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Reichweite der gesetzlichen Fiktion des § 3 Abs 5 AVRAG

DIANANIKSOVA (WIEN)
  1. Der nach § 3 Abs 5 AVRAG kündigende AN ist nicht auf die für ihn selbst geltenden gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Kündigungsfristen und -termine beschränkt, sondern ist berechtigt, auch die für den AG geltenden längeren Fristen und späteren Termine in Anspruch zu nehmen.

  2. Die Entgelt- und Beendigungsansprüche des nach § 3 Abs 5 AVRAG kündigenden AN sind zum Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung zu beurteilen. Löst ein AN das Arbeitsverhältnis rechtmäßig vorzeitig auf, entfällt mit der Beendigung der Arbeitspflicht auch der synallagmatische Entgeltanspruch. Ein abstrakter „Erfüllungsanspruch“ für einen Zeitraum nach dem rechtlichen Ende des Arbeitsverhältnisses findet in § 3 Abs 5 AVRAG keine Grundlage.

  3. Die Betriebsübergangs-RL 2001/23/EG stellt es den Mitgliedstaaten frei, die Rechtsfolgen der begünstigten Kündigung nicht wie jene einer rechtswidrigen AG-Kündigung zu regeln. Der Mindestschutz der RL, nämlich der Anspruch auf Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu den Bedingungen einer AG-Kündigung ist dem AN durch die Regelung des § 3 Abs 5 AVRAG auch in Ansehung der Kündigungsfrist gewahrt.

Die Kl war bei der Bekl seit 21.10.1991 als Flugbegleiterin beschäftigt. Wegen eines angekündigten Betriebsübergangs zum Stichtag 1.7.2012, der unstrittig mit einer wesentlichen Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen verbunden gewesen wäre, kündigte sie ihr Dienstverhältnis gem § 3 Abs 5 AVRAG am 28.5.2012 unter Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist zum 30.6.2012.

Mit der Klage wird die Zahlung einer „Kündigungsentschädigung“ in Höhe jenes Entgelts begehrt, das die Kl vom 1.7.2012 bis 30.9.2012 bei aufrechtem Arbeitsverhältnis zur Bekl verdienen hätte können. Begründet wird dieser Anspruch damit, dass die Bekl das Dienstverhältnis unter Einhaltung der gesetzlichen Fristen und Termine frühestens zum 30.9.2012 auflösen hätte können. Die längere Kündigungsfrist und das auf diesen Zeitraum entfallende Entgelt seien Teil der in § 3 Abs 5 AVRAG genannten „Ansprüche wie bei einer AG-Kündigung“ und auch dann zu wahren, wenn das Dienstverhältnis rechtlich bereits früher geendet habe. Eine Verkürzung dieser Ansprüche sei mit dem in § 3 Abs 5 AVRAG umgesetzten Zweck des Art 4 Z 2 der Betriebsübergangs-RL nicht vereinbar.41

Die Bekl wandte ein, gem § 3 Abs 5 AVRAG sei der maßgebliche Zeitpunkt für die Berechnung aller Ansprüche jener der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Der Gesetzgeber habe die privilegierte Kündigung bewusst und völlig richtlinienkonform so gestaltet, dass davon keine Ansprüche auf Kündigungsentschädigung ausgelöst werden.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Im Lichte der Betriebsübergangs-RL und der Rsp des EuGH (C-396/07, Juuri) sei § 3 Abs 5 AVRAG dahin auszulegen, dass die Ansprüche des AN bei privilegierter Kündigung auch eine Ersatzleistung für den fiktiven Zeitraum einer vom AG einzuhaltenden längeren Kündigungsfrist umfassen.

Das Berufungsgericht gab dem Rechtsmittel der Bekl Folge und wies das Klagebegehren ab. Aus § 3 Abs 5 AVRAG sei ein Anspruch auf Entschädigung über das rechtliche Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus nicht abzuleiten. Der Schutzzweck der Betriebsübergangs-RL bestehe darin, dem kündigenden AN all jene Ansprüche zu erhalten, die sonst bei einer DG-Kündigung zum Tragen kämen und ihrer Natur nach nur von der Beendigungsart, aber nicht von Gegenleistungen des AN abhängen. Mit Ablauf des von der Kl selbst gewählten Kündigungstermins sei daher nicht nur ihre Arbeitspflicht, sondern auch die synallagmatisch damit verknüpfte Entgeltzahlungspflicht erloschen.

Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil höchstgerichtliche Rsp zur Frage, ob § 3 Abs 5 AVRAG eine Grundlage für einen Anspruch auf Lohnzahlung für die fiktive Dauer einer vom AG einzuhaltenden Kündigungsfrist bietet, noch fehle.

In ihrer dagegen erhobenen Revision stellt die Kl den Antrag auf Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH zur Auslegung des Art 4 Pkt 2 der Betriebsübergangs-RL, in der Sache strebt sie die Wiederherstellung der erstinstanzlichen E an.

[...] Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Erwägungen zulässig, jedoch nicht berechtigt.

1. Der OGH erachtet die Rechtsausführungen des Berufungsgerichts für zutreffend (§ 510 Abs 3 ZPO). Die Revision stellt nicht in Frage, dass es sich beim Klagsanspruch, entgegen der in der Klage gewählten Bezeichnung, nicht um einen Schadenersatzanspruch iS einer Kündigungsentschädigung handelt. Sie leitet einen unmittelbaren Erfüllungsanspruch aus Art 4 Z 2 der Betriebsübergangs-RL 2001/23/EG ab, der lautet: „Kommt es zu einer Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses, weil der Übergang eine wesentliche Änderung der Arbeitsbedingungen zum Nachteil des AN zur Folge hat, so ist davon auszugehen, dass die Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses durch den AG erfolgt ist.

Der EuGH hat allerdings zur Auslegung dieser Bestimmung in der E C-396/07, Juuri, festgehalten, dass Art 4 Pkt 2 der Betriebsübergangs-RL nicht dahin verstanden werden könne, dass er implizit über die in ihm vorgesehene Zurechnungsregel hinaus ein einheitliches Schutzniveau für AN geschaffen habe. Die wirtschaftlichen Folgen der Zurechnung der Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses regle er nicht, sodass die sich aus einer privilegierten Beendigung ergebenden Rechtsfolgen, wie Abfindungen oder Schadenersatz, nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten zu beurteilen seien (C-396/07, Rz 25, 26). Die Freiheit bei der Wahl der Mittel und Wege zur Durchführung einer RL lasse aber die Verpflichtung der einzelnen Mitgliedstaaten unberührt, im Rahmen ihrer nationalen Rechtsordnung alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die vollständige Wirksamkeit der RL entsprechend ihrer Zielsetzung zu gewährleisten (EuGHC-396/07, Juuri, Rz 27; vgl auch C-14/83, Von Colson und Kamann, Rz 15; C-268/06, Impact, Rz 40). Das nationale Gericht habe im Fall einer privilegierten Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Rahmen seiner Zuständigkeiten sicherzustellen, dass der Erwerber zumindest die Folgen trägt, die das anwendbare nationale Recht an die Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses durch den AG knüpft, wie die Zahlung des Arbeitslohns und die Gewährung anderer Vergünstigungen während der vom AG einzuhaltenden Kündigungsfrist (C-396/07, Juuri, Rz 35). Es bestehe jedoch keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, AN eine bestimmte Entschädigungsregelung zu garantieren, und folglich auch nicht die Verpflichtung, sicherzustellen, dass die Modalitäten dieser Regelung den Modalitäten derjenigen Regelung entsprechen, die für AN gilt, wenn der AG den Arbeitsvertrag rechtswidrig beendet, oder die für sie während der vom AG zu beachtenden Kündigungsfrist gilt (C-396/07, Juuri, Rz 22).

2. Der Revision ist beizupflichten, dass die Formulierung dieser Erwägungen des EuGH, soweit sie sich auf die Ansprüche während der vom AG einzuhaltenden Kündigungsfrist beziehen, für den hier zu beurteilenden Fall auf den ersten Blick verschiedene Interpretationen erlaubt. Sie kann aber jedenfalls nur vor dem Hintergrund des konkreten (vom hier vorliegenden abweichenden) Anlassfalls und des darauf anwendbaren (finnischen) nationalen Arbeitsrechts verstanden werden (siehe dazu näher die Anm Gahleitners zur zitierten E in DRdA 2009, 289 ff [292 f]). Für die E im vorliegenden Verfahren muss der scheinbare Widerspruch aber nicht aufgelöst werden, weil dem Klagebegehren selbst nach der von der Kl vertretenen und für den AN-Standpunkt günstigsten Auslegung dieser Erwägungen kein Erfolg beschieden sein kann. Ein Vorabentscheidungsersuchen hat daher zu unterbleiben (vgl RIS-Justiz RS0082949 [T4]).

3. und 4. [...]

5. Indem § 3 Abs 5 AVRAG fordert, dass die gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Kündigungsfristen und -termine einzuhalten sind, stellt er klar, dass ein verschlechternder Betriebsübergang kein wichtiger Grund für einen berechtigten vorzeitigen Austritt ist. Arbeitsrechtliche Kündigungsfristen sind Mindestfristen und werden auch dann „eingehalten“, wenn die Kündigung nicht zum frühesten aller möglichen Beendigungstermine ausgesprochen wird. Wollte man daher der Beurteilung die E des EuGH iS ihrer Auslegung durch die Kl42 zugrunde legen, könnte dies nach dem Wortlaut des Gesetzes und im Lichte der RL nur zur Folge haben, dass der nach § 3 Abs 5 AVRAG kündigende AN nicht auf die für ihn selbst geltenden gesetzlichen bzw kollektivvertraglichen Kündigungsfristen und -termine beschränkt, sondern berechtigt ist, auch die für den AG geltenden längeren Fristen bzw späteren Termine in Anspruch zu nehmen (vgl auch Gahleitner, aaO).

Der AN, der von einer privilegierten Kündigung nach § 3 Abs 5 AVRAG Gebrauch machen will, muss diese Erklärung zur Wahrung des Privilegs rechtzeitig innerhalb der Monatsfrist abgeben und die für ihn geltenden Fristen und Termine als Mindesterfordernis einhalten, darüber hinaus kann er aber den tatsächlichen Beendigungstermin selbst wählen (insoweit missverständlich Reissner, ZAS 2002, 104 [104]).

Die Entgelt- und Beendigungsansprüche des privilegiert kündigenden AN sind aber nach dem klaren Wortlaut gem § 3 Abs 5 AVRAG zum Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung zu beurteilen. Löst ein AN das Arbeitsverhältnis rechtmäßig vorzeitig auf, entfällt mit der Beendigung der Arbeitspflicht auch der synallagmatische Entgeltanspruch. Der von der Kl begehrte abstrakte „Erfüllungsanspruch“ (für einen Zeitraum nach dem rechtlichen Ende des Arbeitsverhältnisses) findet in § 3 Abs 5 AVRAG keine Grundlage. Dieses Ergebnis könnte auch auf dem Weg einer Analogie zu § 29 Abs 1 AngG nicht erreicht werden. Es ist zwar der Kündigungsanlass der Sphäre des AG zuzurechnen, aber nicht die Verkürzung der Kündigungsfrist. Die Betriebsübergangs-RL stellt es den Mitgliedstaaten frei, die Rechtsfolgen der begünstigten Kündigung nicht wie jene einer rechtswidrigen AG-Kündigung zu regeln (Rs C-396/07, Juuri, Rz 22). Der Mindestschutz der RL, nämlich der Anspruch auf Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu den Bedingungen einer AG-Kündigung, ist dem AN durch die Regelung des § 3 Abs 5 AVRAG auch in Ansehung der Kündigungsfrist gewahrt. Die Rechtsfolgen der privilegierten Kündigung sind jeweils diejenigen einer rechtmäßigen AG-Kündigung zum Stichtag der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

Der Revision war daher keine Folge zu geben.

6. Dem Antrag auf Einholung eines Vorabentscheidungsersuchens zur Auslegung des Art 4 Pkt 2 der Betriebsübergangs-RL war aus den dargelegten Gründen nicht näherzutreten. Da eine Prozesspartei nach stRsp keinen verfahrensrechtlichen Anspruch hat, die Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH zu beantragen, ist der Antrag zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0058452 [T5, T14, T21]).

ANMERKUNG
1.
Einleitung

In dieser E hatte sich der OGH mit dem „begünstigten Kündigungsrecht“ bei einem Betriebsübergang gem § 3 Abs 5 AVRAG auseinanderzusetzen. Anders als bisher musste der OGH aber nicht klären, was unter dem Begriff der „wesentlichen Änderung der Arbeitsbedingungen“ iSd § 3 Abs 5 AVRAG zu verstehen ist, sondern sich mit den Rechtsfolgen dieser Bestimmung befassen. Die Kl kündigte ihr Arbeitsverhältnis am 28.5.2012 unter Einhaltung der gesetzlichen AN-Kündigungsfrist zum 30.6.2012, weil der Betriebsübergang (unstrittig) zu einer wesentlichen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen führte. Für die fiktive Dauer der AG-Kündigungsfrist bis zum 30.9.2012 verlangte sie die Zahlung einer „Kündigungsentschädigung“. Im Laufe des Verfahrens dürfte die Kl jedoch eingesehen haben, dass diese Bezeichnung den Anspruch nicht treffend charakterisiert: In der Revision gestand die Kl zu, dass es sich entgegen der in der Klage gewählten Bezeichnung nicht um einen Schadenersatzanspruch iS einer Kündigungsentschädigung handelt, sondern sie leitete – wie der OGH betont – einen „unmittelbaren Erfüllungsanspruch“ aus Art 4 Abs 2 der Betriebsübergangs-RL 2001/23/EG ab. Anders als diese Formulierung nahelegen könnte, ging es jedoch methodisch nicht um eine mögliche unmittelbare Anwendbarkeit der Betriebsübergangs-RL. Vielmehr stand eine richtlinienkonforme Interpretation von § 3 Abs 5 AVRAG zur Debatte.

§ 3 Abs 5 AVRAG ist die nationale Umsetzungsnorm von Art 4 Abs 2 der Betriebsübergangs-RL. Art 4 Abs 2 der Betriebsübergangs-RL lautet: „Kommt es zu einer Beendigung des Arbeitsvertrages oder Arbeitsverhältnisses, weil der Übergang eine wesentliche Änderung der Arbeitsbedingungen zum Nachteil des AN zur Folge hat, so ist davon auszugehen, dass die Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses durch den AG erfolgt ist.“ Der AN soll in den Genuss der Vorteile kommen, die ihm zustünden, wenn der AG das Arbeitsverhältnis beendet hätte; es wird eine arbeitgeberseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses fingiert. In § 3 Abs 5 AVRAG kommt diese Fiktion prägnanter zum Ausdruck als in der Betriebsübergangs-RL: „Dem AN stehen die zum Zeitpunkt einer solchen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gebührenden Ansprüche wie bei einer AG-Kündigung zu.“ Der OGH hatte nun zu prüfen, ob auch ein Anspruch auf Zahlung des Entgelts für die Dauer der fiktiven AG-Kündigungsfrist unter § 3 Abs 5 AVRAG subsumiert werden kann, obwohl der AN das Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der AN-Kündigungsfristen und -termine bereits zum früheren Zeitpunkt beendet hat.

2.
Einzuhaltende Kündigungsfristen und -termine

Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gem § 3 Abs 5 AVRAG ist auf Tatbestandsebene wie eine Kündigung konzipiert. Das kommt darin zum Ausdruck, dass der AN gem § 3 Abs 5 AVRAG unter Einhaltung der gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Kündigungsfristen und -termine das Arbeitsverhältnis auflösen kann (Binder, AVRAG2 § 3 Rz 121; Reissner, ZAS 2002, 104 [104]). Die Kündigung muss innerhalb eines Monats ab dem Zeitpunkt, ab dem der AN die Verschlechterung erkann-43te oder erkennen musste, ausgesprochen werden und dem Erklärungsempfänger zugehen (Binder, AVRAG2 § 3 Rz 122; Holzer/Reissner, AVRAG2 Erl zu § 3 Rz 207). Vorgegeben ist damit der Zeitraum, in dem die Kündigungsfrist zu laufen beginnen muss. Welche gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Fristen und Termine der AN einzuhalten hat, ist in § 3 Abs 5 AVRAG hingegen nicht geregelt. Es kann sich aber nur um AN-Kündigungsfristen und -termine handeln (Holzer/Reissner, AVRAG2 Erl zu § 3 Rz 209; Reissner, ZAS 2002, 104 [110]). Denn es wäre keine Begünstigung, sondern eine Benachteiligung des AN, wenn er die längeren AG-Kündigungsfristen und -termine einzuhalten hätte. Der OGH hat aber zu Recht ausgesprochen, dass der AN die Möglichkeit hat, auch die für den AG geltenden längeren Fristen und Termine in Anspruch zu nehmen. Dieses Wahlrecht des AN ist allerdings keine Besonderheit des § 3 Abs 5 AVRAG, denn diese Möglichkeit hat der AN generell, auch wenn § 3 Abs 5 AVRAG nicht anwendbar ist. Worin liegt dann aber die Begünstigung des § 3 Abs 5 AVRAG im Hinblick auf Kündigungsfristen und -termine?

Die Literatur betont idZ, dass nur die gesetzlichen oder kollektivvertraglichen, nicht aber die längeren vertraglichen Fristen gelten. Zudem gibt es eine Begünstigung bei den „Postensuchtagen“ während der Kündigungsfrist, die bei Anwendbarkeit des § 3 Abs 5 AVRAG auch dann zu gewähren sind, wenn der AN die AN-Kündigungsmodalitäten einhält (Binder, AVRAG2 § 3 Rz 120 f; Holzer/Reissner, AVRAG2 Erl zu § 3 Rz 202, 209). Fraglich ist nun, ob eine weitere Begünstigung des AN darin liegt, dass er die AN-Kündigungsfristen und -termine wählt und zusätzlich einen Anspruch auf Zahlung des Entgelts für die fiktive Dauer der AG-Kündigungsfristen und -termine geltend machen kann. Damit ist man bei der Reichweite der gesetzlichen Fiktion des § 3 Abs 5 AVRAG angelangt. Sie soll zuerst auf nationaler und dann auf unionsrechtlicher Ebene untersucht werden.

3.
Reichweite der gesetzlichen Fiktion des § 3 Abs 5 AVRAG auf nationaler Ebene

Wie bereits erläutert, hat der Gesetzgeber die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gem § 3 Abs 5 AVRAG auf Tatbestandsebene bewusst als Kündigung und nicht als Austritt aus wichtigem Grund konzipiert. Daher wäre unerfindlich, warum auf Rechtsfolgenebene erst recht wieder der Anspruch auf Kündigungsentschädigung fingiert werden sollte. Das lässt sich auch anhand der Entstehungsgeschichte des § 3 Abs 5 AVRAG zeigen. Im ursprünglichen AVRAG-Entwurf (abgedruckt in RdW 1992, 375 [376]) war in § 3 Abs 3 folgende Formulierung vorgesehen: „Kommt infolge des Betriebsüberganges ein anderer KV oder eine andere BV zur Anwendung und werden dadurch die Arbeitsbedingungen für den AN wesentlich verschlechtert, so liegt ein wichtiger Grund vor, der den AN zum vorzeitigen Austritt berechtigt.Runggaldier (RdW 1992, 375 [378]) hat an dieser Formulierung ua kritisiert, dass dem AN auch ein Anspruch auf Kündigungsentschädigung zustünde, wenn der Austritt auf ein Verschulden des AG zurückzuführen wäre. Bei einem Betriebsübergang sei aber fraglich, ob überhaupt – anders als bei § 25 KO aF – ein Verschulden des AG vorliegen könne. In der endgültigen Fassung wurde nicht mehr vom „Austritt“ gesprochen (Binder, AVRAG2 § 3 Rz 121; Reissner, ZAS 2002, 104 [104]). Das deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber bewusst von der Anordnung eines etwaigen Anspruchs des AN auf Kündigungsentschädigung absehen wollte. Hätte der Gesetzgeber wie in § 25 IO ein Austrittsrecht normieren wollen, wäre er nach Runggaldiers Kritik wohl nicht vom ursprünglichen Entwurf abgewichen. Die Fiktion auf Rechtsfolgenebene kann daher mE nicht erst recht wieder den Anspruch auf Kündigungsentschädigung erfassen.

Ein Verschulden des AG liegt nicht vor und wird von § 3 Abs 5 AVRAG auch nicht fingiert. Vielmehr bezieht sich die Reichweite der Fiktion des § 3 Abs 5 Satz 2 AVRAG nur auf den Umfang der Ansprüche, die dem AN zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses wie bei einer AG-Kündigung zustehen. Gemeint ist etwa der Anspruch auf Abfertigung alt (Binder, AVRAG2 § 3 Rz 120). Es ginge über § 3 Abs 5 AVRAG hinaus, wollte man davon auch einen Entgeltanspruch während der fiktiven AG-Kündigungsfrist erfasst wissen, wenn das Arbeitsverhältnis zu einem früheren Zeitpunkt beendet worden ist. Gesetzesfiktionen bringen aufgrund der suggestiven Wirkung ihrer Formulierung die Gefahr mit sich, dass Unterschiede im Tatsächlichen zwischen der verweisenden und der fingierten Norm ignoriert werden (Larenz, Methodenlehre6 [1991] 263). Genau darin scheint das Problem zu liegen. Nur weil das Gesetz zur Bestimmung des Anspruchsumfangs eine AG-Kündigung fingiert, heißt das keineswegs, dass der AN über den Zeitpunkt der Beendigung hinaus fiktive Schadenersatz- oder „Erfüllungsansprüche“ für die Dauer der AG-Kündigungsfrist verlangen kann.

4.
Richtlinienkonforme Interpretation
4.1.
Beurteilung der Rechtsfolgen von Art 4 Abs 2 der RL 2001/23/EG nach nationalem Recht

Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat auch eine unionsrechtliche Komponente. Es wurde schon erwähnt, dass § 3 Abs 5 AVRAG die nationale Umsetzungsnorm von Art 4 Abs 2 der Betriebsübergangs-RL ist. Sollten Entgeltansprüche des AN während der fiktiven AG-Kündigungsfrist von der Betriebsübergangs-RL umfasst sein, könnte dies eine entsprechende richtlinienkonforme Interpretation des § 3 Abs 5 AVRAG erforderlich machen. Diesbezügliche Aussagen findet man beim EuGH in der Rs Juuri (EuGH 27.11.2008, C-396/07, DRdA 2009, 289 [Gahleitner] = ZESAR 2009, 192 [Resch] = EuZA 2009, 522 [Melot de Beauregard] = NJW 2009, 45 [Krieger]). Dort hatte der EuGH in der ersten Vorlagefrage zu entscheiden, ob Art 4 Abs 2 der Betriebsübergangs-RL einen Entschädigungsanspruch des AN wie bei einer rechtswidrigen Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch den AG44 gewährt. Der EuGH sprach aus, dass die konkreten Rechtsfolgen, die die Fiktion der arbeitgeberseitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach sich zieht, nicht in Art 4 Abs 2 der Betriebsübergangs-RL geregelt, sondern nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten zu beurteilen sind (Rz 22 ff). Art 4 Abs 2 der Betriebsübergangs-RL soll zufolge des EuGH kein einheitliches Schutzniveau für die AN schaffen. Die AN seien ausreichend geschützt, weil die Beendigung des Arbeitsverhältnisses dem AG zugerechnet werde. Eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die gleichen Rechtsfolgen vorzusehen wie im Falle einer rechtswidrigen AG-Kündigung, gibt es nach Ansicht des EuGH nicht.

4.2.
Teleologische Auslegung

Das hat aus teleologischer Sicht viel für sich. Die Betriebsübergangs-RL wurde nämlich auch nicht auf die Kompetenz zur Sozialpolitik (Art 153 AEUV) gestützt, sondern auf jene zum Binnenmarkt (Art 115 AEUV). Selbst wenn die Betriebsübergangsbestimmungen primär zum Schutz des AN erlassen worden sind, sollen sie daher nicht so ausgelegt werden, dass sie nur die Interessen des AN verfolgen (Rebhahn, DRdA 2014, 407 [409]). Neben dem Schutz des AN hat auch die Förderung der organisatorischen Flexibilität von Unternehmen Eingang in die Betriebsübergangs-RL gefunden (GA Colomer, SA vom 4.9.2008, Rs Juuri, C-396/07, Rz 50). Zu Recht hat der EuGH daher in der Rs Juuri eine Entschädigungspflicht des AG wie im Falle einer rechtswidrigen Kündigung durch den AG verneint. Eine solche Entschädigungspflicht hätte eine unabsehbare Ausweitung der Rechtsfolgen eines Betriebsüberganges zur Folge (Melot de Beauregard, EuZA 2009, 522 [525]).

4.3.
Historische Auslegung

Für diese Ansicht sprechen auch historische Argumente. Im ursprünglichen Entwurf der Betriebsübergangs-RL 77/187/EWG aus dem Jahr 1974 (COM [74] 351 final/2, abgedruckt in RdA 1975, 124 ff) war in Art 4 Abs 3 als Rechtsfolge der AN-Kündigung im Falle der wesentlichen Änderung der Arbeitsbedingungen vorgesehen, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch einen vom AG zu vertretenden Umstand veranlasst worden ist:...such a termination shall be deemed to be due to the action of the employer“. Diese Regelung geht im Wesentlichen auf Art 30 Abs 2 des Vorentwurfs eines Übereinkommens über die internationale Verschmelzung von Aktiengesellschaften zurück (Goldman, Bulletin EG 1973 Beilage 13/73, 20). Dort ist hinsichtlich der Rechtsfolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses genau diese Wortfolge vorzufinden. In den Erläuterungen zu Art 30 Abs 2 wurde darauf hingewiesen, dass der AN Anspruch auf Entschädigung wegen einer solchen Beendigung des Arbeitsverhältnisses hat (Goldman, Bulletin EG 1973 Beilage 13/73, 82). Allerdings wurde im zweiten Entwurf zur Betriebsübergangs-RL aus dem Jahre 1975 (COM [75] 429 final) in Art 6 Abs 2 bereits eine andere Formulierung gewählt: „... the employer shall be regarded as having been responsible for termination...“. Dieser Wortlaut fand sich dann auch in Art 4 Abs 2 der endgültigen Fassung der Betriebsübergangs-RL 77/187/EWG sowie der folgenden Betriebsübergangs-RL 98/50/EG und findet sich auch in der jetzigen Fassung der Betriebsübergangs-RL 2001/23/EG. Im Deutschen lautet die Übersetzung „..., dass die Beendigung... durch den AG erfolgt ist.“ Diese Formulierung deutet anders als die ursprüngliche Formulierung nicht mehr auf finanzielle Entschädigungsansprüche des AN hin.

4.4.
Systematische Auslegung

GA Colomer führte in seinem Schlussantrag (SA vom 4.9.2008, C-396/07, Rs Juuri, Rz 52 ff) überzeugend aus, dass andere Richtlinien, die finanzielle Entschädigungen auslösen wollen, solche ausdrücklich normieren. Art 18 der RL 2006/54/ EG oder Art 8 der RL 2004/113/EG etwa sehen vor, dass der entstandene Schaden dem AN tatsächlich und wirksam ausgeglichen oder ersetzt wird. In Art 4 Abs 2 der Betriebsübergangs-RL hat der Unionsrechtsgesetzgeber eine deutlich schwächere Formulierung gewählt, sodass davon auszugehen ist, dass finanzielle Entschädigungen nicht davon umfasst sind.

4.5.
Widersprüchliche Aussagen des EuGH in der Rs Juuri?

Angesichts dieser Argumente sollten über das Verständnis von Art 4 Abs 2 Betriebsübergangs-RL eigentlich keine Zweifel bestehen. Zusammengefasst normiert die Betriebsübergangs-RL kein einheitliches Mindestschutzniveau in den Mitgliedstaaten und überlässt die Festlegung der Konsequenzen der Fiktion der arbeitgeberseitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses den nationalen Rechtsordnungen. Dementsprechend verneint der EuGH in der Rs Juuri eine Pflicht der Mitgliedstaaten, dem AN eine Entschädigung zu garantieren, die ihm bei einer rechtswidrigen AG-Kündigung zusteht (Rz 30 S 1). Kopfzerbrechen bereiten dann allerdings die Ausführungen des EuGH in Rz 30 S 2. Anders als noch in Rz 22 erklärt er im zweiten Satz der Rz 30, dass das nationale Gericht „im Rahmen seiner Zuständigkeiten sicherzustellen hat, dass der Erwerber in einem solchen Fall zumindest die Folgen trägt, die das anwendbare nationale Recht an die Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses durch den AG knüpft, wie die Zahlung des Arbeitslohns und die Gewährung anderer Vergünstigungen während der vom AG einzuhaltenden Kündigungsfrist.“ Soll das nun doch bedeuten, dass dem AN auch Ansprüche über das tatsächliche Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus zustehen? In Österreich entspräche ein derartiger Anspruch während der fiktiven AG-Kündigungsfrist dem Anspruch auf Kündigungsentschädigung wie bei einer rechtswidrigen AG-Kündigung, zu dem die Mitgliedstaaten allerdings gerade nicht verpflichtet sind.

Das Verfahren in der Rs Juuri wurde von einem finnischen Gericht initiiert; wie der OGH zu45 Recht ausführt, kann die Aussage in Rz 30 auch nur vor dem Hintergrund des finnischen Rechts verstanden werden. Kapitel 12 § 2 des finnischen Gesetzes gewährt einen Anspruch des AN auf Entschädigung gegenüber dem AG wegen ungerechtfertigter Beendigung des Arbeitsvertrages. Der AN hat keinen Anspruch auf diese Entschädigung, wenn der AG den Arbeitsvertrag aus sachlichen und wichtigen Gründen gekündigt hat. Selbst dann bleibt dem AN während des Kündigungszeitraums aber zumindest der Anspruch auf Lohn und andere Leistungen. Der EuGH wollte den Entschädigungsanspruch gem Kapitel 12 § 2 des finnischen Gesetzes verneinen, aber den Anspruch auf Entgelt und andere Leistungen während der AG-Kündigungsfrist bejahen. Entscheidend ist, dass Frau Juuri ihr Arbeitsverhältnis aufgrund der wesentlichen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen fristlos beendet hat. Anders als § 3 Abs 5 AVRAG regelt die finnische Umsetzungsnorm von Art 4 Abs 2 der Betriebsübergangs-RL: „Wenn der Arbeitsvertrag wegen der infolge des Betriebsübergangs wesentlich verschlechterten Arbeitsbedingungen des AN beendet worden ist, ist davon auszugehen, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den AG erfolgt ist.“ Das finnische Recht schreibt daher nicht wie § 3 Abs 5 AVRAG eine AN-Kündigung vor; auch ein Austritt des AN kommt in Frage. Fraglich ist dann, welche Rechtsfolgen ein Austritt des AN auslöst – werden auf Rechtsfolgenebene Ansprüche wie bei einer unberechtigten Entlassung durch den AG oder wie bei einer „normalen“ AG-Kündigung fingiert? Der EuGH entschied sich für die zweite Möglichkeit. Die Aussagen des EuGH können aber mE nicht auf das österreichische Recht übertragen werden, weil die Beendigung des Arbeitsverhältnisses im österreichischen Recht von einer Kündigung des AN abhängt; ihm steht kein vorzeitiges Austrittsrecht zu. Für Österreich lässt sich daher aus der EuGH-E weder ein Anspruch des AN auf eine Kündigungsentschädigung ableiten noch ein „Erfüllungsanspruch“ während der fiktiven AG-Kündigungsfrist. Man könnte sich höchstens die Frage stellen, ob § 3 Abs 5 AVRAG unionsrechtswidrig ist, weil er eine Kündigung des AN unter Einhaltung von Kündigungsfristen und -terminen vorschreibt und dem AN kein vorzeitiges Austrittsrecht bietet. Das ist aber doch zweifelhaft, weil die Betriebsübergangs-RL bezüglich der Art der Beendigung keine Vorgaben macht. Ungeklärt ist jedoch, welche Rechtsfolgen im österreichischen Recht ein Austritt des AN nach sich zieht, der sich auf § 3 Abs 5 AVRAG beruft. Damit musste sich der OGH nicht befassen, weil die Kl das Arbeitsverhältnis gekündigt und nicht fristlos aufgelöst hatte. Dies bedürfte einer eigenen Untersuchung.

5.
Zusammenfassung

Der OGH hat in dieser E überzeugend ausgeführt, dass § 3 Abs 5 AVRAG keine Grundlage für einen Anspruch auf Zahlung eines Entgelts für die fiktive Dauer einer vom AG einzuhaltenden Kündigungsfrist bietet, wenn der AN das Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der AN-Kündigungsfristen und -termine auflöst. Dieses Ergebnis kann sowohl auf nationaler als auch auf unionsrechtlicher Ebene mit historischen, teleologischen und systematischen Argumenten untermauert werden.