Krämer
Die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrages

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2015 248 Seiten, € 89,90

MARTINRISAK (WIEN)

Kollektivverträge (oder nach bundesdeutscher Diktion: Tarifverträge) weisen als korporative Normenverträge eine rechtliche Zwitterstellung auf: Sie kommen wie Verträge zustande, gelten aber kraft gesetzlicher Anordnung (§ 3 Abs 1 ArbVG bzw § 4 [deutsches] Tarifvertragsgesetz – TVG) unabhängig vom Willen der von ihren Rechtswirkungen erfassten Personen normativ. Das Zustandekommen nach vertragsrechtlichen Regelungen legt es nahe, Argumentationsfiguren aus dem Vertragsrecht auf das Kollektivvertrags- bzw das Tarifvertragsrecht zu übertragen. Im Vertragsrecht spielt die sogenannte „Richtigkeitsgewähr“ des Vertrages in theoretischer Hinsicht eine große Rolle: Schmidt-Rimpler (Grundfragen der Erneuerung des Vertragsrechts, AcP 147 [1941] 130), dem mit Einschränkungen für Österreich insb auch F. Bydlinski (Privatautonomie und objektive Grundlage des verpflichtenden Rechtsgeschäfts [1967] 65) gefolgt ist, hat herausgearbeitet, dass der Vertrag, oder besser das Aushandeln des Vertragsinhalts, Richtigkeitsgewähr biete. Damit beantwortet er die Frage, warum die Rechtsordnung die von den Parteien vertraglich vereinbarten Rechtsfolgen ohne weitere inhaltliche Prüfung sanktionieren kann. Dem „Vertragsmechanismus“, dh dem gegenseitigen Abschleifen entgegenstehender Interessen im Verfahren der Vertragsbildung, kann demnach die ausreichende Gewähr für die Richtigkeit der vereinbarten Rechtsfolgen entnommen werden. Dabei wird zutreffend betont, dass diese Richtigkeitsgewähr nur greife, wo nach der realen Machtlage der Beteiligten eine wechselseitige Interessenbeeinflussung möglich und ein einseitiges Vertragsdiktat ausgeschlossen ist. Ist dies nicht der Fall, kann die Rechtsordnung auf zweierlei Weise darauf 151reagieren (siehe Risak, Einseitige Entgeltgestaltung im Arbeitsrecht [2008] 26): Einerseits mit dem Versuch, die Verhandlungsposition der beiden Vertragsparteien durch institutionelle Sicherungen anzunähern (zB im Arbeitsrecht durch die Ermöglichung kollektiver Rechtssetzung) oder das Verfahren von möglichen Störfaktoren freizuhalten (zB das Transparenzgebot im KonsumentInnenschutzrecht). Dieser Ansatz setzt nicht direkt am Inhalt des Vertrages an, sondern versucht den Zustand der „idealen“ Vertragsverhandlungen, dh den Vertragsmechanismus und somit dessen Richtigkeitsgewähr, wieder herzustellen. Der andere Lösungsweg hat seinen Fokus auf dem Inhalt des Vertrages. Bei der sogenannten Inhaltskontrolle wird vor allem die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung geprüft, da wegen der verdünnten Willensfreiheit kein Verlass mehr auf die Richtigkeit der subjektiven Äquivalenz besteht (zB § 879 Abs 2 Z 4, Abs 3 ABGB).

Der Zulassung des KollV bzw Tarifvertrages als bevorzugtes Regelungsinstrumentarium der Arbeitsbeziehungen liegt demnach die Idee zu Grunde, dass das auf individueller Ebene bestehende Machtungleichgewicht zwischen AN und AG, das die Richtigkeitsgewähr des individuellen Arbeitsvertrages relativiert, auf kollektiver Ebene eher ausgeglichen werden kann. Wird ein KollV bzw Tarifvertrag abgeschlossen, dann sollte dieser die Richtigkeit des Inhaltes wieder gewährleisten, was bedeutet, dass keine weitere Inhaltskontrolle mehr erfolgen muss.

Das deutsche Bundesarbeitsgericht (BAG) argumentiert seit einer Grundsatzentscheidung aus 1969 (3 AZR 400/68) in diesem Sinne damit, dass die Tarifvertragsparteien „die Vermutung für sich [haben], dass ihre Regelungen den Interessen beider Seiten gerecht werden und keiner Seite ein unzumutbares Übergewicht vermitteln.“ In späteren Entscheidungen ist von „Ausgewogenheitsgewähr“ (4 AZR 316/05) und „Angemessenheitsvermutung“ (4 AZR 64/07) die Rede. Dies dient der Begründung, Tarifverträge keiner oder nur einer großzügigen Inhaltskontrolle zu unterziehen.

Hier setzt die vorliegende Arbeit von Daniel Krämer an, die die aktualisierte Fassung seiner bei Raimund Waltermann an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- Universität Bonn verfassten und 2013 angenommenen Dissertation darstellt. Sie widmet sich der kritischen Hinterfragung und letztlich der Widerlegung der These von der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrages. Ausgangspunkt ist dabei der Versuch einer Rückführung der Richtigkeitsgewähr auf die zivilrechtlichen Grundlagen, die zum Ergebnis führt, dass das für das Vertragsrecht entwickelte Postulat nicht auf den Tarifvertrag übertragbar sei. Es fehle nämlich an den Funktionsvoraussetzungen, da tarifvertragliche Regelungen in erster Linie nicht das Verhältnis der Tarifvertragsparteien zueinander betreffen, sondern das der Arbeitsvertragsparteien, welche selbst kaum Einfluss auf die konkreten Regelungen nehmen können. Durch diese Drittbezogenheit kann – so Krämer – aus dem Einigungsprozess des Vertrags keine Aussage über die Qualität der Inhalte für die individuellen Arbeitsvertragsparteien getroffen werden. Dies wird damit begründet, dass der Tarifvertragsabschluss weder auf die Selbstbestimmung der Mitglieder zurückzuführen ist noch dass sich die Interessen der Mitglieder hinreichend im Tarifvertrag wiederfinden. Damit habe die Richtigkeitsgewähr im Bereich der Kontrolle von Tarifverträgen einen sehr beschränkten Anwendungsbereich. Eine sich daraus ergebende gegenüber der derzeitigen Praxis weitergehende Kontrolle von Tarifverträgen wird dann aber ebenfalls abgelehnt, da eine solche einen Eingriff in die Tarifautonomie darstelle und rechtfertigungspflichtig sei. Letztlich wird der weite Spielraum der Tarifvertragsparteien somit verfassungsrechtlich und nicht vertragsrechtlich begründet, dh mit einer Betonung des normativen Aspektes dieses Rechtsinstituts.

Das vorliegende Werk bietet die fundierte Aufarbeitung eines grundlegenden und theoretisch sehr anspruchsvollen Themas des deutschen Tarifvertragsrechts, das auch für Österreich von Bedeutung ist. Freilich wird hier anders argumentiert und der zivilrechtliche Charakter des KollV weniger betont. So beruft sich der OGH nicht nur auf den Verhandlungsmechanismus des KollV, sondern auch auf die Grundrechtsbindung der Kollektivvertragsparteien, um die widerlegliche Vermutung zu begründen, dass ein Eingriff in eine individuelle Rechtsposition verhältnismäßig sei (so zB OGH9 ObA 602/92

). Gerade ein vermittelnder Ansatz, der den interdisziplinären Charakter als korporativen Normenvertrag berücksichtigt und der weder den vertraglichen noch den normativen Aspekt zu sehr in den Vordergrund rückt, wird der Besonderheit des KollV am besten gerecht. Nicht zuletzt dies zeigt die hier zu besprechende Publikation, deren Lektüre viele Anregungen auch für den/die österreichische/n ArbeitsrechtlerIn bietet, in kundiger Weise auf.