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Leiharbeits-RL: Keine Kontrolle der Verbote und Einschränkungen von Leiharbeit durch die Gerichte

RENÉSCHINDLER (WIEN)
Art 4, 9, 11 RL 2008/104/EG; Art 56-62, 153 AEUV; § 15 AÜG; §§ 35, 90 GuKG; § 97 Abs 1 Z 1a ArbVG
EuGH 17.3.2015 C-533/13AKT/Shell Aviation Finland

Art 4 Abs 1 der RL 2008/104/EG (Überprüfung von Verboten oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit) ist nur an die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten gerichtet. Die nationalen Gerichte sind nicht verpflichtet, Bestimmungen unangewendet zu lassen, die Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit enthalten, die iSd Art 4 RL ungerechtfertigt sind.

[...]

6 Aus den dem Gerichtshof übermittelten Angaben geht hervor, dass es im nationalen Recht [Finnlands] keine Bestimmung über Verbote oder Einschränkungen im Bereich der Leiharbeit iS von Art 4 Abs 1 dieser RL gibt. [...]

8 Der am 4.6.1997 [...] geschlossene Rahmentarifvertrag definiert ua die Bedingungen für den Einsatz nicht unternehmensangehöriger Arbeitskräfte.

9 Z 8.3 dieses Vertrags lautet:

„Unternehmen haben den Einsatz von Leiharbeitnehmern auf den Ausgleich von Arbeitsspitzen oder sonst auf zeitlich oder ihrer Art nach begrenzte Aufgaben zu beschränken, die wegen der Dringlichkeit, der begrenzten Dauer der Arbeit, erforderlicher beruflicher Kenntnisse und Spezialgeräte oder aus vergleichbaren Gründen eigenen Arbeitnehmern nicht übertragen werden können.Die Entleihung von Arbeitnehmern ist unlauter, wenn die von einem Leiharbeit in Anspruch nehmenden Unternehmen beschäftigten Leiharbeitnehmer während eines längeren Zeitraums normale Arbeiten des Unternehmens neben dessen Stammarbeitnehmern und unter derselben Leitung ausführen. [...]“

10 § 29 Abs 1 des von Öljytuote ry und AKT unterzeichneten Tarifvertrags für die Tankwagen- und Ölproduktebranche (im Folgenden: geltender Tarifvertrag) enthält eine Bestimmung, deren Inhalt Z 8.3 des Rahmentarifvertrags entspricht. [...]

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

[...]

14 Mit ihrer beim Työtuomioistuin (Arbeitsgericht) erhobenen Klage beantragt AKT, Öljytuote ry und SAF wegen eines Verstoßes gegen § 29 Abs 1 des geltenden Tarifvertrags zu einer Strafzahlung nach § 7 des Tarifvertragsgesetzes zu verurteilen. AKT macht geltend, SAF setze seit dem Jahr 2008 dauerhaft und ohne Unterbrechung Leih-AN zur Erledigung von Aufgaben ein, die mit denen der eigenen AN des Unternehmens völlig identisch seien, was einen unlauteren Einsatz von Leih-AN iSd fraglichen Tarifvertragsbestimmung darstelle. Die Leih-AN würden nämlich im Rahmen der normalen Tätigkeit des Unternehmens neben dessen Stamm-AN unter derselben Leistung beschäftigt, obwohl sie nicht über besondere berufliche Kenntnisse verfügten. Außerdem seien – in Mannjahren gerechnet – in erheblichem Umfang Leih-AN eingesetzt worden.

15 Die Bekl des Ausgangsverfahrens sind hingegen der Ansicht, für den Einsatz von Leih-AN hätten berechtigte Gründe vorgelegen, da es sich hauptsächlich um Urlaubsvertretungen und den Ausgleich krankheitsbedingter Abwesenheiten gehandelt habe. Auch verstoße § 29 Abs 1 des geltenden Tarifvertrags gegen Art 4 Abs 1 der RL 2008/104. [...]

17 Dazu führt das vorlegende Gericht aus, es könne zwar nicht ausgeschlossen werden, dass sich diese Bestimmung iVm der in den übrigen Absätzen von Art 4 der RL vorgesehenen Überprüfungsverpflichtung darauf beschränke, eine einfache verfahrensrechtliche Verpflichtung zur einmaligen Überprüfung aufzuerlegen. Der Wortlaut dieser Bestimmung spreche aber eher dafür, dass sie Verboten und Einschränkungen im Bereich der Leiharbeit entgegenstehe, es sei denn, sie wären aus den dort angeführten Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt. Als eigenständige Vorschrift verpflichte Art 4 Abs 1 der RL 2008/104 die Mitgliedstaaten daher, sicherzustellen, dass ihre Rechtsordnungen keine solchen Verbote oder Einschränkungen enthielten.

18 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte die Erreichung des in Art 2 der RL angeführten Ziels, Leiharbeitsunternehmen als AG anzuerkennen und zugleich einen angemessenen Rahmen für den Einsatz von Leiharbeit festzulegen, um wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung flexibler Arbeitsformen beizutragen, auf halbem Weg stecken bleiben, wenn Art 4 Abs 1 nicht diese Bedeutung erhalte. Zudem müsse die RL 2008/104 gem ihrem 22. ErwGr iVm den Art 49 AEUV und 56 AEUV über die Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit gelesen werden. Es scheine, dass die in § 29 Abs 1 des geltenden Tarifvertrags vorgesehenen Einschränkungen, die die Überlassung von Leih-AN durch ein in Finnland ebenso wie durch ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen beträfen, diese Bestimmungen verletzten. [...]

Zu den Vorlagefragen

21 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 4 Abs 1 der RL 2008/104 dahin auszulegen ist, dass den Behörden der Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte die Verpflichtung auferlegt wird, alle Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit enthalten, die nicht aus Gründen des Allgemeininteresses iS von Art 4 Abs 1 gerechtfertigt sind.26

22 Nach Ansicht der Bekl des Ausgangsverfahrens und der ungarischen Regierung ergibt sich aus dem Wortlaut von Art 4 Abs 1 der RL 2008/104, insb aus dem Ausdruck „sind nur ... gerechtfertigt“, dass diese Bestimmung Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit verbiete, es sei denn, sie seien aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt, und dass sie somit zugunsten dieser AN, der Leiharbeitsunternehmen und der entleihenden Unternehmen eindeutig Rechte erzeuge, die unmittelbar vor den nationalen Behörden und Gerichten geltend gemacht werden könnten.

23 Es ist darauf hinzuweisen, dass aus dem Wortlaut dieser Bestimmung zwar hervorgeht, dass nationale Regelungen, die Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit enthalten, aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein müssen, zu denen vor allem der Schutz der Leih-AN, die Erfordernisse von Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz oder die Notwendigkeit, das reibungslose Funktionieren des Arbeitsmarkts zu gewährleisten und eventuellen Missbrauch zu verhüten, zählen.

24 Zur Bestimmung der genauen Bedeutung von Art 4 Abs 1 der RL 2008/104 ist jedoch eine Gesamtbetrachtung dieses Artikels und seines Kontextes vorzunehmen.

25 Dazu ist festzustellen, dass sich dieser Artikel mit dem Titel „Überprüfung der Einschränkungen und Verbote“ in dem Kapitel über allgemeine Bestimmungen der RL 2008/104 befindet.

26 So sieht zum einen Art 4 Abs 2 und 3 der RL 2008/104 vor, dass die Mitgliedstaaten nach Anhörung der Sozialpartner oder die Sozialpartner, wenn die Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit durch Tarifverträge festgelegt sind, die sie ausgehandelt haben, diese Verbote oder Einschränkungen bis zum 5.12.2011 überprüfen mussten, „um festzustellen, ob sie aus den in Absatz 1 genannten Gründen gerechtfertigt sind“.

27 Zum anderen waren die Mitgliedstaaten nach Art 4 Abs 5 dieser RL verpflichtet, die Kommission spätestens bis zu demselben Zeitpunkt über die Ergebnisse der Überprüfung zu informieren.

28 Daraus folgt also, dass Art 4 Abs 1 der RL 2008/104 iVm den anderen Absätzen dieses Artikels nur an die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gerichtet ist, indem ihnen auferlegt wird, ihre nationalen Regelungen zu überprüfen, damit sie sicherstellen, dass die Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, und die Kommission über die Ergebnisse dieser Überprüfung zu informieren. Solche Verpflichtungen können von den nationalen Gerichten nicht erfüllt werden.

29 Entsprechend dem Ergebnis dieser Überprüfung, die zu einem Zeitpunkt abgeschlossen sein musste, die dem Ablauf der Frist zur Umsetzung der RL 2008/104 gem ihrem Art 11 Abs 1 entsprach, waren die Mitgliedstaaten, die ihren Verpflichtungen aus Art 4 Abs 1 dieser RL vollständig nachkommen müssen, möglicherweise veranlasst, ihre nationalen Regelungen über Leiharbeit zu ändern.

30 Jedoch steht es den Mitgliedstaaten nichtsdestoweniger frei, zu diesem Zweck entweder die Verbote oder die Einschränkungen, die nach Art 4 Abs 1 dieser RL nicht gerechtfertigt werden können, aufzuheben oder sie anzupassen, damit sie nach dieser Bestimmung gegebenenfalls gerechtfertigt werden können.

31 Folglich ist Art 4 Abs 1 der RL 2008/104 in seinem Kontext betrachtet dahin zu verstehen, dass er den Rahmen festlegt, in dem sich die Regelungstätigkeit der Mitgliedstaaten in Bezug auf Verbote und Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit abspielen darf, und nicht den Erlass einer bestimmten Regelung in diesem Bereich vorschreibt.

32 Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass Art 4 Abs 1 der RL 2008/104 dahin auszulegen ist,

  • dass er nur an die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats gerichtet ist, indem ihnen eine Überprüfungsverpflichtung auferlegt wird, damit sie sicherstellen, dass etwaige Verbote und Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit gerechtfertigt sind, und

  • dass er daher die nationalen Gerichte nicht verpflichtet, alle Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die Verbote oder Einschränkungen des Einsatzes von Leiharbeit enthalten, die nicht aus Gründen des Allgemeininteresses iS von Art 4 Abs 1 gerechtfertigt sind. [...]

ANERKUNG
1.
Überblick

Der EuGH ist einerseits immer wieder für Überraschungen gut; und andererseits auch wieder nicht: Während der Inhalt der vorliegenden E oft mit Überraschung, ja Erbitterung (vor allem in Deutschland: vgl Temming, jurisPR-ArbR 25/2015 Anm  1 mwH), aufgenommen wurde, entspricht es schon fast einer (schlechten) Tradition, dass der EuGH gerade Grundsatz-Entscheidungen in kontroversiell diskutierten Fragen nur sehr kursorisch begründet. Dass die Begründung zT auch nur schlecht zum Tenor der E passt, ist dann fast schon konsequent.

Um „EuGH-Astrologie“ zu vermeiden, ist es nötig, etwas umfassender als der EuGH zu untersuchen, was Art 4 RL anordnet, und auf dieser Basis ein Verständnis der E zu erarbeiten (Pkt 2). Darauf aufbauend können die praktischen Konsequenzen für Österreich analysiert werden (Pkt 3). Da entschieden ist, dass die Gerichte keine Kontrolle der geltenden Regeln unter dem Gesichtspunkt des Art 4 der RL vorzunehmen haben: Kommt ein Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission in Betracht? Kann die Dienstleistungsfreiheit gegen Verbote bzw Einschränkungen von Leiharbeit eingesetzt werden?

2.
Das Besondere an Art 4 RL

2.1. IdR hat eine EU-RL, kurz zusammengefasst, folgende Struktur: Sie enthält zwingende Regelungen, die allerdings per se nur Vorgaben für die nationale Rechtsordnung sind. Wie sie imple-27mentiert werden, bleibt Sache jedes einzelnen Mitgliedstaates. Mit Ende der Umsetzungsfrist muss dessen Rechtsordnung allerdings den Regelungen der RL (idR: mindestens) entsprechen. Hinreichend bestimmte Regeln einer RL verpflichten Behörden und Gerichte dazu, entgegenstehende nationale Normen nicht (mehr) anzuwenden. Regelmäßig wird ein Bericht jedes Mitgliedstaates über die Umsetzung vorgesehen.

2.2. Grundsätzlich folgt auch die Leiharbeits-RL dieser Struktur. Sie enthält (Art 11) die übliche Umsetzungsverpflichtung einschließlich der Pflicht, die Kommission über die erfolgte Umsetzung in Kenntnis zu setzen. Wäre da nicht Art 4 RL! Dessen Abs 5 sieht eine separate Berichtspflicht vor, die sich lediglich auf die Ergebnisse der gem Abs 2 und 3 vorzunehmenden Überprüfung bezieht und gleichfalls bis zum 5.12.2011 zu erfüllen war. Warum diese Anordnung? Ohne sie hätte sich die Berichtspflicht des Art 11 Abs 1 RL zweifelsfrei auch auf Art 4 RL bezogen.

Diese spezielle Berichtspflicht stellt den zentralen Ansatzpunkt des EuGH dar. Denn natürlich können die Gerichte eine solche Berichtspflicht nicht erfüllen. Allerdings: Das gilt für die Berichtspflicht des Art 11 ebenso! Die für jede RL typische Berichtspflicht über die Umsetzung war noch nie ein Argument gegen die zwingende Wirkung ihrer Normen, einschließlich der Pflicht der Behörden und Gerichte, nationale Normen unangewendet zu lassen, die den von der RL gezogenen „Rahmen“ missachten (Temming, jurisPR-ArbR 25/2015 Anm 1). Richtiger hätte der EuGH wohl – da er sich, was begrüßenswert ist, um eine systematische Interpretation bemüht – darauf hinweisen sollen, dass eine doppelte Berichtspflicht systematisch ausscheidet. Es muss also einen Unterschied im Charakter des in Art 4 RL einerseits, in Art 11 RL andererseits normierten Verfahrens geben.

Und dieser Unterschied liegt auf der Hand. Art 4 RL ordnet schon gemäß seiner Überschrift lediglich eine „Überprüfung“ geltender Einschränkungen und Verbote von Leiharbeit, nicht deren Beseitigung an und ist Teil des Kapitels „Allgemeine Bestimmungen“. Sein Abs 1 enthält, durchaus in Einklang damit, eine Information über die bestehende Rechtslage auf Grund der Dienstleistungsfreiheit, nicht aber eine normative Anordnung. Zugegeben: Der Wortlaut lässt sich auch iS einer normativen Anordnung lesen, er ist diesbezüglich undeutlich. Aber dann wäre eine gesonderte Berichtspflicht und ein eigenes Prüfverfahren ganz überflüssig: Die Umsetzung einer normativ wirkenden Richtlinienbestimmung würde ohnedies eine Prüfung der nationalen Rechtslage nötig machen. Eine andere Deutungsmöglichkeit der Anordnungen des Art 4 Abs 2, 3 der RL – als dass durch sie dem Fehlen einer normativ zwingenden Wirkung des Art 4 Abs 1 der RL entsprochen und eine lediglich einmalige, politische Überprüfung (ähnlich der „Offenen Methode der Koordination“) angeordnet werden sollte – ist mir nicht erkennbar. Nur dann ist ein gesonderter Bericht sinnvoll.

2.3. Dieses Bild wird bestätigt, wenn man die Ziele und die Rechtsgrundlage der RL betrachtet. Erwägung 23 nennt als ihr zentrales Ziel, das ihre Schaffung trotz des Subsidiaritätsgebotes rechtfertigt, die Herstellung eines „harmonisierten Rahmens zum Schutz der Leiharbeitnehmer“. Die RL stützt sich auch ganz ausdrücklich auf den seinerzeitigen Art 137 EGV (nunmehr Art 153 AEUV), also die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, insb durch die Festsetzung von Mindestvorschriften. Diese Bestimmung bietet keine Grundlage dafür, die Überprüfung von Einschränkungen und Verboten von Leiharbeit rechtlich zwingend anzuordnen. Dazu hätte sich die RL auf die Bestimmungen zur Dienstleistungsfreiheit stützen müssen. Aber im Rahmen der seinerzeit gerade umzusetzenden Dienstleistungs-RL (2006/123/EG) hatte man sich geeinigt, Leiharbeit nicht zu „harmonisieren“; vgl 3.3. Möglich war daher nur, als „akzessorische Nebenbestimmung“ (Schlussantrag Rz 63), als untergeordnetes, nebenher verfolgtes Ziel, eine einschlägige Prüfungs- und Berichtspflicht (aber nicht mehr als das!) anzuordnen. Dass auch dies unzulässig wäre, weil zwischen zwingenden Mindestvorschriften und reinen Prüf- und Berichtspflichten im Rahmen der europäischen Verträge keinerlei Unterschied bestehe (Schlussantrag Rz 57 f), kann ich nicht nachvollziehen: Hält Generalanwalt Szpunar die „Offene Methode der Koordination“ neuerdings für unzulässig? Auch alle Argumente, die auf eine gänzliche Bedeutungslosigkeit des Art 4 RL abzielen, wenn dieser nicht zwingend wäre (Schlussantrag Rz 27, 36, 38, 46; Temming, jurisPR-ArbR 25/2015 Anm 1), sind wenig überzeugend: Dann müsste die „Offene Methode der Koordination“ als generell sinnlos betrachtet werden.

2.4. Auch die sachlichen Gründe für den Verzicht auf zwingende Regelungen sind leicht erkennbar und eigentlich auch dem Generalanwalt klar gewesen (Schlussantrag Rz 116): Bei der Überprüfung der Einschränkungen und Verbote haben die Mitgliedstaaten einen weiten Wertungsspielraum. Im hochkomplexen Fall von Leiharbeit, deren Auswirkungen auch nur auf den Arbeitsmarkt nicht abschätzbar sind (Tichy, WIFO-Monatsberichte 2014, 537 ff, 544), die „feste Formen der Arbeit“ nicht ersetzen soll (Schlussantrag Rz 110 mwH), die zu einer „größeren Vielfalt der Arbeitsverträge“ und zur Flexibilität beitragen soll (Erwägung 9 der RL), aber auch zu einer Förderung der Beschäftigungssicherheit und der Verringerung der Segmentierung des Arbeitsmarktes (Erwägung 8) udgl mehr, ist die Überprüfung der Zweckmäßigkeit und Angemessenheit von Einschränkungen und Verboten eine zutiefst politische Frage, keine juristische. Führt der Druck des potentiellen Einsatzes von Leiharbeit zu einer Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen der AN? Hat sie einen „Brückeneffekt“ hin zu regulären Arbeitsverhältnissen oder führt sie zur Ausgrenzung einer Gruppe von älteren und schlechter qualifizierten AN? Wie viele Stamm-Arbeitsplätze sind verloren gegangen, weil Arbeitsspitzen nun durch Leih-AN abgedeckt werden können? Wie viele sind geschaffen worden, weil zusätzliche Aufträge durch flexible Arbeitsorganisation gewonnen wurden (was allerdings28 innerhalb der EU ein Nullsummen-Spiel sein muss; der Export in andere Staaten beträgt aber nur 13 % der Wirtschaftsleistung der Union)?

Wie sollen derlei Fragen mit juristischen Mitteln beantwortet werden? Nicht einmal die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften geben darauf halbwegs plausible und einheitliche Antworten. Aber es geht ja gar nicht um ein Für oder Gegen Leiharbeit als solches, sondern lediglich um die potentiellen Folgen einzelner Einschränkungen und Verbote – es müssten also auch deren spezifische Wirkungen im Detail erforscht werden! Der europäische Normengeber hatte schon recht handfeste Gründe, in diesem Fall keine juristische Anordnung zu treffen, sondern (lediglich) einen rechtlich unüberprüfbaren, politischen Auftrag zu erteilen. Das hat er übrigens auch im Rahmen der Dienstleistungs-RL so getan: Nur die „leicht zu beseitigenden Beschränkungen“ wurden normativ geregelt, alle anderen werden in einem Prozess der Evaluierung und Konsultation bearbeitet (Erwägung 7 RL 2006/123/EG).

2.5. So in sich widersprüchlich die kurze Begründung der EuGH-E teilweise ist: Der Gerichtshof geht mE zu Recht davon aus, dass Art 4 der RL keine normativen inhaltlichen Anordnungen trifft, sondern nur eine einmalige politische Prüfung und einen Bericht über deren Ergebnisse anordnet. Damit ist jegliche rechtliche Kontrolle auf Basis des Art 4 der RL obsolet.

3.
Die Auswirkungen in Österreich

3.1. Eine gerichtliche Kontrolle bestehender Einschränkungen von Leiharbeit aufgrund des Art 4 RL ist unzulässig – das ist entschieden. Die E wurde in der Großen Kammer des EuGH beschlossen; eine Änderung der Auffassung des Höchstgerichtes ist (also) ganz unplausibel. Als reine Verfahrensbestimmung kann Art 4 der RL als solcher – vgl aber unten 3.3. – auch nicht als Auslegungshilfe für nationale Regelungen iS einer europarechtskonformen Interpretation genützt werden. Insoweit ist er heute nur mehr von historischer Bedeutung.

3.2. Könnte die Kommission im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens geltend machen, ein Mitgliedstaat habe Verbote bzw Einschränkungen von Leiharbeit aufrechterhalten, die nicht iSd Art 4 der RL gerechtfertigt sind? Entgegen der Auffassung der Kommission (siehe Schlussantrag Rz 82) besteht auch diese Möglichkeit mE nicht: Art 4 der RL enthält lediglich eine einmalige Prüf- und Berichtspflicht; wurde dieser (termingerecht) entsprochen, sind alle Rechtspflichten erfüllt.

Die E ist diesbezüglich – wie erwähnt – unklar: In Rz 29 wird (zutreffend) formuliert, die Mitgliedstaaten hätten sich durch Art 4 RL „möglicherweise veranlasst“ gesehen, geltende Verbote/Einschränkungen aufzuheben – was einer reinen Prüfpflicht und damit dem Ergebnis der E entspricht. In Rz 31 wird Art 4 RL hingegen als „Rahmen“ für derartige Regelungen bezeichnet, was einer materiellen Anordnung entspräche. Wie gleichfalls erwähnt, verstehe ich die E nicht so. Sie stünde dann auch in Widerspruch zur gesamten bisherigen Rsp des EuGH, die stets vom Vorrang zwingenden europäischen Rechts und einer entsprechenden Prüfpflicht der nationalen Gerichte ausgeht (Temming, jurisPR-ArbR 25/2015 Anm 1). Da eine solche Wende der Rsp ausgeschlossen ist, somit eine bloße Verfahrensbestimmung vorliegen muss, kann auch die Kommission keine rechtliche Handhabe auf Basis des Art 4 der RL haben; sie hat auch bislang nie eine Initiative in einer solchen Richtung unternommen.

3.3. Können bestehende Verbote bzw Beschränkungen der Leiharbeit unter dem Gesichtspunkt der Dienstleistungsfreiheit (Art 56-62 AEUV) bekämpft werden? Eine solche Überprüfung war auch vor dem Inkrafttreten der RL immer möglich. Allerdings konnte sie – entsprechend der „Keck-Formel“ des EuGH (24.11.1993, C-267/91, 268/91, Keck und Mithouard; 8.9.2005, C-544/03, 545/03, Mobistar) bzw der „Spürbarkeitstheorie“ – keine Regelungen berühren, die unterschiedslos für in- und ausländische Anbieter einer Ware oder Dienstleistung gelten und letztere weder rechtlich noch faktisch stärker belasten. Im Regelfall können allenfalls Berufszugangsregeln faktische Mehrbelastungen ausländischer Anbieter bewirken, nicht aber Berufsausübungsregeln. Nur um Letztere geht es aber beim „Einsatz von Leiharbeit“.

Der Europäische Normengeber hat zudem mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass Leiharbeit eine besonders heikle Dienstleistung darstellt – was entsprechende Einschränkungen rechtfertigt. So wurde sie gem deren Art 2 Abs 2 lit e aus dem Geltungsbereich der Dienstleistungs-RL (RL 2006/123/EG) ausgenommen. Erwägung 14 dieser RL erwähnt die Ausnahme, ohne sie näher zu begründen, im Zusammenhang mit dem Schutz der Arbeitsbedingungen, den Beziehungen zwischen den Sozialpartnern und dem Arbeitskampfrecht – möge sich jede/r selbst überlegen, was diese Themen verbindet.

Auch durch Art 4 RL hat der Normengeber recht bemerkenswerte inhaltliche Hinweise für die angeordnete politische Prüfung gegeben. Gerade unmittelbare Einschränkungen der Dienstleistungsfreiheit, nämlich Regelungen des Berufszugangs, werden ziemlich vollständig und pauschal für zulässig erklärt. Anforderungen hinsichtlich der Eintragung, Zulassung, Zertifizierung, finanzieller Garantien udgl sind und bleiben zulässig (Art 4 Abs 4 RL). Das ist in dieser Allgemeinheit eher ungewöhnlich und macht klar, dass die Union die Überlassung von Arbeitskräften als heikles und der auch präventiven Überwachung bedürftiges Gewerbe ansieht. Das entspricht der Rsp des EuGH, der seinerseits von einem „aus beruflicher und sozialer Sicht besonders sensiblen“ Gewerbe mit erheblichen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die AN-Interessen spricht (EuGH 17.12.1981, C-279/80, Webb). Und dass Verbote bzw Einschränkungen der Leiharbeit nur aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein können (Art 4 Abs 1 RL), ist nicht neu. Nur spricht der EuGH stets von „zwingenden“ Gründen (vgl EuGH 30.4.2014, C-390/12, Pfleger ua) – ein doch erheblicher Unterschied. Für Regeln, die unmittelbar oder mittelbar29 dem Schutz der Leih- oder der Stammarbeitskräfte dienen, gilt zudem gem Art 9 Abs 2 RL ein „rollback-Verbot“: Auch die Prüfung gem Art 4 RL darf daher nicht dazu führen, dass das Schutzniveau für AN sinkt (aM Rieble/Vielmeier, EuZA 2011, 475, 484, die aber übersehen, dass die Verbesserung der Arbeitsbedingungen das primäre Ziel der RL ist – vgl 2.3.).

Das Gesamtbild zeigt ein aus guten Gründen niedriges europäisches Prüfniveau, das weitgehende Einschränkungen zulässt. Selbst der Generalanwalt, der für eine rigide Kontrolle aller Einschränkungen und Verbote plädiert, hält zB die im Anlassfall zu prüfende Regelung (Beschränkung der Leiharbeit auf vorübergehende Aufgaben) für unbedenklich (Schlussantrag Rz 129).

3.4. Gemessen daran stellen die in Österreich alleine strittigen (vgl Grünanger, ecolex 2009, 424) Quotenregelungen und Beschränkungen der Einsatzdauer wohl keinesfalls eine vertragswidrige Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar. Quoten betreffen zunächst diese Freiheit nur mittelbar, regeln sie doch lediglich die zulässige Relation zwischen Stamm-Beschäftigten und überlassenen Arbeitskräften. Sie belasten ausländische Anbieter weder rechtlich noch faktisch stärker als inländische („Keck“-Formel). Sie dienen unmittelbar dem Schutz beider AN-Gruppen: Überlassene AN haben nur dann eine realistische Chance auf Übernahme in die Stammbelegschaft, wenn es eine Notwendigkeit gibt, überhaupt solche Übernahmen durchzuführen (insb wegen Erreichens der Quote) und die Zahlenrelation zur Stammbelegschaft mit Blick auf deren Fluktuation einen realistischen zeitlichen Rahmen dafür bietet. Die Stammbelegschaft wird vor einer Spaltung und einem (zu) hohen Druck Richtung Sozialabbau geschützt (vgl BAG 30.9.2014, 1ABR 79/12, Rz 42): Ein schleichender Ersatz der Stammbelegschaften durch überlassene Arbeitskräfte kann sonst im Rechtsweg kaum wirksam bekämpft werden. Ausufernde Leiharbeit würde zudem den Arbeitsmarkt und das Arbeitsmarktservice (AMS) erheblich belasten: Den Austausch stetiger(er) Jobs durch ganz unsichere kombiniert die Branche bekanntlich mit der durchgängigen Praxis, die Kosten für Stehzeiten auf das AMS abzuwälzen (vgl Schindler, Arbeitskräfteüberlassungs-KV 2013, 35 f). Letztlich wäre auch noch das „roll-back-Verbot“ des Art 9 Abs 2 RL zu beachten.

Aus eben diesen Gründen ist auch die ohnedies fast wirkungsgleiche Begrenzung der zulässigen Dauer der Beschäftigung überlassener AN bzw der Beschränkung auf Arbeitsspitzen, wie im Anlassfall der EuGH-E, gerechtfertigt. Zu Recht wird der dauerhafte Einsatz überlassener Arbeitskräfte als Missbrauch gewertet (Schlussantrag Rz 120 f; BAG 30.9.2014, 1ABR 79/12, Rz 36).

Die einschlägige VO-Ermächtigung des § 15 AÜG ist daher ebenso unbedenklich wie die §§ 35 und 90 GuKG. Praktisch kommen, da eine VO bislang nicht erlassen werden musste, Quotenregelungen und Begrenzungen der zulässigen Einsatzdauer bzw des Einsatzzwecks (abseits des GuKG) derzeit nur in Betriebsvereinbarungen (gem § 97 Abs 1 Z 1a ArbVG) vor. Hier kommt noch dazu, dass der EuGH zu Recht idR die Besonderheit kollektiver Rechtsquellen beachtet. So hat er zuletzt wieder betont, dass das Kartellverbot des Art 101 AEUV „aufgrund ihrer Art und ihres Gegenstandes“ nicht für Kollektivverträge gilt, auch nicht soweit sie Schein-Selbständige erfassen (EuGH 4.12.2014, C-413/13, FNV Kunsten informatie en Media; vgl auch die richtungweisende EuGH-E 21.9.1999, C-67/96, Albany uva). Das gilt in gleicher Weise für Betriebsvereinbarungen und muss wohl auch für beide zwangsläufige, mittelbare Auswirkungen auf die Dienstleistungsfreiheit gelten.