„Langsam, aber stetig ringt sich das Recht des Arbeiters durch.“ – Bemerkungen zur Frühgeschichte des Kollektivvertragswesens

KLAUS-DIETERMULLEY (WIEN)

Mit dem im Titel genannten Zitat beginnt eine der ersten – 1903 abgefassten – sozialpolitischen Studien, die sich mit dem KollV als für die Habsburger Monarchie relativ neuem Rechtsinstrument auseinandersetzten.*

Auslösender Moment waren nicht nur die in den Jahren zuvor abgeschlossenen ersten Kollektivverträge, sondern vielmehr der Beschluss des vierten (sozialdemokratischen) Kongresses der Gewerkschaften Österreichs von Juni 1903 „den Abschluss von Tarifgemeinschaften (kollektiven Arbeitsverträgen) für geeignet [zu halten], das Wesen der Lohnkämpfe auf eine gesündere Basis zu stellen als bisher und unbedachten Lohnkämpfen vorzubeugen“.* Damit wurde ein bereits 1900 vom Gewerkschaftskongress gefasster Grundsatzbeschluss sanktioniert. Die nachfolgenden, notge-143drungen kurzen Bemerkungen werden versuchen, in wenigen Worten die politikgeschichtliche Entwicklung* des Kollektivvertragswesens bis zur ersten gewerkschaftsoffiziellen Statistik dieses für Österreich neuen arbeitsrechtlichen Regelinstruments nachzuzeichnen.

1.
Frühe kollektive Tarifverträge

Gemeinhin wurde versucht, jegliche Festsetzung von Löhnen, Arbeitszeit und Lehrlingswesen zwischen Knechten, Gesellen und Meistern innerhalb der Zünfte bis in das frühe Mittelalter zurückzuverfolgen und dies als „kollektivvertragsähnliche“ Gebilde zu bezeichnen,* da sie gemeinsam abgeschlossen wurden und der Regelung der Arbeitsverhältnisse und somit der Herstellung eines Arbeitsfriedens dienten. Der Gewerkschaftshistoriker Julius Deutsch* warnte jedoch vor solchen Analogien, da von einem Vertragsverhältnis gleichberechtigter Partner in jener frühen Zeit „nie die Rede“ war, „vielmehr glichen solche Versprechungen mehr einer vom Unternehmer gewährten Konzession“.*

Erst das Erstarken der Gewerkschaftsbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts (Jh) machte „formgerechte Tarifverträge von gleichberechtigten Parteien“ möglich. Waren die AN bis dahin völlig dem Goodwill der AG ausgeliefert, so gab es dennoch Mitte des 19. Jh eine kurze Phase, in der es Teilen der Arbeiterschaft gelang, als politische Kraft aufzutreten, auf ihre katastrophale Lage hinzuweisen, gegenüber den AG geschlossen vorzugehen und ihnen gegenüber gleichberechtigt kollektive Vereinbarungen zu treffen. Die sogenannte „bürgerliche Revolution“ von 1848 wurde nicht nur von für die Konstitution demonstrierenden Bürgern und Studenten, sondern vor allem auch von einer Arbeiterschaft getragen, die sich gegen die bisherige brutale Ausbeutung ihrer Arbeitskraft zur Wehr setzte.* Nicht nur in den Vorstädten, sondern auch in der Umgebung Wiens kam es im März und April 1848 zu spontanen Lebensmittelplünderungen, Maschinenzerstörungen und Brandstiftungen, die in der Folge in konkreten Forderungen der Arbeiterschaft nach einer Verbesserung ihrer sozialen Lage gipfelten.* Innerhalb fast aller Gewerbesparten kam es zu ersten frühgewerkschaftlichen solidarischen Zusammenschlüssen. Die ob dem „Aufruhr“ der Arbeiterschaft verunsicherten AG mussten sich zu Zugeständnissen bereit erklären. Die Buchdrucker- und Schriftgießergehilfen forderten im April 1848 ua eine Erhöhung der Arbeitslöhne, eine Beschränkung der Arbeitszeit, die Aufnahme von Lehrlingen und sie konnten in Verhandlungen mit den „Prinzipalen“ einen ersten für ganz Wien geltenden gemeinsamen Tarif durchsetzen.* Den Gesellen der Seidenzeugfabriken Wiens gelang eine Vereinbarung über die Arbeitszeit, das Lehrlingswesen und die Vertretungsbefugnis der Altgesellen. Darüber hinaus „wurde der Wunsch ausgesprochen, dass zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, die aus dem Arbeitsverhältnis entspringen sollten, von einer hohen Landesstelle die Einführung von Schiedsgerichten beliebt werde, in welchen Arbeitgeber, Altgesellen, Werkmeister und Gesellen ihre Vertretung finden“.* Wurde hier erstmals die Aufforderung von AN und AG an die Regierung zur gesetzlichen Einrichtung von „Einigungsämtern“ artikuliert, so war insgesamt gesehen für diese kurze, frühe Phase gewerkschaftsähnlichen Erwachens bezeichnend, dass sich die Vertreter der AN mit ihren Forderungen oftmals zuerst an die Stadt- oder Landesverwaltung und nicht direkt an die AG wandten, deren „Herr im Haus“-Standpunkt nur mit Hilfe der staatlichen Obrigkeit zu durchbrechen zu sein schien. So etwa wandten sich gewählte Vertrauensmänner von 17 großen Spinnereien aus dem Industrieviertel an den Reichstag, „weit entfernt ... die Fabrik-Eigentümer um ihren Wohlstand zu beneiden“ und ebenso weit entfernt „durch von uns unbillige Rücksichten zu verlangen oder die Hände untätig in den Schoß zu legen“, wollen wir „eine menschliche Behandlung, gleiche Verteilung der Arbeit ohne Bevorzugung und eine entsprechende Zukunft“.* In der ausführlich begründeten Petition wird „die gleiche Arbeitszeit in allen Fabriken“, „gleiche Begünstigungen für alle Arbeiter“, „freier Aus- und Eingang für jeden Arbeiter“, besserer „Schulunterricht für die Jugend“, „eine Versorgungsanstalt für unfähig gewordene Arbeiter“ und „die Aufstellung eines die Herrn gleich wie die Arbeiter bindenden Fabriksgesetzes“ gefordert.*

Doch die brutale Niederschlagung der Revolution machte nicht nur alle Eingaben an die Landes- und Staatsverwaltung, sondern auch alle mit den AG getroffenen Vereinbarungen – oft in der Literatur nicht ganz zu Recht als „erste Kollektivverträge“* genannt – zunichte. Die nun folgende Zeit des Neoabsolutismus verbannte die Arbeiterschaft wieder in den Zustand des Vormärz: Ihre Vereine und Betätigungen wurden verboten, Arbeitskämpfe geahndet und Unterstützungskassen unter Aufsicht gestellt. Ohne nun auf die wechselvolle, immer wieder von Niederlagen, internen Rivalitäten, Verboten, obrigkeitsstaatlichen Repressionen und mit drakonischen Strafen bedachten Streiks und Arbeitsniederlegungen gekennzeichnete Geschichte der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, ent-144scheidend beeinflusst durch das Vereinsgesetz von 1867* und das Koalitionsrecht von 1870,* einzugehen, sei auf den als Initialzündung für die moderne Gewerkschaftsbewegung wegweisenden Beschluss des Hainfelder Parteitages der Sozialdemokratie 1888/89 hingewiesen, in dem „allerorts, besonders aber in den Industriezentren, die Gründung von Gewerkvereinen mit möglichster Heranziehung der männlichen und weiblichen Hilfsarbeiter* empfohlen wurde. Dies führte in der Folge nicht nur zu einer (Wieder-)Gründung zahlreicher Fach- und Gewerkvereine, sondern auch zu der am ersten Gewerkschaftskongress der Gewerkschaften Österreich 1893 definitiv eingerichteten zentralen Gewerkschaftskommission der freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften.*

2.
Begriff und Wesen des Kollektivvertrages

Der weiteren geschichtlichen Entwicklung der kollektiven Arbeitsvertragspraxis möge jener Definitionsversuch von Julius Deutsch vorangestellt werden, der politisch den Intentionen der Gewerkschaftskommission entsprach.*Deutsch bezeichnet mit „Tarifvertrag“ ganz allgemein einen zwischen Unternehmern und einer Mehrzahl von Arbeitern bzw deren Vertretern abgeschlossenen Vertrag, der einen „auf einer freien Vereinbarung beider auf dem Boden der Gleichberechtigung über den allgemeinen Inhalt zukünftiger individueller Arbeitsverträge“ darstellt. Der Autor betont – was damals im ersten Dezennium der Kollektivverträge für die AN relevant war –, dass der Tarifvertrag den individuell abzuschließenden Arbeitsvertrag nicht ersetzt, sondern „nur einen mehr oder weniger großen Teil von dessen Inhalt“ bestimmt. Der Abschluss eines individuellen Arbeitsvertrages blieb für die AN obligatorisch. Der Inhalt des entsprechenden Arbeitsvertrages muss den Bestimmungen des Tarifvertrages entsprechen. Ausgehend von der vorab genannten allgemeinen Definition des Tarifvertrages unterschied Deutsch – und mithin die Gewerkschaften – gemäß den damaligen Usancen drei Arten von Tarifverträgen auf Grund der vertragsabschließenden Parteien: Zum einen nennt er den „Werkstätten- oder Firmenvertrag“, der von einem einzelnen Unternehmer mit den Vertretern seiner AN („das ist in der Regel die Gewerkschaft“) abgeschlossen wird. Als „Gruppenvertrag“ bezeichnet er eine entsprechende Vereinbarung, die „von mehreren einzelnen Unternehmern mit den Arbeitervertretern“ abgeschlossen wird. Ein „Kollektivvertrag im engeren Sinne des Wortes“ liegt dann vor, wenn eine Unternehmerkooperation mit einer Arbeitervereinigung abschließt. Der Autor gibt allerdings zu bedenken, dass jede Definition in sich problematisch ist. Wiewohl die Angabe einer Vertragsdauer und eine Bestimmung über eine Vertragskündigung gewerkschaftlich eine große Rolle spielen und als wesentliches Merkmal eines Tarifvertrages angesehen wurden, konnte sich Deutsch nicht damit anfreunden, zumal – abgesehen von der Zweckmäßigkeit entsprechender Vertragsteile – er dies für die Form des Tarifvertrages von untergeordneter Relevanz ansah. Entscheidend sei vielmehr, dass als Tarifverträge nur „schriftliche, beiderseits unterfertigte Vereinbarungen als Verträge“ gelten, und „mündliche, formlose Abmachungen die gewöhnlich Lohnbewegungen oder Streiks zu beschließen pflegen“ nicht statistisch behandelt werden können.* Nun war es in der Tat so, dass bei den zahllosen Arbeitskämpfen, die entweder als „Angriffstreiks“, wenn etwa eine Lohnerhöhung gefordert wurde, oder als „Abwehrstreiks“, wenn ein Vertrauensmann gekündigt oder von den AN unentgeltlich Mehrleistungen gefordert wurden, gewerkschaftlich klassifiziert wurden, die Vertrauensmänner des Betriebes bzw das Streikkomitee mit dem AG meist nur mündliche Vereinbarungen schlossen, bzw schriftliche Niederlegungen nicht an den entsprechenden Fachverein, soweit dieser nicht involviert wurde, weitergaben. Über diese, seit dem Frühkapitalismus in Betrieben immer wieder auftretenden Arbeitskämpfe ist kaum etwas bekannt. Späterhin ab 1893 berichten das Organ der Gewerkschaftskommission,* Zeitschriften der Gewerkschaften und oft auch die sozialdemokratische Presse über diese oft zu Ungunsten der AN beendeten betrieblichen kollektiven Arbeitskämpfe. Mit dem Bewusstsein, dass nur eine weitgehend geeinte organisierte Gewerkschaftsbewegung den von AG ausgelegten und oftmals gebrochenen „individuellen Arbeitsvertrag“* sowie kollektive Vereinbarungen schützen kann, traten die ersten Gewerkschaftskongresse und auf Grund deren Beschlüsse die Gewerkschaftskommission den dornenvollen Weg an, aus der Vielzahl der Fach-, Gewerkschafts- und Arbeitervereine eine starke überregionale, nach Industriegruppen gegliederte Organisation zu schmieden. Ein immer wieder diskutiertes Thema war auch die Unterstützung von Arbeitskämpfen, die Aufforderung, „Widerstandsfonds“ (Streikfonds) zu gründen und über notwendige Streiks bzw deren Unterstützung rechtzeitig mit der Gewerkschaftskommission Rücksprache zu halten. Es waren oft die Partialinteressen der einzelnen regionalen Berufs- und Branchenorganisationen und deren Funktionäre, die mühsam zu überwinden waren, um eine „Unionisierung“, eine überregionale Verbandsorganisation, zu errichten. Insofern muss der sich doch über ein Jahrzehnt145hinziehende Weg vom betrieblichen Tarifvertrag zum überbetrieblichen, regionalen von einem auf AN-Seite, von einem Gewerkschaftsverband abgeschlossenen „Branchen-KollV“ auch als Geschichte der Organisationsentwicklung der Gewerkschaftsbewegung gesehen werden.* Andererseits müssen jene gesetzlichen Initiativen vor der Jahrhundertwende, in welchen es Kollektivverträge nur in der Buchdruckerbranche gab und diese noch kein Thema des gewerkschaftlichen Diskurses waren, „Arbeiterausschüsse“ und/oder „Einigungsämter“ zur arbeitsrechtlichen Konfliktbereinigung zu schaffen* als Versuch gesehen werden, die in den staatsbürgerlichen Rechten nicht gleichgestellten AN zu befrieden und in ein sozialharmonisches Korsett staatlicher Zwangsregulierung zu zwängen. Parallel zur zaghaften Bildung größerer Branchengewerkschaften formierten sich auch die AG – abgesehen von der seit Oktober 1848 bestehenden Handels- und Gewerbekammer – in freien Vereinigungen,* ) worauf insb auf den Gewerkschaftstagen immer wieder hingewiesen wurde. Bereits 1862 konstituierte sich ein „Verein österreichischer Indus trieller“. 1875 wurde ein „Industrieller Club“ als Interessenvertretung der Großindustrie gegründet. Der ab 1892 gegründete „Centralverband der Industriellen Österreichs“ gab die Zeitschrift „Die Industrie“ heraus. Im 1897 errichteten „Bund österreichischer Industrieller“ waren vor allem kleinere und mittlere Unternehmungen organisiert. 1903 errichteten die drei Verbände einen vom „Industriellen Club“ betreuten „ständigen Ausschuss“ und 1906 entstand eine „Hauptstelle“, in der der „Bund österreichischer Industrieller“ und einige Einzelunternehmungen vertreten waren.

3.
Anerkennung und Empfehlung von „Tarifgemeinschaften“

1895 gelang es der intellektuellen Avantgarde der Gewerkschaftsbewegung, dem Zentralverband „der Vereine der Buchdrucker und Schriftgießer und verwandter Berufe“, mit den AG die erste „Tarifgemeinschaft der Buchdrucker Österreichs“ zu bilden und einen Normaltarif für ganz Österreich durchzusetzen. Abgesehen von Lohnfestsetzung konnte eine neunstündige Arbeitszeit, eine Regelung der Lehrlingsverhältnisse und der Akkordarbeit sowie – und das sollte in folgenden Jahren entscheidend sein – die Einsetzung „paritätischer Tarifschiedsgerichte“ für jedes einzelne Kronland und als Berufsinstanz für das ganze Reich ein „Tarifeinigungsamt“ erreicht werden. Diese erste, von Vertretern der AN und AG als gleichberechtigte Partner geschlossene, kollektivvertragliche Vereinbarung wurde von den Buchdruckern als „Tarifgemeinschaft“ bezeichnet: „Sie bindet sowohl Unternehmer wie Arbeiter zur Einhaltung der von ihren Vertretern vereinbarten Arbeitsbedingungen für eine im Vorhinein festgesetzte Zeit und sieht für den Fall als die eine oder andere Partei sich eine Verletzung der getroffenen Vereinbarungen Zuschulden kommen lassen sollte, Bestimmungen zur Hintanhaltung vor“.*

Dem vom 11. bis 15.6.1900 in Wien stattfindenden „III. Congreß der Gewerkschafts-, Arbeiter-, Bildungs- und Unterstützungsvereine Österreichs“ lag ein Antrag des „Vereins der Buchbinder Steiermarks und der Buchbinder Mährens“ vor, womit erstmals die Frage von Kollektivverträgen in einem breiten Rahmen diskutiert wurde. Der Antrag, dessen Behandlung als Geburtsstunde des österreichischen Kollektivvertragswesens bezeichnet werden kann, lautete: „Der dritte österreichische Gewerkschaftskongress erklärt im Prinzip die Tarifgemeinschaften als die Anerkennung des Rechtes der Arbeiterorganisationen, auf den Preis der Ware ‚Arbeit‘ mitbestimmend zu wirken“. Er sah jedoch „als die unabdingbare Vorbedingung des Erfolges dieses Mittels zur Besserung der Arbeitsbedingnisse eine kräftige Organisation, die auch die Macht hat, über die strengste Einhaltung der geschlossenen Vereinbarungen zu wachen ...“ vor.*Heinrich Beer, Mitglied der Gewerkschaftskommission und Redakteur des „Metallarbeiter“, der am Kongress ausführlich über eine von der Kommission gewünschte Änderung des „Streikreglements“ referierte, konnte dazu ad hoc noch keine Stellungnahme abgeben, da „diese Frage in Österreich noch nicht jene Bedeutung [hat], die ihr von den Antragstellern zugemessen wird“. Vorausblickend stellte er jedoch fest: „Bevor man dran geht, solche Vereinbarungen zu treffen, müssen zunächst starke Organisationen auf Seite der Unternehmer, wie auf Seite der Arbeiter vorhanden sein, weil sonst niemand da ist, der diese Vereinbarungen eingehen und halten kann.“ Grundsätzlich sprach sich der Metaller jedoch im Namen der Gewerkschaftskommission für die Annahme des Antrages aus: „Ein Verstoß gegen das Prinzip des Klassenkampfes sind die tariflichen Vereinbarungen nicht. Wo sie getroffen werden können, sollen sie auch getroffen werden.*Julius Grünwald erzählte zur Begründung des Antrages, wie die Buchdrucker sukzessive zu einem einheitlichen Tarif für „ganz Österreich“ kamen und betonte – wie Beer – die Notwendigkeit einer starken Organisation als Voraussetzung: „Streiks sind in erster Linie dort nöthig, wo die Unternehmer den Werth der Organisation für die Arbeiter noch nicht kennen gelernt haben, wo aber die Unternehmer bereits den Einfluss der Organisation auf die146Arbeiterschaft kennen gelernt haben, treten die Streiks in die zweite Linie, dort tritt die Frage der tariflichen Vereinbarung in den Vordergrund und das war auch der Grund, warum wir die Frage der tariflichen Vereinbarung bei dem gegenwärtigen Punkt der Tagesordnung zu besprechen angeregt haben.* Mit der Annahme des Antrags durch den Gewerkschaftskongress wurden ab nun „Tarifgemeinschaften“ (von Verbänden, Gruppen von AG und Gewerkschaften) für den Abschluss von Vereinbarungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen prinzipiell gewerkschaftlich anerkannt.

Wie drei Jahre zuvor beschlossen, kam am vierten Gewerkschafts-Kongress 1903 die Frage der Tarifgemeinschaften erneut auf die Tagesordnung. Von den Wiener Buchdruckern* lag ein von der Gewerkschaftskommission unterstützter Antrag vor, „Tarifgemeinschaften (kollektive Arbeitsverträge)“ für geeignet zu erklären, um „Lohnkämpfe auf eine gesündere Basis zu stellen“.* Nachdem in der Zwischenzeit in mehreren Branchen solche kollektiven Vereinbarungen getroffen wurden,* die Konfektionsschneider, Hutmacher und Stockdrechsler paritätisch besetzte Kontrollkommissionen bzw Einigungsausschüsse zur Überwachung der Einhaltung der tariflichen Bestimmungen als Bestandteil des KollV und damit die Anerkennung ihrer Organisation erreichen konnten, wurden Tarifgemeinschaften „überall dort [als] empfehlenswert“ erklärt, „wo starke Organisationen sowohl der Arbeiter wie auch der Unternehmer vorhanden sind, welche die Gewähr für Durchführung und Aufrechterhaltung der getroffenen Vereinbarungen bieten“.*

Nachdem es sich bei den Kollektivverträgen um eine „völlig neue Rechtserscheinung“ handelte, war – wie die „Arbeiter-Zeitung“ 1904 bemerkte – die „Anerkennung der Organisation als Vertreterin aller Arbeiter durch das Gesetz und die Gerichte“ von ausschlaggebender Bedeutung, zumal nur durch die Anerkennung dieser Vertretungsbefugnis gegen vertragsbrüchiger Unternehmer vor Gericht vorgegangen werden könne.* In diesem Zusammenhang wurde das Urteil eines Gewerbegerichtes zitiert, welches die Vertreter der Gehilfenversammlung der Genossenschaft „als Vollmachtnehmer der Hilfsarbeiter“ anerkannte und den von ihnen mit den Vertretern der Genossenschaftsversammlung geschlossenen KollV als bindend ansah. Somit war – wie der Autor meinte – zu hoffen, „dass sich die Gewerbegerichte auf diesen Standpunkt der Vertretung aller Arbeiter durch die gewählten Vertrauensmänner auch stellen werden, wenn es sich um eine Gewerkschaft handelt“.*

Der Umgang der AG mit dem Instrumentarium des KollV war gespalten und von der Anerkennung der entsprechenden gewerkschaftlichen Organisation abhängig.* Der „Bund Österreichischer Industrieller“ suchte den Kontakt zur Metallarbeitergewerkschaft, um anbahnende Arbeitskonflikte auf friedlichem Weg zu lösen. Dagegen versuchte der unter Einfluss des Herausgebers der radikal arbeitnehmerfeindlichen Zeitung „Die Arbeit“, C. J. Hauck-Weiß,* stehende „Neunkirchner Verband“, jeden Einfluss von Gewerkschaften fern zu halten und Streiks durch Aussperrungen und den Einsatz von Streikbrechern durchzustehen.

4.
„Kollektivverträge“ und „Kollektivkoller“

Nachdem 1905 von 91 abgeschlossenen Tarifverträgen 51 zumindest „die Tendenz“ hatten, „Kollektivverträge zu bilden“ und 1906 von insgesamt 448 Verträgen 201 in die Kategorie „Orts-, Bezirks- und Landesverträge“ fielen, meinte der Sekretär der Gewerkschaftskommission, Anton Hueber,* dass „sich auch bei unseren Genossen ein Kollektivkoller entwickelt“ hätte, was am 5. Gewerkschaftskongress 1907 Heiterkeit im Saal hervorrief.* Er verwies darauf, dass „aus lauter Begeisterung für die Kollektivverträge ... so manches unsinniges Zeug vereinbart wurde“ und sah darin eine große Gefahr für die Arbeiterschaft. Hueber machte darauf aufmerksam, dass auch die AG zunehmend Kollektivverträge als ein streikverhinderndes Instrument ansehen und damit spekulieren, sich einige Jahre hindurch Ruhe zu sichern „um kalkulieren und ruhig produzieren zu können“. So konnte die Gewerkschaftskommission den Industriellenorganisationen sogar drohen, keine Kollektivverträge mehr abzuschließen, wenn sie weiterhin die Gewerkschaften mit diversen Beschwerden überhäufen. Nachdem es in den nächsten Jahren zu Situationen kommen werde, in denen Kollektivverträge verschiedener Branchen zur gleichen Zeit auslaufen und die konjunkturelle Lage nicht vorhersehbar sei, müssten sich die Gewerkschaften entsprechend vorbereiten und ihre Streikfonds erhöhen.

5.
„Preis des Kampfes“

1908 stellte die Metallarbeitergewerkschaft im Zusammenhang mit der Entwicklung der Kollektivverträge fest: „Früher herrschte in der Fabrik ein schrankenloser Absolutismus, nun müssen sich die Fabriksherren die Einrede der Arbeitervertreter gefallen lassen, sie müssen mit ihnen als einer147gleichberechtigten Vertragspartei unterhandeln. Aus diesem Fabriksabsolutismus hat sich die Konstitution entwickelt.*Julius Deutsch hielt fest, dass damit der Klassenkampf nicht aus der Welt geschafft und der Tarifvertrag „kein Dokument des Friedens“, sondern vielmehr „der Preis des Kampfes“ sei.* Seine im Auftrag der Gewerkschaftskommission durchgeführte Statistik zeigt, dass von 1904 bis 1907 insgesamt 1.598 Tarifverträge für rund 590.000 AN abgeschlossen wurden. Gegenüber den „eigentlichen Kollektivverträgen“ und den „Gruppenverträgen“ waren über all die Jahre die Firmenverträge mit einem Anteil von rund 53 % zwar vorherrschend, umfassten aber 20 % der beteiligten AN, gegenüber rund 61 % der in „eigentliche Kollektivverträge“ eingebundenen AN. Auf Seiten der AN war die entsprechende Gewerkschaft in den weitaus überwiegenden Fällen Vertragsabschließende: Nichtbeteiligt war die Gewerkschaft nur bei 3,7 % aller abgeschlossenen Verträge.* Aus der Zunahme der Befristung der Verträge ist – wie Deutsch feststellt – erkennbar, wie sich aus einer „formlosen mündlichen Vereinbarung“ eine schriftliche entwickelte, für die sich bald bestimmte „Regeln“ bildeten, „die zuerst einzeln auftraten, mit der Zeit aber allgemeine Geltung gewannen“.* Wenn man sich nun kurz den Inhalten der Tarifverträge zuwendet, so wurden Bestimmungen über die Lohnhöhe zwar in knapp 93 % der Tarifverträge aufgenommen, sie machten jedoch nicht unbedingt allein den wesentlichen Inhalt des Tarifvertrages aus. In vielen Tarifverträgen wurden nur die Lohnsteigerungen ohne definitive Angabe der sich ergebenden absoluten Beträge genannt, wobei zunehmend die Angabe von Minimallöhnen Eingang in den Tarifvertrag fand.*Weiters war zu bemerken, dass die Aufnahme von Bestimmungen über eine höhere Entlohnung der Überstunden rasant zunahm und 1907 bereits in 61 % der Verträge Eingang fand.* Bezüglich der vereinbarten Arbeitszeit lag der Schwerpunkt 1906 und 1907 bei 9,5 Stunden täglich, nur die Wiener Kanalräumer konnten 7,5 Stunden erreichen, während für die Speditionsarbeiter und Schwerfuhrwerkskutscher bereits eine Vereinbarung über 14 Stunden einen Erfolg darstellte, da sie bis dahin keine Arbeitszeitbegrenzung hatten.* Insgesamt gesehen konnte in fünf Jahren für über 335.000 AN eine Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt werden. Deutsch stellte dazu fest: „Vor solchen Erfolgen zerfliessen die Gerede von der Fruchtlosigkeit gewerkschaftlicher Kämpfe sowohl als die von engherziger Kastensimpelei“.* Während die Regelung der Arbeitskündigung überwiegend den gesetzlichen Bestimmungen überlassen wurde, war erfreulich festzustellen, dass in insgesamt 64 % der Tarifverträge die Organisation, dh die Gewerkschaft und ihre Vertrauensmänner, in den Fabriken definitiv anerkannt wurden, wobei die Aufnahme solcher Bestimmungen in die Tarifverträge infolge der Selbstverständlichkeit gewerkschaftlicher Organisation zunehmend abnahmen.* 1907 konnte bereits in 62 % der Tarifverträge eine Vereinbarung über die Arbeitsfreigabe des 1. Mai erreicht werden, was vor allem als politischer Erfolg der mit der Sozialdemokratie auf das engste verbundenen Gewerkschaftsbewegung zu werten ist.* Ohne nun auf die wenigen Bestimmungen über das Lehrlingswesen und die Frauenarbeit* sowie auf eine Fülle von Vereinbarungen über Arbeitsvermittlung, Kost und Logis, Urlaub, Zuschüsse bei Erkrankung, Leistungsklauseln, Streikrecht, Kurzarbeit und Alkoholkonsum einzugehen, sei auch in Bezug auf die gesetzlichen Initiativen „Einigungsämter“ zu errichten,* erwähnt, dass zumindest in den großen Kollektivverträgen überwiegend Schiedsgerichte, bestehend aus Vertretern der AN und AG, manchmal auch mit einem behördlichen Organ als Vorsitzendem, vereinbart, während diese in den Firmenverträgen nur selten eingerichtet wurden.

Abschließend kann resümierend für diese erste Phase der Entwicklung des Tarifvertragswesens festgestellt werden, dass es der Gewerkschaftsbewegung in einer politisch durch immer wiederkehrende Repressionen, einer überwiegend die Interessen der AG vertretenden habsburgischen Administration und einer durch konjunkturelle Schwankungen gekennzeichneten, schwierigen wirtschaftlichen Lage gelungen ist, außerhalb der Gesetze Normen zu schaffen, über die in Zukunft nicht mehr hinwegzugehen war.* So gilt auch noch heute, was Julius Deutsch prägnant über den KollV feststellte: „Alles, was er ist, ist er aber nur durch eine starke Gewerkschaftsorganisation; wo diese fehlt, bleibt er als hoffnungsloses Treibhausgewächs in seiner Entwicklung stecken.*148