Isidor Ingwer (1866–1942) – Jurist der Arbeiterklasse und Mitbegründer der österreichischen Arbeitsrechtswissenschaft

PETERGOLLER (INNSBRUCK)

Der zwischen 1896 und 1938 in Wien als Rechtsanwalt wirkende Isidor Ingwer (1866 in Tarnopol in Galizien geboren) wurde am 22.7.1942 in das KZ Theresienstadt deportiert und dort ermordet.*

Mit seinem Kanzleipartner Isidor Rosner hatte Ingwer seit 1902 über eineinhalb Jahrzehnte nicht nur die Zeitschrift „Das Recht“ herausgegeben, sondern knapp nach 1900 auch ein großes zweibändiges, demokratisch sozialistisch geprägtes „Volkstümliches Handbuch des österreichischen Rechts“.

Ingwer und Rosner boten die Geschichte des Verfassungsrechts, insb in der Revolution von 1848 nicht im Lichte monarchisch-feudaler oder bürgerlich- liberaler Interpretation, sondern unter Bezug auf die Marx-Engels‘schen Abhandlungen über „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“. So schreiben sie: „Die Bürger hatten (im Sommer 1848 – Anm) schon alles erreicht, die Arbeiter fast nichts. So entstand zwischen Bürgern und Arbeitern ein Zwiespalt. ... Bald darauf erschien ein Erlaß, der den Arbeitslosen die erwähnte Unterstützung um 5 Kreuzer herabsetzte. Die Arbeiter demonstrierten dagegen, wurden aber von den Nationalgardisten, die sich auf die Unbewaffneten wie Raubtiere stürzten, am 23. August (1848) niedergemetzelt. Jetzt war die Bahn für die Reaktion frei.*

Rosner und Ingwer – dem reformistischen Flügel in der Sozialdemokratie nahe stehend – übten mit Blick auf das „Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger“ von 1867 Kritik an der sozialen Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Grundrechtsideologie, deren „Poesie“ an der gesellschaftlichen „Alltagsprosa“ scheitert: „Ja, sogar unser allgemeines bürgerliche Gesetzbuch ist schon von den Ideen der französischen Revolution infiziert. § 16 erklärt ganz pathetisch: ‚Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte ...‘ Würde man aber den Menschen alle ihnen angebornen, schon durch die Vernunft einleuchtenden Rechte lassen, dann wäre die heutige Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung – gewesen. Daran sieht man, welchen höchst problematischen Wert die bloße Verkündigung der diversen Menschenrechte hat.

Das Handbuch von Ingwer und Rosner war vor allem rechtspraktisch orientiert. Es richtete sich an Arbeiterfunktionäre in Partei und Gewerkschaft – etwa: wie meldet man einen Arbeiterverein an? Ingwer und Rosner druckten zahlreiche, für Arbeiteranwälte relevante Beschwerdemuster ab, zB gegen die „Abschaffung“ von politisch missliebigen Gesellen oder Musterklagen an das Reichsgericht gegen die Auflösung von Arbeiter-Gewerkschaften, etwa weil ein Schneider-Fachverein angeblich statutenwidrig Streikende unterstützt hat, – oder Berufungsbeschwerden zum Schutz von Arbeiterzeitungen.

Der in Zeiten der Erosion sozialer Rechte aktuell lesenswerte Abschnitt über das Arbeitsrecht findet sich – geschlossen über 250 Seiten mit fünfzehn Rechtshilfemustern – im zweiten Band des Handbuchs. Dieses erste wissenschaftliche Arbeitsrechtsbuch wurde von der universitären Gelehrsamkeit ignoriert und ins Vergessen gedrängt: „Wenn man noch in den Sechzigerjahren des abgelaufenen Jahrhunderts einem Juristen vom Arbeiterrechte gesprochen hätte, so wäre es ihm ganz unverständlich, was man eigentlich unter diesem Schlagworte meine. Tatsächlich konnte vor 40 Jahren von einem Arbeiterrechte in Österreich nicht die Rede sein. Für den Arbeiter bestanden – abgesehen von seiner politischen Knebelung – keine Rechte; er hatte nur Pflichten, war aber im übrigen hilf- und schutzlos.

So weit das Arbeitsrecht den ArbeiterInnen um 1900 nützt, so weit es solche Rechte überhaupt gibt, sind diese entgegen der bürgerlichen Geschichtsdeutung von der – in den 1880er-Jahren weitgehend illegalisierten – sozialdemokratischen Arbeiterschaft erkämpft, wie Ingwer und Rosner feststellen: „Das unsterbliche kulturelle Verdienst der Sozialdemokratie ist es, dass sie trotz dem Mangel irgend eines politischen Einflusses, gegen den Willen der besitzenden Klassen, Urheberin von Gesetzen geworden ist, die zum Schutze der arbeitenden Volksklassen geschaffen wurden. Wenn auch diese Schutzgesetze sehr mangelhaft und reformbedürftig sind, so kann doch nicht geleugnet werden, dass dank der Agitation und den selbstlosen Opfern der sozialdemokratischen59 Arbeiter für die gesamte Arbeiterschaft Österreichs günstigere Existenzbedingungen geschaffen wurden, als sie vorher bestanden haben.*

1.
Isidor Ingwer im Kampf für das Koalitions- und Streikrecht

Bereits im „Handbuch“ bezeichnen Rosner und Ingwer das Koalitions- und Streikrecht als „das heiligste Grundrecht der Arbeiterschaft“, ohne das kein Lohnschutz, keine Lohnverbesserung, keine Arbeitszeitsicherung, kurz kein Arbeiterrecht möglich ist. Dem Koalitionsrecht galt auch Ingwers letzter juristischer Einsatz am Rande des Sieges des europäischen Faschismus Ende der 1920er-Jahre. Im Dezember 1929 trat Ingwer vor der freien Österreichischen Metallergewerkschaft auf, um gegen das sogenannte „Antiterrorgesetz“ als eine Gefahr für die österreichische Arbeiterklasse zu protestieren. Ingwer wusste, wovon er sprach, hatte er doch oft genug gewerkschaftlich aktive Arbeiter, die wegen „Nötigung“ oder „Erpressung“ im Zusammenhang mit „Koalitionszwang“ angeklagt waren, verteidigt.*

Ingwer nannte konkret die „gelben“, von Unternehmerkreisen geförderten Heimwehr faschistischen Pseudogewerkschaften, wie sie besonders aggressiv in den Werken der Alpinen Montangesellschaft mobilisiert wurden.* Vor genau 60 Jahren im Dezember 1869 war – so erinnert Ingwer – in einer großen Arbeiterdemonstration vor dem Wiener Reichsrat das Koalitionsrecht (begrenzt) erkämpft worden!* Im „Antiterrorgesetz“ sah Ingwer das politische Bemühen, die gewerkschaftliche Solidarität zu diskreditieren, und den Streikbruch rechtlich noch weiter abzusichern: „Man ist auf die Idee verfallen, Arbeiter, die aus den edelsten, selbstlosesten Motiven handelten, zu Erpressern zu stempeln.

Kaiser Wilhelm II. „Zuchthausvorlage“ von der Jahrhundertwende wirkte geradezu als Vorbild für die österreichischen bürgerlichen Juristen, die das Strafrecht um 1930 gegen die Arbeiterklasse scharf machen, die zunehmend mit der bürgerlichen Herrschaftsform des Faschismus kollaborieren: „Die Zuchthausvorlage erhöhte vor allem die Strafe für die Übertretungen des Koalitionsgesetzes auf ein Jahr Gefängnis. Gleicher Strafe sollten Streikposten verfallen. ... Und der Rädelsführer sollte für fünf Jahre ins Zuchthaus marschieren.

Ingwer stellte im Dezember 1929 vor den Metallarbeitern ohne jeden Erfolg folgende rechtspolitische Forderungen auf:

  1. Zum Wesenselement aller „Berufsvereinigungen“ zählt deren völlige Unabhängigkeit von der Kapitalseite. Unterstützung von Unternehmern ist zu verbieten.

  2. Der viel diffamierte „Koalitionszwang“ ist als solidarische Errungenschaft der Arbeiter zu sichern. Das Gesetz muss „ausdrücklich aussprechen, dass die Erklärung der Angehörigen einer Berufsorganisation, mit Personen, die keiner Berufsorganisation angehören, nicht zusammenarbeiten zu wollen, weder strafbar ist, noch zum Schadenersatz verpflichtet“.

  3. Es wäre aber verbrecherisch, den Zwang aus idealen Motiven der Erpressung oder Nötigung gleichzustellen.*

Bereits 1909 hatte Ingwer ein Büchlein über „das Koalitionsrecht der Arbeiter“ veröffentlicht. Er begründete den Wert der Koalition mit Karl Marx‘ „Anti-Proudhon“ von 1847: „Die Großindustrie bringt [schreibt Marx] eine Menge einander unbekannter Leute an einem Orte zusammen. Die Konkurrenz spaltet sie in ihren Interessen; aber die Aufrechterhaltung des Lohnes, dieses gemeinsame Interesse gegenüber ihrem Meister, vereinigt sie in einem gemeinsamen Gedanken des Widerstandes – Koalition.

Ingwer widerlegt schon 1909 die bürgerliche „Symmetriethese“ von der gleichrangigen juristischen Wertigkeit von AG- und Arbeiterpositionen, die rechtliche Fiktion der Gleichrangigkeit von AG- und AN-Absprachen. Die Koalitionsfreiheit brauchen nur die Arbeiter, die Unternehmer beanspruchen sie ohnedies: „Dass das Koalitionsverbot gegen die Arbeitgeber eine praktische Bedeutung nicht habe, liegt in der Natur der Verhältnisse und wird durch die Erfahrung dargetan. Jeder industrielle Unternehmer bildet schon für sich nach den zutreffenden Worten Roschers seinen Arbeitern gegenüber die planmäßigste, konzentrierteste und stetigste Union! Es bedarf nicht der Koalition, um gegen die Arbeiter einen Zwang zu üben, zu welchem Zweck er schon allein die ausreichende Macht hat. Schreitet er aber dazu, so kann diese Verabredung auf wenige Teilnehmer sich beschränken, ... ohne dass sie nachweisbar wird.

Ingwer, der scharfe Kritik an einer Justiz übte, die Sympathie-, Solidaritätsstreiks, die Demonstrationsstreiks, jedweden Abwehrstreik streng verfolgt, lehnt vor allem die rührselige Verklärung des mit seiner Familie Hunger leidenden Streikbrechers als eines schützenswerten „Arbeitswilligen“ – so Minister Eduard Herbst 1870 im Wiener Reichsrat – ab: „Millionen Besitzloser verachten ihn und stellen seine Missetat tiefer als das gemeinste Verbrechen. Aber die bürgerliche Gesellschaft, ihre Kulis und ihre sonstigen Lakaien haben eine Gloriole um sein Haupt gewoben, haben ihn zu einem Wesen höherer Art gemacht, das geheiligt und unverletzlich ist.“ Der Streikbruch, der Schutz des „Arbeitswilligen“ wird vom Kapital unter dem Titel der60 „Freiheit der Arbeit“ ideologisch legitimiert: „Und doch kann die Tat des Streikbrechers nur mit der des Landesverräters verglichen werden.

In zahlreichen Artikeln in der mit Rosner redigierten Zeitschrift „Recht“ (erschienen von 1902-1914) beschrieb Ingwer Probleme des Arbeitskampfes, des Streikbruchs, der Anklage wegen Verstoßes gegen die §§ 2 und 3 des Koalitionsgesetzes 1870, so unter dem Titel „Muß man sich als Streikbrecher verwenden lassen?“, wenn man als ahnungsloser Arbeiter von auswärts zum Streikbruch angeheuert wird, erst an Ort und Stelle erfährt, dass man als Streikbrecher vorgesehen ist, sodann die Arbeit verweigert: Wird man gegenüber dem Unternehmer vertragsbrüchig, schadenersatzpflichtig? Muss man sich als Arbeiter aus dem Zweitbetrieb des bestreikten Unternehmers für den Streikbruch heranziehen lassen?

§ 3 des Koalitionsgesetzes 1870 wird exzessiv gegen streikende Arbeiter angewandt: Nach Ingwer ist § 3 aber nur anwendbar, wenn sich Einschüchterung und Gewalt direkt gegen „Arbeitswilligen“ wendet, Versuche etwa, Angehörige des zum Streikbruch Neigenden zu beeinflussen, müssten straflos sein, dem folge die Justiz aber nicht, im Gegenteil, die „Orgien“ der „ausdehnenden Gesetzesauslegung auf dem Gebiet des § 3“ führten zu einer Willkürjudikatur. Ingwer, der viele Beispiele aus dem konkreten Arbeitskampf anführt, verweist auf ein 1901 ergangenes, in der Berufung bestätigtes Schneiderstreik-Urteil des Bezirksgerichts Josefstadt wegen Übertretung des § 3 Koalitionsgesetz: „Der Beschuldigte – Obmann der Gewerkschaft der Schneider – hat anlässlich eines Streiks ein an die ‚Kleidermacher, Gehilfen, Fachgenossen und Kolleginnen!‘ gerichtetes Flugblatt veröffentlicht, in dem es heißt: ‚Jene Arbeiter aber, welche in dieser Zeit des Kampfes sich auf die Seite des Kapitalisten gestellt haben, jene schurkischen Verräter an den Interessen der Arbeiter, wir werden sie zu finden und zu treffen wissen.‘ “ Darin erblickte das Gericht eine strafbare Beeinflussung Arbeitswilliger! Ankündigungen, Streikbrecher in Gewerkschaftsblättern namentlich zu nennen, wurden von Wiener Gerichten 1907 strafrechtlich verfolgt.

Ingwer wandte sich gegen Eingriffe in das Arbeitskampfrecht, so vor allem gegen die Illegalisierung des Streikpostenstehens mit Hilfe des polizeilichen „Prügelpatents“ von 1854. Die Arbeiter können sich nicht wie die Kapitalisten „bei einem Diner“ absprechen: „Ein Streik ist ohne Streikposten ebenso wenig denkbar wie ein Krieg ohne Wachtposten.

Die österreichische Justiz verhängte unzählige Strafen gegen friedliche Streikposten, wie Ingwer nach dem Studium der Wiener (Verwaltungs-)Strafregister für das Jahr 1907 feststellt, – zahlreiche Verwaltungsstrafen und Arretierungen wegen „Passagenverstellens“, wegen Nicht-Entfernung vom Trottoir, obwohl nur ruhig und einzeln dort gestanden, Polizeistrafen, die willkürlich verhängt wurden und dann (zu spät) oft gerichtlich behoben wurden, so etwa nach einem Glasarbeiterstreik in Wien 1907: „Der Arbeiter (und Streikposten – Anm) Karl F. wurde vom Polizeikommissariat Ottakring zu drei Tagen Arrest verurteilt, und verhalten, die Strafe sofort abzubüßen. Dann wurde er dem Bezirksgericht Josefstadt in Strafsachen überstellt, das ihn im Urteil vom 31. Dezember 1907, ... freisprach. Der Arbeiter Mathias K. wurde von der Polizei für drei Tage eingesperrt und dann dem Bezirksgericht Josefstadt überstellt und im Urteil vom 28. Oktober 1907, ... wegen Einmengung in eine Amtshandlung bloß zu einer Geldstrafe von 5 Kr. verurteilt. Bei Gericht bekommt der Mann eine Geldstrafe von 5 Kr. Bei der Polizei eine Arreststrafe in der Dauer von drei Tagen.

Eingehend beschreibt Ingwer die lange Tradition, das Streikrecht dem Strafgesetz zu überantworten, also als Haus- und Landfriedensbruch, als Frage der Erpressung, Nötigung oder gefährlichen Drohung abzuhandeln. Der streikende Arbeiter rückt in die Nähe der Gesellschaft von Räubern und Erpressern.

Ingwer muss 1909 feststellen, dass der „Erpressungs- Paragraph“ zur Generalklausel gegen die Organisationen und Koalitionen der Arbeiter zu werden droht, dass die „negative Koalitionsfreiheit“ zur Waffe gegen die Gewerkschaften geschmiedet wird: „Soll das Koalitionsrecht für die Arbeiterschaft eine brauchbare Waffe in ihrem Kampfe um Hebung ihrer Lebenslage sein, so dürfen die Arbeiter in ihren organisatorischen Bestrebungen nicht durch eine ungesetzliche Handhabung des Erpressungsparagraphen gehemmt werden. Der Lohnkampf kann nur dann mit vollem Erfolg geführt werden, wenn die Organisationen der Arbeiter sehr stark sind.*

2.
Isidor Ingwer und die Anfänge der österreichischen Arbeitsrechtswissenschaft

Ingwerist vor allem als Mitbegründer der österreichischen Arbeitsrechtswissenschaft, die vor 1900 etwa nur marginal im Rahmen der Erläuterung des 26. Hauptstückes des ABGB betrieben wurde, in Erinnerung zu rufen.

Sein erstes arbeitsrechtliches Büchlein schrieb Isidor Ingwer – „Aber ich bin ein Socialdemokrat, ich bin ein ‚gewissenloser Agitator‘ ....“ – noch nicht 30-jährig unter dem unmittelbaren Eindruck der von Militärgewalt bedrängten Wiener Streikbewegungen der Jahre 1894/95. Auch wenn diese Arbeitskämpfe nur sehr begrenzt erfolgreich waren („Soll ich etwa noch daran erinnern, dass beim Ziegeleiarbeiterstrike (1895) Dragoner zum Verladen von Ziegeln verwendet wurden?“), gilt für Ingwer, dass allein im Arbeitskampf eine gewisse Forderungsparität mit der Unternehmerseite hergestellt werden kann, außerdem ist der Streik, „der manchmal zur vorübergehenden Besserung der Lebenslage einer Reihe von Arbeitern führt – der beste Agitator und der verläßlichste Organisator“: „Wohl hat so mancher Strike so manche blühende Organisation zerstört, diese Organisationen sind aber nach einer kürzeren oder längeren Pause61 wiedererstanden, kräftiger und schlagfertiger als sie vorher waren.

Der junge angehende Anwalt Ingwer betont 1895, dass er kein Arbeitsrecht, das unter den „Redensarten wie ‚wirtschaftliche Freiheit‘, ‚Vertragsfreiheit‘, ‚freie Arbeit‘ und dergleichen schönen Worten“ steht, zu verfassen beabsichtigt, da er nicht einer „capitalistischen Classenlogik“ folgen will.*

Dass Ingwers arbeitsrechtliches Werk in der akademisch universitären Welt kaum zur Kenntnis genommen wurde, verwundert nicht, hat Ingwer doch kein Arbeitsrecht im Geist der (ABGB-) „Dienstmietslehre“, sondern iS von Karl Marx‘ Analyse der Lohnarbeit, der „Ware Arbeitskraft“, iSd Marx‘schen Mehrwerttheorie als Arbeitsrecht unter den Bedingungen eines von den Produktionsmitteln getrennten Proletariats verfasst und folglich die bürgerliche Theorie vom „freien Arbeitsvertrag“ als verschleiernde Ideologie abgelehnt, hat Ingwer doch ein Arbeitsrecht „von unten“ ohne Beschönigung der österreichischen Sozial- und Arbeiterschutzpolitik der 1880er-Jahre, aber unter konkreter Benennung ausbeuterischer, von der Gewerbegerichtsjudikatur nur zu oft anerkannter Verhältnisse geschrieben: nämlich über ausbeuterische „Arbeitsordnungen“, über den „Leihkauf“ in der Sensenindustrie, über Arbeiter, Taglöhner, die mit allen Rechtsfolgen in die Klasse der „Lohnarbeit der gemeinsten Art“ gedrückt werden, über die „schlimm[e] Krankenversicherung“ von Dienstboten, über demütigend „schändliche Dienstbotenordnungen“ mit „Züchtigungsrecht“, über die rechtlich geschickte Aushebelung von Arbeitszeit-, Pausenregelungen, über rechtlich mangelhaft unterbundene Trucksysteme, über erschütternde „Trinkgeldentlohnungen“, dh das Einkommen der Kellner besteht in vielen Kaffeehäusern nur aus Trinkgeldern, die von den Unternehmern noch in der Weise zu einem großen Teil abgepresst werden, „dass die Kellner Zeitungen für ihr Geld kaufen, verschiedene Utensilien (Zahnstocher, Zündhölzer u.dgl.) anschaffen oder gar ein Pauschale für Inventarabgänge monatlich zahlen müssen“, über, kaum vorstellbar, noch schlechter gestellte Speisenträger, uvam.

Schon die Einleitung Ingwers zeigt, dass sich sein Arbeitsrecht von der bürgerlichen Rechtswissenschaft – der pandektistischen „Begriffsjurisprudenz“ – fundamental unterscheidet, dass sein „Arbeitsrecht“ eine Anleitung für gewerkschaftliche Vertrauensleute ist, dass es im Lichte von Karl Marx‘ Analyse der Ware „Arbeitskraft“ und des „freien Lohnarbeiters“ steht: „Diese sonderbare Freiheit zwingt nun den Besitzer der Arbeitskraft, den Arbeitsvertrag abzuschließen, der dem Unternehmer passt. Der Unternehmer kann warten, er verhungert nicht, wenn der Arbeiter den ihm gestellten Antrag nicht annimmt, denn es sind – abgesehen von vereinzelten und vorübergehenden Ausnahmen – Tausende von Arbeitern bereit unter denselben oder noch ungünstigeren Bedingungen ihre Arbeitskraft zu verkaufen. ... Marx hat also vollkommen recht, wenn er angesichts dieser Tatsache (im ersten Band des ‚Kapital‘ – Anm) schreibt: ‚Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam wie jemand, der seine eigene Haut zu Markt getragen und nun nichts anderes zu erwarten hat als die – Gerberei.‘

Unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen verbirgt sich hinter dem juristisch „freien Arbeitsvertrag“ das Lohndiktat, worauf Ingwer, der auch von Anton Mengers „Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen“ (1890) stark beeinflusst war, schon 1895 unter dem Titel vom „sogenannten Arbeitsvertrag“ hingewiesen hatte. Ja, der Arbeiter „kann auch ‚Nein‘ sagen, wenn er will; aber er stirbt Hungers, wenn er ‚Nein‘ sagt. O, der Arbeiter ist frei, frei wie der Sklave, der unter den Peitschenhieben seines Peinigers wimmerte, frei wie der Leibeigene, der in stummer Demut die Hand küsste, die ihn schlug!“ Dieses Lohndiktat kann nur durch die sozialistische Produktionsweise überwunden werden.

Ingwer analysiert scharf die Illusion vom „freien Arbeitsvertrag“, es gibt unter kapitalistischen Bedingungen keinen „freien Arbeitsvertrag“. Trotzdem kann und muss die Arbeiterklasse rechtliche Verbesserungen erkämpfen. Reformen des Arbeitsrechts sind aber innerhalb des Kapitalismus a priori begrenzt, labil, von stetem exzessiven Rückschritt bedroht, so Ingwer weiter ausführend: „Aber es hieße sich utopistischen Träumereien hingeben, wenn man annehmen wollte, dass in der privatkapitalistischen Gesellschaftsordnung die ökonomischen und damit die rechtlichen Voraussetzungen für den freien Arbeitsvertrag geschaffen werden können, weil der Kapitalismus auf dem unfreien Arbeitsvertrage beruht und mit ihm fällt.*

Die bürgerliche Rechtswissenschaft, so sie sich überhaupt mit dem Arbeitsrecht befasst, steht unter der Voraussetzung, dass „eine Gesellschaftsordnung ohne Sklaven“ nicht denkbar, also „unnatürlich“ ist, dass also der Kapitalismus der „freien“ Lohnsklaverei nie überschritten werden kann. Streitfragen werden von der Wissenschaft und von den Gerichten in der Regel gegen die Arbeiter entschieden, so Ingwer 1905 in einem Vortrag vor Eisen- und Metallarbeitern in Wien: Die Gewerbeordnung ist voller unbestimmter Begriffe, „so dass die Auslegungskünstler alle Hände voll zu tun haben, was um so mehr zu bedauern ist, als dabei fast immer der oberste Grundsatz bourgeoiser Auslegung beobachtet wird. Im Zweifel gegen den Arbeiter!

Wie im „Arbeitsverhältnis“-Buch bestreitet Ingwer 1905 gleichzeitig auch in seinem Vortrag vor den Metallern die sich auf die Gewerbeordnung stützende Theorie vom „Arbeitsvertrag“. Ja, der Arbeiter kann den Vertrag ablehnen mit der Folge, dass er mit seiner Familie hungert: „Es gibt also keine größere Lüge als die vom freien Arbeitsvertrage. Frei ist dabei nur der Unternehmer, nicht aber der Arbeiter.62

Vom gewerkschaftlich anzustrebenden Ziel eines „Kollektivvertrags“ darf sich die Arbeiterklasse keine Wunder erwarten. Trotzdem müssen die Arbeiter den Unternehmern als organisierte Gesamtheit gegenübertreten: „Der Arbeitsvertrag ... muss durch Gesetze im vorhinein derart bestimmt sein, dass der willkürlichen Vereinbarung der Parteien nur ein sehr geringer Spielraum frei gelassen wird.“ Ingwer sieht eineinhalb Jahrzehnte vor dem Gesetz über kollektive Arbeitsverträge vom 18.12.1919 die Probleme der KollV-Agitation:

  1. Wie groß [soll] die Anzahl der Personen sein, die in einen bestimmten Kollektivvertrag einbezogen werden [?]

  2. Nicht geringe Schwierigkeiten macht die Frage, wer dazu berufen ist, den Kollektivvertrag abzuschließen.

  3. Ohne eine gewisse Stärke der gewerkschaftlichen Organisation, ohne einen gewissen Organisations- und Kampfgrad, die nach Ingwer 1905 noch nicht erreicht sind, kann die Arbeiterschaft keine wertvollen Kollektivverträge abschließen.

  4. Organisationsklausel: „Was macht man aber mit den Arbeitern, die nicht organisiert sind, und was mit den Unternehmern, die ebenfalls ihrer Organisation nicht angehören?

Ingwer setzt auf arbeitsrechtliche, auf sozialpolitische Reformen. Er weiß aber trotz einer bei ihm immer durchleuchtenden legalistisch-reformistischen Gesinnung, dass diese Rechte nicht nur von der Arbeiterklasse erkämpft werden müssen. Er weiß auch, dass diese Reformen unterwandert werden, dass sie stets im „Klassenkampf von oben“ revidiert werden.

Obwohl es im Bereich der Arbeiterschutzjudikatur auch arbeiterfreundliche Tendenzen gibt, bietet das bürgerliche Gesetzeswerk unzählige Möglichkeiten, den Arbeiterschutz in sein Gegenteil zu verkehren. Unter dem Druck der Lohnabhängigkeit gehen viele Arbeiter ihrer Rechte verlustig – hierfür einige Beispiele aus Ingwers Vortrag vor den Metallarbeitern, die seine eindrucksvolle, etwa an Eugen Ehrlichs soziologische Rechtstatsachenforschung erinnernde, Betrachtungsweise verdeutlichen:

  • Abgepresste Verträge, wonach der Arbeiter die Beleuchtung am Arbeitsplatz, etwa am Webstuhl selbst bezahlen muss: „Die meisten Gewerbegerichte, ihnen voran das Gewerbegericht Leoben, sagen, dass dieser Vertrag zulässig ist. Der Verwaltungsgerichtshof, der schon wiederholt in Fragen des Arbeiterrechtes einen sehr starken Gerechtigkeitssinn bekundet hat, hat sich auf einen anderen Standpunkt gestellt. Ein Porzellanfabrikant hat nämlich eine Arbeitsordnung gehabt, die die Vorschrift enthielt, dass die Dreher und Maler die Kosten der Beleuchtung ihrer Plätze selbst bezahlen mussten.

  • Das sittenwidrige „Sitzgeld“: Ein Arbeiter erklärt sich bereit, dem AG für die Möglichkeit, in dessen Werkstatt zu arbeiten, wöchentlich 2 Kronen „Sitzgeld“ im Weg des Lohnabzugs zu bezahlen. Nach neun Wochen (das sind 18 Kronen „Sitzgeld“) wird der Arbeiter entlassen. Die Klage des Arbeiters auf Rückzahlung des „Sitzgeldes“ wird vom Gewerbegericht Leoben mit dem Hinweis, dass der Arbeiter damit einverstanden war, abgewiesen, weshalb Ingwer folgert: „Damit derartige Urteile ein für allemal unmöglich gemacht werden, müssen wir die gesetzliche Bestimmung verlangen, dass jede private Vereinbarung, die mit dem Inhalte der Arbeiterschutzgesetze im Widerspruch steht, null und nichtig sein soll, falls der Arbeiter durch diese Vereinbarung verkürzt wird.

  • Der verlorene „Ersatzruhetag“: Den Bäckereiarbeitern steht ein „Ersatzruhetag“ zu, unter Druck verzichten sie auf diesen. Nach der Entlassung versucht ein Bäcker, den „Ersatzruhetag“ einzuklagen: „Die Gerichte, ihnen voran der Oberste Gerichtshof, wiesen jedoch diese Klage mit der Begründung ab: die Arbeit während des Ersatzruhetages sei ein unmoralischer Vertrag gewesen, der Arbeiter hätte an diesem Tage nicht arbeiten sollen, hat er aber gearbeitet, so steht ihm kein Anspruch auf Entschädigung zu.

  • Die „Arbeitsbücher“ mit den „geheimen Zeichen in den Arbeitsbüchern“ – etwa ein gezielt positioniertes „h“ an bestimmter Stelle zur Markierung eines „Sozialisten“ – als „Steckbriefe“ gegen die Sklaven des Kapitalismus: „Ich habe schon vor 14 Jahren in meiner Schrift ‚Der sogenannte Arbeitsvertrag‘ eine Bemerkung gemacht, die ich ihrem vollen Inhalt nach aufrecht halte und hier wiedergebe. Ich schrieb damals: Der österreichische Arbeiter schleppt noch heute die ‚Fußkette polizeilicher Legitimation‘ mit sich ....*

1912 plädierte Ingwer für die Lösung des Arbeitsrechts aus dem Zusammenhang der Gewerbeordnung, diesem üblen „Klassengesetz“: „Das Arbeiterrecht hat also mit der Gewerbeordnung nichts zu tun und ich trete dafür ein, dass das gesamte Arbeiterrecht in einem einzigen Gesetzbuch kodifiziert werde.*63