch in einem Fall vor dem VfGH von Bedeutung sein können, wenn tatsächlich die „Unterkante“ zu prüfen ist.
Wann immer der Vertrauensschutz bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, etwa beim Drohen eines Staatsbankrotts, diskutiert wird, wird in der Literatur festgehalten, dass in solchen Konstellationen weiter reichende Eingriffe zulässig sind.* Eine Situation, die in Österreich bislang nicht vorlag, ist in anderen europäischen Staaten bereits Realität und hat auch die Verfassungsgerichte vor entsprechende Herausforderungen gestellt.
Im Folgenden soll kurz auf bemerkenswerte Entscheidungen des portugiesischen Verfassungsgerichts eingegangen werden, das intensive Eingriffe in den Bereichen der SV und des öffentlichen Dienstes zu prüfen hatte. Es handelte sich dabei um Umsetzungsmaßnahmen der „Memoranda of Understanding“, die die portugiesische Regierung mit der EU-Troika abgeschlossen hatte, um finanzielle Hilfsmittel aus dem „Euro-Rettungsschirm“ zu erhalten.*
Beginnend im Jahr 2012 hatte das Verfassungsgericht wiederholt Maßnahmen für verfassungswidrig erklärt, welche die Bediensteten des öffentlichen Sektors einseitig belasteten. Im Juli 2012 wurde die Streichung des 13. und 14. Monatsbezugs allein für Bedienstete des öffentlichen Sektors wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz für verfassungswidrig erklärt.* Im April 2013 hielt das Gericht ua die Streichung des Urlaubsbezuges allein für Bedienstete und Pensionisten des öffentlichen Sektors wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz für verfassungswidrig; dies erneut mit der Begründung, dass diese Maßnahme nur den öffentlichen Sektor getroffen hat und nicht auch den privaten.* Das portugiesische Verfassungsgericht hat in dieser E hervorgehoben, dass die schwierige ökonomische und finanzielle Situation Portugals durch generelle Maßnahmen und nicht durch Maßnahmen bekämpft werden solle, die ausschließlich den öffentlichen Sektor treffen. In einer weiteren E wurde die erleichterte Möglichkeit, öffentliche Bedienstete zu kündigen, ebenfalls für verfassungswidrig erklärt.* Das Verfassungsgericht qualifizierte auch die Pensionsreform des öffentlichen Sektors als Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Prinzip des Schutzes legitimer Erwartungen.* Hingegen wurden etwa einschränkende Maßnahmen im Bereich der SV im Zusammenhang mit Krankheit und Arbeitslosigkeit nicht als verfassungswidrig gewertet.* Auch im Jahr 2014 wurden vom portugiesischen Verfassungsgericht schließlich weitere Sparmaßnahmen für verfassungswidrig erklärt (ua erneut wieder Kürzungen von Gehältern von Bediensteten des öffentlichen Sektors,* Gehaltskürzungen für die Bediensteten in öffentlichen Fonds*).
Das italienische Verfassungsgericht maß hingegen in seiner Rsp, konfrontiert mit der Wirtschaftskrise und den damit verbundenen Eingriffen, den budgetären Erfordernissen großes Gewicht bei und segnete etwa die Rechtsvorschriften, die im Fall Stefanetti angewendet worden sind, ab.* 2012 wurde aber das Einfrieren von Gehältern für Richter und auch Ausgleichszahlungen für höhere Einkommen im öffentlichen Bereich in der Höhe zwischen 5–15 % für verfassungswidrig erklärt.* 2013 wurde das Einfrieren der Einkommen für Personen 439im Universitätsbereich hingegen mit den Notwendigkeiten der Wirtschaftskrise gerechtfertigt.*
Nach dem Blick über Österreichs Grenzen sollen jene Aspekte herausgearbeitet werden, die vom österreichischen VfGH im Rahmen seines Prüfschemas keine Berücksichtigung finden:
Bislang hat der VfGH keinen direkten Vergleich von Elementen öffentlich-rechtlicher Dienstverhältnisse mit anderen Systemen vorgenommen. Dies wurde regelmäßig damit begründet, dass es sich um „tiefgreifend verschiedene Rechtsgebiete handelt, sodass ein Vergleich zwischen den diese Rechtsgebiete regelnden Vorschriften nicht gezogen werden kann“.*
Im Erk VfGH 23.6.2014, B 1081/2013, im Zusammenhang mit der Prüfung der Verfassungskonformität der sogenannten „Hackler-Pension“, hielt der VfGH an seiner bisherigen Auffassung zwar nach wie vor fest, dies „ungeachtet der in den letzten Jahren vorgenommenen Angleichungsmaßnahmen
“; er lässt aber gleichzeitig erstmals durch eine – wenngleich lediglich geringfügige – Änderung der Formulierungen erkennen, dass es sich dabei um eine Position handelt, die künftig einer Veränderung unterliegen könnte:
„Das Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien, wonach ‚ein drastisches Missverhältnis zwischen dem Ruhestandgenuss der Beamten und Frauen, die durch das ASVG-System Pension erhalten,‘ bestehe, weil ‚Beamte (Frauen und Männer der Jahrgänge 1954 bis 1958) nunmehr ein um 10 Jahre höheres Pensionsantrittsalter […] [hätten] als ASVG-versicherte Frauen bis zum Jahrgang 1958‘, bedarf schließlich keiner weiteren Erörterung, weil es sich beim Pensionssystem der (Bundes-)Beamten und anderen Systemen dieser Art, im Besonderen dem der Sozialversicherung, ungeachtet der in den letzten Jahren vorgenommenen Angleichungsmaßnahmen grundsätzlich noch um tiefgreifend verschiedene Rechtsgebiete handelt (vgl etwa VfSlg 16.292/2001 mwH), sodass ein Vergleich zwischen den diese Rechtsgebiete regelnden Vorschriften nicht gezogen werden kann.
“* (Hervorhebung nicht im Original)
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass in der bisherigen Judikatur des EGMR Unterschiede in der Ausgestaltung pensionsrechtlicher Regelungen in den verschiedenen Systemen akzeptiert wurden.*
Der VfGH prüft die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Leistungskürzungen anders als der EGMR danach, in welchem Ausmaß sich die insgesamt zufließenden Pensionsleistungen vermindern und differenziert nicht danach, ob sich die Kürzung nur im Rahmen einer Zusatzleistung auswirkt oder ob es um die „Grundpension“ an sich geht.*
Der VfGH verlangt zwar ein öffentliches Interesse für die Aufhebung oder Abänderung von Rechten, die der Gesetzgeber einmal eingeräumt hat; dabei lässt er dem Gesetzgeber allerdings einen weiten rechtspolitischen Gestaltungsspielraum und akzeptiert grundsätzlich dessen Zielsetzungen.* Demgegenüber setzte er sich in seinem VfGH-Erk 1988/VfSlg 11.665 eingehend und kritisch damit auseinander, ob und in welcher Form die in Prüfung genommene Regelung Auswirkungen auf den Bundeshaushalt hat; so wurde etwa sogar darauf hingewiesen, dass die Berechnung der Bundesregierung den arbeitsaufwändigen Vollzug von Ruhensbestimmungen außer Betracht lässt; weiters wurde ua auf die Minderung des Gesamteinkommens und den damit verbundenen Kaufkraftverlust verwiesen. Schließlich hielt der Gerichtshof fest: „Bezieht man all diese Erwägungen in die Betrachtung mit ein, so sind die vom Bf. des Anlaßfalles … geäußerten Zweifel nicht von der Hand zu weisen, daß das finanzielle Ergebnis der Ruhensregelung insgesamt bestenfalls marginal zu einer Entlastung des öffentlichen Haushalts führt.
“
Weiters erinnerte der VfGH an die mit der Regelung verbundene Minderung des Gesamteinkommens, an die indirekten Einbußen an Abgaben, an den Verlust an Einkommen-(Lohn-)steuer, den Entfall sonst eingehender Sozialversicherungsbeiträge und an die Einbußen im Haushalt der vom Bund subventionierten Pensionsversicherungsträger.
Ebenso eingehend beschäftigte sich der VfGH mit den Auswirkungen der Regelung auf den Arbeitsmarkt. Und er folgerte, dass „Pensionisten … sehr häufig Nebenbeschäftigungen (verrichten), die nicht unmittelbar von einer anderen Arbeitskraft
440übernommen werden. Durch Ruhensbestimmungen wird die Verrichtung unangemeldeter Arbeiten gefördert, sodaß die Zahl der durch die Ruhensbestimmungen frei werdenden Arbeitsplätze offensichtlich deutlich unter der Zahl des Rückgangs an Nebenbeschäftigungen liegt.
“
In der Judikatur des VfGH wird zwar die Rechtsposition von sozial Schwächeren immer wieder besonders berücksichtigt;* bei der Beurteilung der Intensität einer gesetzgeberischen Maßnahme differenziert der VfGH jedoch grundsätzlich nicht nach den Einkommensverhältnissen der Betroffenen; die Prüfung erfolgt nach denselben Maßstäben.
Bei der Prüfung der plötzlichen Bezugskürzung bei Rechtspraktikanten, die im Ergebnis über 14 % betrug, nahm der VfGH zwar auch das „vergleichsweise als gering anzusehende Einkommen der Rechtspraktikanten
“ in den Blick und sah darin „relativ gesehen zu dem als vergleichsweise niedrig einzustufenden Einkommen
“ einen schwerwiegenden, durch den gänzlichen Wegfall der einkommensteuerlichen Begünstigung sogar verschärften Eingriff.*
Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Einführung einer Besteuerung von Versehrtenrenten berücksichtigte der VfGH bei Prüfung der Intensität des Eingriffs ebenso auch das Erwerbs- bzw Pensionseinkommen, dies jedoch vor dem Hintergrund des Zwecks der Versehrtenrente, durch ihr Hinzutreten zu einem solchen Erwerbs- bzw Pensionseinkommen geminderte Erwerbschancen auszugleichen.*
Bei der Kürzung der Nettopension auf Grund einer Neuregelung des Notarversicherungsgesetzes in der Größenordnung von 20–26 % verwarf der Gerichtshof hingegen die Argumente der Bundesregierung, dass Notare angesichts ihres Aktiveinkommens ohnehin zusätzlich privat Schritte zur Altersversorgung zu setzen hätten, um ihren im Erwerbsleben erreichten (hohen) Lebensstandard zu sichern.* Angesichts der Einkommens- und Vermögensverhältnisse von Notaren im Allgemeinen seien diese nach den Ausführungen der Bundesregierung in der Lage, sich während der Zeit der aktiven Berufsausübung durch Maßnahmen der Vermögensbildung (insb die Anschaffung von Immobilien) beträchtliche zusätzliche Einkünfte zu verschaffen. Der VfGH hielt dazu fest: „Das Vorhandensein von Zusatzeinkünften, deren Quellen während einer solchen Berufstätigkeit angeschafft wurden, kann daher an der Beurteilung eines Eingriffs in eine Pensionsanwartschaft als plötzlich und intensiv nichts ändern, da der Vertrauensschutzgedanke (als besondere Ausprägung des Gleichheitssatzes) ansonsten für diesen Personenkreis praktisch beseitigt wäre.
“
Und weiter: Bei Sozialleistungen, vor allem auch solchen, die der Altersversorgung dienen, dürfe nicht unabhängig davon, wie nahe die vom Eingriff Betroffenen bereits dem Pensionsalter sind und durch welchen Zeitraum und in welchem Ausmaß sie Beiträge zu diesem System geleistet haben, dann in jedweder Intensität in selbige eingegriffen werden, „wenn nur – bei Anstellen einer Durchschnittsbetrachtung – das sonstige Einkommen oder Vermögen der betroffenen Personengruppe entsprechend hoch ist
“.
Demgegenüber hat der EGMR etwa im Fall Maggio dem Element Bedeutung beigemessen, dass der Bf geringere Beiträge zu zahlen hatte und so auch in der Lage war, in seinem Erwerbsleben mehr Ersparnisse aufzubauen.*
Weder der VfGH noch der EGMR lassen in ihre Bewertungen eigene Überlegungen einfließen, ob und wie das rechtspolitische Ziel des Gesetzgebers durch (verfassungs- bzw menschenrechtskonforme) Alternativen erreicht werden hätte können. Es werden lediglich die gesetzgeberischen Maßnahmen geprüft oder beurteilt, aber keine alternativen rechtspolitischen Vorschläge (iSd Erreichbarkeit der angestrebten Ziele durch gelinder eingreifende Mittel) gemacht.*
Zunächst ist fraglich ist, ob der gesamte Schutzbereich, den bislang der Gleichheitssatz in seiner Ausprägung Vertrauensschutz abgedeckt hat, auch von Art 1 1. ZPEMRK erfasst wäre:
Sowohl nach der Judikatur des EGMR als auch des VfGH fallen zwar zweifellos Entziehungen laufender Rentenzahlungen in den Schutzbereich des Art 1 1. ZPEMRK:* Fraglich ist allerdings, ob auch in der Zukunft liegende Erwartungen hinsichtlich 441der Pensionshöhe oder des erwarteten niedrigeren Pensionsalters von Art 1 1. ZPEMRK erfasst sind. Der EGMR behilft sich in Zweifelsfragen im Zusammenhang mit sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen grundsätzlich damit, dass er die Frage, ob die gegenständliche Forderung unter Art 1 1. ZPEMRK fällt, ausdrücklich offen lässt und feststellt, dass unabhängig von der Entscheidung über diese Frage keine Verletzung des Art 1 1. ZPEMRK vorliegt.* Im Fall Stefanetti, in dem es um dieselben Rechtsfragen ging wie im Fall Maggio, nahm der EGMR hingegen eine Verletzung von Art 1 1. ZPEMRK an; in diesem Urteil findet sich bei der Erörterung der Anwendbarkeit von Art 1 1. ZPEMRK der Satz : „In the light of its case-law the Court is ready to accept that for the purposes of this case the applicants´ pension entitlements constituted a possession within the meaning of Article 1 of Protocol No. 1 to the Convention …
“
In VfGH 2001/VfSlg 16.292, in dem es um die Anhebung des Pensionsantrittsalters für Abgeordnete nach dem Bezügegesetz ging, prüfte der VfGH die gesetzlichen Maßnahmen zunächst im Hinblick auf den Gleichheitssatz und stellte keine Verletzung des Vertrauensschutzes fest. Und schließlich hält er fest, dass die geprüften Regelungen auch nicht unter dem Gesichtspunkt des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Unversehrtheit des Eigentums bedenklich sind, wobei er sich nicht eindeutig festlegt, ob der Anspruch bzw die Anwartschaft auf Ruhebezug vom Eigentumsschutz des Art 1 1. ZPEMRK umfasst ist.*
In seinem VfGH-Erk 2009/VfSlg 18.886 hielt der VfGH im Zusammenhang mit der Prüfung der Pensionsanpassung für das Jahr 2008 im Bereich des ASVG fest, dass Regelungen über eine Pensionserhöhung im Allgemeinen nicht unter das Grundrecht auf Unversehrtheit des Eigentums fallen.
Werden behauptete Verletzungen des Art 1 1. ZPEMRK an den VfGH herangetragen, so wird auch zT ausgesprochen, dass es „dahingestellt bleiben [kann], ob die von den Beschwerdeführern als verfassungswidrig erachteten Regelungen … überhaupt einen Eingriff in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Eigentumsrecht bewirken können.
“ Im Übrigen wird auf die Ausführungen zum Gleichheitssatz verwiesen.*
Zudem ist im gegebenen Zusammenhang das VfGH-Erk 2013/VfSlg 19.832 hervorzuheben: Bei diesem Fall war die Verfassungskonformität von Kürzungen der Ruhebezüge sowie der Erhöhung des Pensionsantrittsalters der ÖBB-Bediensteten im BB-PG zu prüfen. Da es sich bei diesen Ansprüchen zweifellos um privatrechtliche handelt, wäre dieser Fall im Besonderen geeignet gewesen, eine Position zum Eigentumsschutz zu beziehen. Der OGH, der den Antrag an den VfGH herangetragen hatte, vertrat die Auffassung, dass die Erhöhung des Pensionsantrittsalters sowie die Kürzung der Pension dem Gleichheitssatz widersprechen. Im Antrag wurde auch das Recht auf Unversehrtheit des Eigentums diskutiert, wobei der OGH zum Ergebnis kam, dass sowohl die Kürzungen des Ruhebezugs von rund 8 % bzw 5,13 % als auch die Erhöhung des Pensionsantrittsalters keine Verletzung des Eigentumsrechts bewirkten, „weil dem Eigentumsrecht kein Schutz des Vertrauens immanent und das Kriterium der Plötzlichkeit nicht enthalten
“ sei.* Aufgrund dieser Überlegungen verneinte der OGH bereits selbst das Vorliegen einer Verletzung des Grundrechts auf Eigentum und beschränkte sich in seinem Antrag auf eine behauptete Verletzung des Gleichheitssatzes.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass ein „Umstieg“ auf Art 1 1. ZPEMRK dazu führen könnte, dass bei Eingriffen in manche Rechtspositionen jedenfalls weiterhin eine Prüfung anhand des Gleichheitssatzes erfolgen müsste, da der sachliche Schutzbereich der Eigentumsgarantie und jener des Gleichheitssatzes in der Ausprägung des pensionsrechtlichen Vertrauensschutzes nicht deckungsgleich ist.
Damit ist aber fraglich, ob eine Prüfung von Eingriffen anhand des Rechts auf Unversehrtheit des Eigentums zu denselben Ergebnissen führen würde wie eine Prüfung anhand des Gleichheitssatzes. In der Literatur werden zu dieser Frage durchaus unterschiedliche Positionen vertreten. So vertritt etwa Holoubek die Auffassung, dass der gleichheitsrechtliche Schutz gesetzlich begründeter öffentlicher Rechte „in bestimmten Konstellationen in vertrauensschutzrechtlicher Hinsicht genauso weit gehen (kann) wie der eigentumsgrundrechtliche Bestandsschutz für funktionell vergleichbare private Rechtspositionen
“.* Der Eigentumsgarantie gehe es primär um Bestandssicherung, dem Gleichheitsgrundsatz hingegen um Verteilungssicherung. Dem Gesetzgeber werde bei der Ausgestaltung der Sozialbindung beim Eigentumsschutz ein größerer Gestaltungsspielraum eingeräumt.*Öhlinger nimmt wiederum an, dass der Maßstab der Eigentumsgarantie präziser sei, da er sich in einzelne Prüfungsschritte gliedern lasse; es könne sein, dass dieser Prüfungsmaßstab schärfer sei als jener des gleichheitsrechtlichen Vertrauensschutzes und damit dem Gesetzgeber noch engere Schranken auferlege. Da sich der VfGH aber gerade im Zusammenhang mit gesetzlichen Eigentumsein-442griffen gelegentlich mit sehr pauschalen Feststellungen der Unverhältnismäßigkeit begnüge, falle dieser Vorteil wieder weg.*
Wie auch immer die Prüfung durch den VfGH ausfallen würde; eine Feststellung kann mit Sicherheit getroffen werden: Sollte eine Prüfung nicht nur am verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz, sondern auch – oder in erster Linie – am Maßstab der Eigentumsgarantie erfolgen, so wäre zunächst für den Gesetzgeber bei seiner rechtspolitischen Risikoabschätzung geplanter Maßnahmen eine erhebliche Unsicherheit eröffnet. Wenngleich die bisherige Judikatur kritisiert wird, so bietet sie doch angesichts vielfältig bearbeiteter und entschiedener Einzelfälle eine große Bandbreite an Orientierung. Diese Orientierung würde bei einer Änderung der Rsp nicht mehr im selben Umfang bestehen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sowohl in der Rsp des VfGH als auch des EGMR bei Ansprüchen, die der Bestreitung des Lebensunterhaltes dienen, ein geschützter Bereich angenommen wird, in den der Gesetzgeber selbst bei langen Übergangszeiten nicht eingreifen darf. Eine Umorientierung der verfassungsrechtlichen Prüfung vom Gleichheitssatz zum Eigentumsschutz brächte eine größere Unsicherheit in der rechtspolitischen Risikoabschätzung und für die Betroffenen möglicherweise auch ein Minus an verfassungsrechtlichem Schutz mit sich.
Unzweifelhaft wären Reduzierungen laufender Pensionszahlungen als ein Eingriff an der Eigentumsgarantie zu werten. Bei Anwartschaften und dem Hinausschieben des Pensionsantrittsalters ist aber fraglich, ob Art 1 1. ZPEMRK anwendbar ist. Warum sollte aber bei Eingriffen im Zusammenhang mit Pensionen die verfassungsrechtliche Prüfung einerseits am Gleichheitssatz und andererseits an der Eigentumsgarantie erfolgen? Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Prüfung am Eigentumsschutz dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Sozialbindung einen größeren Gestaltungsspielraum einräumt.
Eine Fortsetzung der Judikatur des VfGH am Prüfschema des Gleichheitssatzes bietet hingegen ein ausreichendes Spektrum an flexiblen Elementen. Dies mag dazu führen, dass die Kritik an der bisherigen Rsp des VfGH weiterhin Nahrung erhält. Ich sehe in der langjährigen Rsp des VfGH aber einen Beitrag zur Rechtssicherheit – sowohl für Betroffene als auch für die Politik. Bei Pensionsreformen muss abgeklärt werden, ob eine geplante Maßnahme vor dem VfGH Bestand haben wird. Und die Elemente für das Prüfschema sind hier seit langem unverändert.
Es wird zwar nicht in jeder Konstellation eine treffsichere verfassungsrechtliche Einschätzung erfolgen können; eine Risikoabschätzung ist jedoch in jedem Fall möglich. Und es darf nicht übersehen werden, dass es sich hier um einen Bereich handelt, in dem Wertungen zu treffen sind.
Betroffene, in deren Rechtspositionen eingegriffen wird, werden sich jedenfalls weiterhin an den VfGH wenden; die Verantwortung für eine verfassungskonforme Ausgestaltung der Rechtsnormen lag und liegt jedoch bei der Politik, beim Gesetzgeber; es sollte vermieden werden, Rechtsvorschriften so auszugestalten, dass der VfGH all seine Möglichkeiten ausschöpfen muss, um einen verfassungskonformen Zustand herzustellen.443