Die Tücken von Novellierungen

WOLFGANGKOZAK (WIEN)
Die Novelle des Arbeitsverfassungsgesetzes (ArbVG) wurde durch den Gesetzgeber im Jahr 2010 mit Wirksamkeit 1.1.2011 auch hinsichtlich der Anfechtungsfristen durch BGBl I 2010/101 neu gestaltet. AN haben zwei Wochen Zeit, eine Kündigung bzw Entlassung gem § 105f anzufechten. Nun enthält auch das Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz (AVRAG) die Möglichkeit der Anfechtung von Kündigungen. Die Novellierung des ArbVG schlug sich aber nicht in jenen Passagen des AVRAG (§§ 8, 9 und 15) nieder, die bis dato textlich gleich blieben. Der Beitrag untersucht, ob die Novelle des ArbVG überhaupt Auswirkungen auf im AVRAG basierende Kündigungsanfechtungen hat, und wenn ja, welche dies sein können.
  1. Einleitung

  2. Die Anfechtungsfristen und ihre Entwicklung im Vergleich

  3. Beurteilung der Rechtskonformität der Anfechtungsfristen im AVRAG

    1. Die Sondertatbestände der §§ 8 und 9 AVRAG

    2. Verfassungskonforme Interpretation von § 15 Abs 1 AVRAG

  4. Unionsrechtliche Überlegungen

  5. Zusammenfassung15

1.
Einleitung

Im österreichischen Arbeitsrecht gilt der Grundsatz der Kündigungsfreiheit. Eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses ist ohne Angabe von Gründen unter Einhaltung von Fristen und Terminen möglich. Für AG bestehen jedoch von diesem Grundsatz gewichtige Ausnahmen, die AN jedenfalls zur Geltendmachung des aufrechten Arbeitsverhältnisses in Form einer Kündigungsanfechtung berechtigen.* Traditionell fanden sich diese Anfechtungsmöglichkeiten lediglich in den kollektiven Normenwerken. Nunmehr finden sich Normen, die eine Beendigungsanfechtung zulassen, in verschiedenen Spezialgesetzen wie dem Gleichbehandlungsgesetz (GlBG) oder dem AVRAG. Die gerichtlichen Klagsfristen im Rahmen dieser Kündigungsanfechtungen sind seit jeher sehr knapp bemessen.* Bereits vor der Novellierung des ArbVG 2010 waren Anfechtungsfristen unterschiedlich bemessen. So waren die Anfechtungsfristen aufgrund eines diskriminierenden Sachverhalts gem GlBG immer schon mit 14 Tagen normiert. Die Anfechtungsfristen gem ArbVG betrugen hingegen bis zur Novelle 2010 lediglich eine Woche sowohl für den widersprechenden BR als auch für AN, die in betriebsratslosen, aber betriebsratspflichtigen Betrieben beschäftigt waren. Insofern waren die Klagsfristen für jene Anfechtungen, die im AVRAG geregelt waren, im traditionellen System als stimmig anzusehen. Durch gegenständliche Novelle des ArbVG blieben diese Fristen nun als Unikum in der Arbeitsrechtsordnung über.

2.
Die Anfechtungsfristen und ihre Entwicklung im Vergleich

Historisch betrachtet beginnt sich der allgemeine Bestandsschutz in der österreichischen Rechtsordnung erst mit dem Kollektivvertragsgesetz 1947 zu entwickeln. Der besondere Kündigungsschutz, insb in Zusammenhang mit der Belegschaftsvertretung, wurde bereits im Betriebsrätegesetz 1919* in Ansätzen normiert.* Durch die Einführung der reichsdeutschen kollektiven Normenordnung des AOG 1938 (Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit) war das Rechtsinstitut in seiner individuellen Ausprägung bereits präsent. Charakteristikum der gerichtlichen Durchsetzung des Anspruches waren seit jeher kurze Klagsfristen, die sich im Ausmaß um eine einwöchige Klagsfrist herum bewegten. Durch die Novelle des ArbVG 2010 wurden die Anfechtungsfristen gem § 105 ArbVG auf zwei Wochen für den gekündigten AN hinaufgesetzt. Die Anfechtungsfrist für den widersprechenden BR blieb gleich.

Bis zu gegenständlicher Novelle bestand zwischen allgemeinem Kündigungsschutz und den besonderen Kündigungsschutznormen des Gleichbehandlungsrechtes hinsichtlich der Anfechtungsfristen ein unterschiedliches Niveau, da die Anfechtungsfrist bei einer diskriminierenden Kündigung 14 Tage betrug. Die Kundmachung im Bundesgesetzblatt erfolgte am 14.12.2010. Der Beschlussfassung im Nationalrat ging ein Stellungnahmeverfahren im Sommer 2010 voraus. Die Novelle konnte also für die Beurteilung der Anfechtungsfrist von § 15 Abs 1 AVRAG von Binder noch gar nicht berücksichtigt werden, da sein AVRAG-Kommentar im Herbst 2010 bereits erschien.

3.
Beurteilung der Rechtskonformität der Anfechtungsfristen im AVRAG
3.1.
Die Sondertatbestände der §§ 8 und 9 AVRAG*

Das AVRAG enthält in den §§ 8 und 9 Anfechtungsmöglichkeiten der Kündigung und Entlassung im Zusammenhang mit dem Verhalten bei Gefahr und von Sicherheitsvertrauenspersonen, Sicherheitsfachkräften und Arbeitsmedizinern. In beiden Fällen normiert der Gesetzgeber ausdrücklich die Anfechtungsfrist von einer Woche, die seit der Aufnahme in den Gesetzestext durch das BGBl 1994/ 450 unverändert blieb. Nach Reissner wurde damit die Arbeitsschutzrahmen-RL der Union umgesetzt.** War im Jahr 1994 das Anfechtungssystem in sich stimmig, wurde bei der Verlängerung der Kündigungsanfechtungsfristen im ArbVG das AVRAG aber nicht einbezogen, obwohl sich die Anfechtungstatbestände des AVRAG und die unter die novellierten Anfechtungsfristen des ArbVG fallenden Tatbestände der Motiv- und Sozialwidrigkeitsanfechtung gleichermaßen an den individuellen AN und nicht an die Belegschaftsvertretung richten.* Ein Anfechtungsrecht des BR (das fristenmäßig im ArbVG gleich blieb) wurde in den betroffenen Normen des AVRAG ja nicht geregelt.

Zu prüfen ist daher, ob die unterschiedlichen Fristenregelungen dem – auch den Gesetzgeber bindenden* – verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot des Art 7 B-VG iVm Art 2 StGG entspricht. Auf die weitgehende, wenn nicht sogar absolute Gleichlagerung des Normtelos mit der Motivanfechtung* des ArbVG verweist sogar der Gesetzgeber des AVRAG, indem er in § 9 AVRAG nur jene Sachverhalte dem Kündigungsanfechtungsrecht unterstellt, die nicht bereits durch den Geltungsbereich des ArbVG und somit dem § 105 Abs 3 lit g ArbVG16unterliegen.* Hinsichtlich des Anfechtungstatbestandes von § 8 AVRAG regelt der Gesetzgeber in Abs 2 leg cit fast wörtlich, aber jedenfalls inhaltlich gleich, dass lediglich die höhere Wahrscheinlichkeit der Glaubhaftmachung zum Prozessgewinn führt. Es ist daher von inhaltlicher und sogar formeller Gleichheit der Anfechtungstatbestände von den §§ 8 und 9 AVRAG mit jenen des ArbVG auszugehen. Da also keine unterschiedlichen Tatbestände vorliegen, ist keine sachlich gerechtfertigte Differenzierung argumentierbar, die zu unterschiedlichen Regelungen verfassungskonform führen könnte.* Der einzige Unterschied liegt in der ungleichen Gestaltung der Anfechtungsfristen, unterschiedliche Verfahrenssys teme liegen nicht vor.* Aufgrund der fehlenden sachlichen Rechtfertigung sind also seit der Novelle 2010 des ArbVG die Anordnungen der Fristen im AVRAG aufgrund des Verstoßes gegen das Gleichheitsgebot des Art 7 B-VG als verfassungsrechtswidrig anzusehen. Der Weg einer verfassungsrechtskonformen Auslegung der betreffenden Normen des AVRAG ist aber aufgrund der klaren textlichen Formulierung versperrt.* Fraglich ist, ob vorliegende Situation durch den neu eingeführten Gesetzesprüfungsantrag gem Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG durch den betroffenen AN bereinigt werden könnte.* Eine abweisende Entscheidung aufgrund Klagsfristversäumnis wird aber jedenfalls nicht als eine in der Sache erfolgte Entscheidung angesehen werden können, in deren Folge neben dem ergriffenen Rechtsmittel der Prüfungsantrag beim VfGH eingebracht werden kann.* Der Parteiantrag des Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG würde also nach der bisherigen Rechtsmeinung nicht zur Verfügung stehen. Die zweite Möglichkeit stellt der Gesetzesprüfungsantrag der ordentlichen Gerichte gem Art 89 Abs 2 B-VG bzw Art 140 Abs 1 Z 1 lit a B-VG dar.*

Die fehlende Judikatur zu gegenständlichen Anfechtungstatbeständen zeigt jedoch – ohne dass damit ein Urteil über die präventive Wirkung dieser Normen gefällt werden soll –, dass zumindest bis dato diese Anfechtungstatbestände nicht prominent in Anspruch genommen wurden. Die Hoffnung kann daher nur auf einer Novellierung durch den Gesetzgeber liegen, damit die Einheit der Rechtsordnung und eine gewisse Systematik der Anfechtungsfristen wiederhergestellt werden.

Durch diese Novelle würde auch die Forderung von Mair teilweise erfüllt, der die Anfechtungsfristen im Lichte einer Unionsrechtskonformität als zu kurz erachtet und Mindestfristen von einem Monat vorschlägt.*

3.2.
Verfassungskonforme Interpretation von § 15 Abs 1 AVRAG

§ 15 AVRAG ermöglicht dem AN eine Anfechtungsmöglichkeit, wenn die Kündigung in Zusammenhang mit einer Maßnahme der §§ 11-14 AVRAG ausgesprochen wurde. Im Gegensatz zu den §§ 8 und 9 AVRAG erstreckt gegenständliche Norm aber die Anfechtungsmöglichkeit nicht auf eine erfolgte Entlassung. Trotzdem ist, um Umgehungen vorzubeugen, die Anfechtungsmöglichkeit analog auch auf Entlassungen anzuwenden.*

Der Charakter der Norm ist also ebenfalls ein ausformulierter (Sonder-)Tatbestand zu der Motivkündigung* des ArbVG, jedoch mit einem im Vergleich zum ArbVG erweiterten Geltungsbereich und der Besonderheit, das nur der individuelle AN Normadressat ist. So verweist der Gesetzgeber selbst auf § 105 Abs 5 ArbVG bezüglich der formellen Glaubhaftmachungspflicht. Es ist daher ebenfalls wie bei den in den §§ 8 und 9 AVRAG normierten Anfechtungstatbeständen von einer Gleichartigkeit des geregelten Tatbestandes mit dem ArbVG auszugehen. Im Gegensatz zu diesen führt § 15 Abs 1 AVRAG jedoch keine Anfechtungsfrist an. Es ist daher verfassungskonform zu interpretieren. Es sind also seit der Novelle des ArbVG 2010 zumindest zwei Wochen Anfechtungsfrist für den Anfechtungstatbestand gem § 15 AVRAG anzunehmen.*Holzner/Reissner gehen aber davon aus, dass der Gesetzgeber keine Frist regeln wollte und die Anfechtungsklage daher in angemessener Frist eingebracht werden muss.* Folgt man dieser Rechtsmeinung, so ist mE die Grenze der Geltendmachung in der Angemessenheit in dem vom OGH ständig judizierten Klarstellungsinteresse (der Aufgriffsobliegenheit*) zu finden.* Der Meinung Binders ist jedenfalls bereits wegen der zeitlichen Abfolge des früheren Erscheinens des Kommentars vor der Novelle nicht (mehr) zu folgen. Wolligger geht ohne tiefere Begründung ebenfalls unter Zitierung von Binder 2011 noch von einer einwöchigen Frist aus.* Letztere Meinung übersieht jedoch die Pflicht zur verfassungskonformen Interpretation und überzeugt daher nicht.

4.
Unionsrechtliche Überlegungen

Mair* geht in seinen Ausführungen davon aus, dass aufgrund der Umsetzungen von Richtlinien17die Fristengestaltung nicht allein nationaler Entscheidung und Kontrolle unterliegt, da durch eine zu restriktive Gestaltung der Fristen der effet utile des Unionsrechtes beeinträchtigt werden kann, ebenfalls sei das Prinzip der Äquivalenz zu beachten.* ME ist besonders letzterer Grundsatz bedeutend, nämlich dass nach stRsp der EuGH zwar anerkennt, dass die Ausgestaltung der Verfahren in die nationale Kompetenz fällt, die Durchsetzung von Rechten aus der Unionsrechtsordnung aber nicht ungünstiger gestaltet sein dürfen als entsprechende Klagen aus dem rein innerstaatlichen Bereich.* Ohne überhaupt auf einen effet utile abstellen zu müssen, ist daher, da der einzelne AN gem §§ 8 und 9 AVRAG aktiv legitimiert ist, gegenüber den sonstigen Anfechtungsmöglichkeiten des AN im ArbVG keine Äquivalenz gegeben. Ein Mitgliedstaat ist zwar nicht verpflichtet, die günstigste innerstaatliche Klagsfrist auf alle Klagen zu erstrecken (hier die Aufgriffsobliegenheit bei der gerichtlichen Geltendmachung von nichtigen Beendigungen),* bei Gleichheit der wesentlichsten Merkmale (Anfechtung aufgrund Motivs), wie dies bereits oben in gegenständlichen Fällen dargestellt wurde, ist jedoch der Grundsatz der Äquivalenz einzuhalten.* Gegenständliche Fristenregelung ist daher auch nach unionsrechtlichen Maßstäben rechtswidrig. Verstärkt wird diese Inäquivalenz auch noch dadurch, dass die Anfechtungsbestimmungen des AVRAG mit Kostenersatzpflicht verbunden sind, die bei der Anfechtung nach ArbVG nicht besteht.*

Hinsichtlich des effet utile bezweifelte der EuGH zwar die Unionsrechtkonformität einer Klagsfrist von 15 Tagen für eine Wiedereinstellungsklage von gekündigten schwangeren Personen aufgrund deren besonderer Lebenssituation, überließ die Entscheidung jedoch letztlich dem nationalen Gericht. Der EuGH betonte aber, dass grundsätzlich kurze (Ausschluss-)Fristen unionsrechtlich iSd Effektivitätsgrundsatzes zulässig sind.* Im Endeffekt kann diese Frage aus dem Blickwinkel der (Unionsrechts-) Konformität der Anfechtungsfristen mit dem Effektivitätsgrundsatz nicht abschließend beurteilt werden. Sicher ist jedoch, dass eine Anfechtungsfrist von 14 Tagen die absolute Untergrenze einer eventuellen Zulässigkeit darstellt. Auch aus diesem Grund entsprechen die §§ 8 und 9 AVRAG nicht dem Unionsrecht und die Anfechtungsfrist des § 15 AVRAG ist auch unionsrechtskonform mit (zumindest) 14 Tagen anzunehmen.

Wie Rebhahn überzeugend nachgewiesen hat, ist aus einem Rückgriff auf Art 30 Grundrechtecharta der EU für die notwendige Länge von Anfechtungsfristen nichts zu gewinnen.*

5.
Zusammenfassung

Die Zersplitterung arbeitsrechtlicher Regelungen in eine Vielzahl von Normen, die wiederum in unterschiedlichsten Gesetzen beheimatet sind, führt dazu, dass bei Novellierungen einzelner Gesetze gleichartige Normen nicht beachtet werden und so Systembrüche entstehen, die – wie im vorliegenden Fall – nationale Verfassungswidrigkeiten und Unionsrechtswidrigkeiten der nicht novellierten Normen nach sich ziehen.

Wenn man durch verfassungskonforme bzw unionsrechtskonforme Interpretation das Malheur korrigieren kann, handelt es sich um einen Glücksfall, wie er bei § 15 AVRAG gegeben ist. Ansonsten ist man je nach Relevanz der betroffenen Normen auf den novellierenden Gesetzgeber oder Gesetzesprüfungsanträge angewiesen, um eine Korrektur dieser unbefriedigenden und rechtswidrigen Situation herbeizuführen.18