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Zeitungszusteller als Dienstnehmer

ALEXANDERPADIHLA-DE BRITO
VwGH 14.10.2015, 2013/08/0226

Persönliche Abhängigkeit liegt dann nicht vor, wenn ein generelles Vertretungsrecht vorliegt. Die persönliche Arbeitspflicht fehlt auch bei einem sanktionslosen Ablehnungsrecht. Die bloße Befugnis, angebotene Beschäftigungsmöglichkeiten auszuschlagen, genügt dafür nicht. Bei einfachen manuellen oder Hilfstätigkeiten, die keinen ins Gewicht fallenden Gestaltungsspielraum der Beschäftigten erlauben, kann bei deren Eingliederung in den Betrieb ohne gegenteilige Anhaltspunkte ohne weitere Untersuchungen von einer Beschäftigung in persönlicher Abhängigkeit ausgegangen werden.

SACHVERHALT

Im Unternehmen der Partei, welche die Beschwerde führte, wurde im Rahmen einer GPLA-Prüfung festgestellt, dass zahlreiche Zeitungszusteller auf Werkvertragsbasis beschäftigt wurden. Die Arbeitsleistung wurde je nach Route und Lieferumfang pauschal abgegolten. Es gab keinen Aufwandersatz für Kfz, Treibstoff etc. Ab 1:00 Uhr konnten die Zeitungen abgeholt werden, wofür eine Zutrittskarte für das Firmengelände notwendig war. Bis spätestens 6:00 Uhr hatte die Zustellung zu erfolgen. Je nach Route dauerte die Auslieferung zwischen drei und fünf Stunden. Es erfolgte keine Zeiterfassung, es wurden keine Arbeitsaufzeichnungen geführt.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die zuständige Gebietskrankenkasse ging davon aus, dass die Zeitungszusteller ihre Tätigkeit in persönlicher Abhängigkeit verrichteten und folglich als DN iSd § 4 Abs 2 ASVG zu qualifizieren sind. Sie verpflichtete daher das Unternehmen, Beiträge für die betreffenden DN nachzuzahlen. Der dagegen erhobene Einspruch an den Landeshauptmann wurde als unbegründet abgewiesen. Der VwGH wies die Beschwerde ebenfalls ab.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Grundvoraussetzung für die Annahme persönlicher Abhängigkeit im Sinne des § 4 Abs 2 ASVG […] ist die persönliche Arbeitspflicht. Fehlt sie, dann liegt ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis […] schon deshalb nicht vor. […]

Dies ist einerseits dann der Fall, wenn dem zur Leistung Verpflichteten ein ‚generelles Vertretungsrecht‘ zukommt, wenn er also jederzeit nach Gutdünken beliebige Teile seiner Verpflichtung auf Dritte überbinden kann. Damit wird vor allem die Situation eines selbständig Erwerbstätigen in den Blick genommen, der – anders als ein letztlich nur über seine eigene Arbeitskraft disponierender (abhängig) Beschäftigter – im Rahmen seiner unternehmerischen Organisation (oft werkvertragliche) Leistungen zu erbringen hat und dabei Hilfspersonal zum Einsatz bringt oder sich eines Vertreters (Subunternehmers) bedient.

Von einer die persönliche Arbeitspflicht ausschließenden generellen Vertretungsbefugnis kann nur dann gesprochen werden, wenn der Erwerbstätige berechtigt ist, jederzeit und nach Gutdünken irgendeinen geeigneten Vertreter zur Erfüllung der von ihm übernommenen Arbeitspflicht heranzuziehen bzw ohne weitere Verständigung des Vertragspartners eine Hilfskraft beizuziehen. […]

Hinzu kommt, dass die Zeitungszusteller für die von ihnen vorgenommenen Hilfstätigkeiten letztlich nur ihre Arbeitskraft verwerten konnten. In einer Delegierung solcher Hilfstätigkeiten durch einen Erwerbstätigen, der über keine eigene unternehmerische Organisation verfügt, an einen anderen Hilfsarbeiter, wie im vorliegenden Fall, kann kein wirtschaftlich aussichtsreiches unternehmerisches Konzept erblickt werden, vor dessen Hintergrund die Ausübung der genannten Vertretungsbefugnis zu erwarten wäre. […] Zudem haben bloße Vertretungsregelungen und Mitspracherechte im Rahmen einer flexiblen Diensteinteilung bzw Dienstplanerstellung, wie sie im Arbeitsleben häufig vorkommen, […] mit dem für das Fehlen der persönlichen Arbeitspflicht herausgearbeiteten Kriterien eines ‚generellen Vertretungsrechts‘ nichts zu tun. […]

Die persönliche Arbeitspflicht fehlt andererseits auch dann, wenn einem Beschäftigten ein ‚sanktionsloses Ablehnungsrecht‘ zukommt, wenn er also die Leistung bereits übernommener Dienste98jederzeit nach Gutdünken ganz oder teilweise sanktionslos ablehnen kann. […] Die bloße Befugnis eines Erwerbstätigen, ihm angebotene Beschäftigungsmöglichkeiten auszuschlagen, berührt die persönliche Arbeitspflicht in keiner Weise, mag diese Befugnis auch als ‚sanktionsloses Ablehnungsrecht‘ (in einem weiteren Sinn) bezeichnet werden. Zwischen der sanktionslosen Ablehnung der Erbringung einzelner Leistungen, etwa bei deren Abruf im Zuge einer Rahmenvereinbarung bei verpflichtender Tätigkeit im Fall der Zusage, und einem generellen sanktionslosen Ablehnungsrecht, das die persönliche Abhängigkeit ausschließt, ist ein deutlicher Unterschied zu machen. […] Dafür, dass die Zeitungszusteller berechtigt gewesen wären, im Rahmen der übernommenen Gesamtverpflichtung – dh bei Aufrechterhaltung des Rechtsverhältnisses – sanktionslos […] abzulehnen, lagen im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte vor. […]

Hinzu kommt, dass die Befugnis, sanktionslos einzelne Arbeitsleistungen ganz oder teilweise abzulehnen, mit den objektiven Anforderungen der Unternehmensorganisation der beschwerdeführenden Partei nicht in Einklang zu bringen wäre, zumal diese einräumte, dass die Zustellungen jeweils bis spätestens 06:00 Uhr durchgeführt sein mussten. […]

Bei einfachen manuellen Tätigkeiten oder Hilfstätigkeiten – wie die Zustellung von Tageszeitungen –, die in Bezug auf die Art der Arbeitsausführung und auf die Verwertbarkeit keinen ins Gewicht fallenden Gestaltungsspielraum des Dienstnehmers erlauben, kann bei einer Integration des Beschäftigten in den Betrieb des Beschäftigers in Ermangelung gegenläufiger Anhaltspunkte das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses in persönlicher Abhängigkeit iSd § 4 Abs 2 ASVG ohne weitwendige Untersuchungen vorausgesetzt werden. […]

Ferner steht der Umstand, dass die Dienstnehmer allenfalls auch für andere Unternehmen tätig waren, der Beurteilung als abhängige unselbständige Beschäftigung iSd § 4 Abs 2 ASVG nicht entgegen.“

ERLÄUTERUNG

Die E enthält insgesamt keine wesentlichen neuen Erkenntnisse. Sie gibt aber einen guten Überblick über die in letzter Zeit ergangene Judikatur zum Thema „Umqualifizierung“ von Werkvertragsverhältnissen zu Dienstverträgen iSd § 4 Abs 2 ASVG. Zur Frage der Richtigkeit des Vertrages und zum Abweichen der „wahren Verhältnisse“ erfolgt der Hinweis auf das VwGH-Erk vom 16.3.2011, 2007/08/0153 (Vermittlung von Versicherungen und Kundenbetreuung). Zur persönlichen Abhängigkeit wurde ua bereits in der VwGH-E vom 15.7.2013, 2013/08/0124 (Fitnesstrainer), Stellung genommen; zur Frage der freien Vertretungsmöglichkeit in der VwGH-E vom 26.8.2014, 2012/08/0100 (Fluglehrer), und in der VwGH-E vom 24.4.2014, 2013/08/0258 (Aufstellen und Einsammeln von Zeitungsständern). Die letztgenannte E behandelt auch die Bedeutung der Unternehmensorganisation für die Beurteilung der Frage der sanktionslosen Ablehnung einzelner Arbeitsleistungen. Dass bei einfachen manuellen Tätigkeiten ohne weitere weitwendige Untersuchungen von einem Beschäftigungsverhältnis gem § 4 Abs 2 ASVG ausgegangen werden kann, wurde ebenfalls bereits mit VwGH-Erk vom 3.10.2013, 2013/08/0162 (Gipsplattenverspachtler), entschieden.

Darüber hinaus hat VwGH auch zur Sozialversicherungspflicht der ZeitungskolporteurInnen und ZustellerInnen bereits mehrmals Stellung genommen (ua VwGH 19.10.2005, 2004/08/0082; VwGH 24.4.2014, 2013/08/0258). Verwunderlich ist daher die Beharrlichkeit, mit der dieselbe Fragestellung immer wieder an den VwGH herangetragen wird.