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Versehrtengeld: „Abschluss der Heilbehandlung“ mit erstmaligem Behandlungsende

SUSANNEAUER-MAYER

Versehrtengeld gebührt gem § 212 Abs 3 ASVG nur, wenn auch nach Abschluss der Heilbehandlung eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 % besteht. Unter dem „Abschluss der Heilbehandlung“ ist das erstmalige Behandlungsende zu verstehen. Gelegentlich notwendige Kontrollen wegen einer in Zukunft möglichen unfallkausalen Verschlechterung des Gesundheitszustandes schieben den Beurteilungszeitpunkt nicht hinaus.

SACHVERHALT

Der Kl erlitt am 6.5.2013 als Schüler beim Fußballspielen eine Prellung des linken Auges, wodurch es zu einer Glaskörperblutung und einer Beschädigung im Augenhintergrund kam. Er war daraufhin vom 26.6. bis 1.7.2013 und vom 14.7. bis 17.7.2013 in stationärer Behandlung. Nach Maßgabe einer am 23.10.2013 durchgeführten Untersuchung bestand eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von rund 10 %. Seit Jänner 2014 lag aufgrund einer unfallkausalen Verschlechterung eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % vor. Wegen der Gefahr einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustands waren weiterhin regelmäßige Kontrollen erforderlich. Der Kl begehrte die Gewährung eines Versehrtengeldes nach § 212 Abs 3 ASVG. Die bekl AUVA erkannte den Unfall zwar als Arbeitsunfall an, lehnte aber die Gewährung des Versehrtengeldes ab, da nach Abschluss der Heilbehandlung keine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 % vorgelegen sei.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Erstgericht wies das Klagebegehren mit der Begründung ab, dass beim Kl aufgrund der erforderlichen Kontrollen die Heilbehandlung noch nicht abgeschlossen sei. Das Berufungsgericht folgte dieser Auffassung nicht. Da sowohl Feststellungen des Erstgerichts zum Bestehen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 % über drei Monate nach Eintritt des Versicherungsfalles, als auch solche zum Zeitpunkt des Abschlusses der Heilbehandlung fehlten, hob es das Ersturteil auf. Der OGH schloss sich der Rechtsansicht des Berufungsgerichts an und gab dem Rekurs der Bekl nicht Folge.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…] 2. Ein Versehrtengeld nach § 212 Abs 3 ASVG gebührt daher nach zutreffender Rechtsansicht des Berufungsgerichts nur unter der Voraussetzung, dass die Folgen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalls hinaus eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 vH verursachen und eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in einem Ausmaß von mindestens 20 vH beim Versicherten auch nach Abschluss der Heilbehandlung noch vorliegt. Die beiden genannten Anspruchsvo-101raussetzungen müssen kumulativ vorliegen.

3. Der Versicherungsfall gilt bei Arbeitsunfällen mit dem Unfallereignis als eingetreten (§ 174 Z 1 ASVG). Die erste Tatbestandsvoraussetzung für einen Zuspruch von Versehrtengeld an den Kläger wäre daher nach zutreffender Rechtsansicht des Berufungsgerichts nur dann erfüllt, wenn die Folgen des Arbeitsunfalls des Klägers vom 6.5.2013 über einen Zeitraum von drei Monaten nach dem Unfallereignis hinaus eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von mindestens 20 vH verursachen. […]

Nach ebenfalls zutreffender Rechtsansicht des Berufungsgerichts handelt es sich bei der Frage, wann der ‚Abschluss der Heilbehandlung‘ iSd § 212 Abs 3 ASVG vorliegt, um eine Rechtsfrage, die ausgehend von den Tatsachenfeststellungen über die beim Versicherten aus medizinischer Sicht notwendige und zweckmäßige Unfallheilbehandlung zu beurteilen ist. Unter den Begriff der ‚Heilbehandlung‘ iSd § 212 Abs 3 ASVG ist die ‚Unfallheilbehandlung‘ iSd §§ 189 ff ASVG zu verstehen. […]

4.2 Die Unfallheilbehandlung wird gemäß § 190 ASVG so lange und so oft gewährt, als eine Besserung der Folgen des Arbeitsunfalls bzw der Berufskrankheit oder eine Steigerung der Erwerbsfähigkeit zu erwarten ist oder Heilmaßnahmen erforderlich sind, um eine Verschlimmerung zu verhüten. Dies bedeutet, dass die Dauer der Unfallheilbehandlung keinerlei zeitlichen Beschränkungen unterworfen und ausschließlich an den definierten Zielen der Heilbehandlung orientiert ist (Windisch-Graetz in SV-Komm § 190 ASVG Rz 1). Unfallheilbehandlung ist somit in einer Weise und so oft zu gewähren, dass ihre Ziele tunlichst erreicht werden (Tomandl in

Tomandl
, SV-System 13. Erg-Lfg 321).

4.3 Auch wenn daher weitere Behandlungen, die aufgrund einer Verschlechterung des Gesundheitszustands des Versicherten erforderlich sind, als Heilbehandlungen im Rahmen der ‚Unfallheilbehandlung‘ zu qualifizieren sind, kann nach zutreffender Rechtsansicht der beklagten Partei im Hinblick auf die Gewährung eines Versehrtengeldes als einmalige Geldleistung von einem ‚Abschluss der Heilbehandlung‘ iSd § 212 Abs 3 ASVG jedenfalls dann gesprochen werden, wenn zu einem gewissen Zeitpunkt nach Einschätzung der behandelnden Ärzte die Folgen des Arbeitsunfalls beseitigt bzw jedenfalls verbessert wurden oder eine Verschlimmerung der Unfallfolgen verhindert wurde und es in weiterer Folge lediglich zu Kontrollen kommen soll. Unter ‚Abschluss der Heilbehandlung‘ ist somit das tatsächliche Behandlungsende zu verstehen. Bloß gelegentliche Kontrollen des Gesundheitszustands des Versicherten stellen entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts keine Heilbehandlung mehr dar. Der Abschluss der Unfallheilbehandlung kann nach zutreffender Rechtsansicht des Berufungsgerichts auch nicht mit der Begründung verneint werden, dass in der Zukunft eine unfallkausale Verschlechterung der Gesundheitsstörung oder Körperbeschädigung des Versicherten denkbar oder möglich sei. […]“

ERLÄUTERUNG

Gem § 8 Abs 1 Z 3 lit h ASVG sind SchülerInnen in der UV teilversichert und haben daher im Falle eines Unfalls im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Schulausbildung (vgl § 175 Abs 4 ASVG) Anspruch auf Unfallversicherungsleistungen. Verursachen die Folgen eines Schülerunfalls über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalls hinaus eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 %, aber unter 50 %, steht zwar keine Versehrtenrente zu (vgl § 203 Abs 2 ASVG); es ist allerdings gem § 212 Abs 3 ASVG die einmalige Leistung eines Versehrtengeldes vorgesehen. Letzteres wird in Abhängigkeit vom Grad der nach Abschluss der Heilbehandlung bestehenden Minderung der Erwerbsfähigkeit mit einem bestimmten Fixbetrag festgelegt. Für die erste Stufe einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % bis unter 30 % sind dies etwas über € 680,-. Voraussetzung eines Anspruchs auf Versehrtengeld ist daher 1. eine über drei Monate nach Eintritt des Unfalls hinaus bestehende (unfallkausale) Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 % und – kumulativ dazu – 2. das Vorliegen einer entsprechend hohen Minderung der Erwerbsfähigkeit auch nach dem ( allenfalls späteren) Abschluss der Heilbehandlung (idS auch schon OGH10 ObS 23/08tSSV-NF 22/18).

In der vorliegenden E musste der OGH erstmals zur Frage Stellung nehmen, wann ein „Abschluss der Heilbehandlung“ iSd § 212 Abs 3 ASVG vorliegt. Diesbezüglich stellte er zunächst klar, dass auf die „Unfallheilbehandlung“ iSd §§ 189 ff ASVG abzustellen ist. Deren Dauer ist zeitlich nicht begrenzt, solange und so oft noch mit einer günstigen Beeinflussung des Leidens – auch iSd bloßen Vermeidung einer Verschlimmerung – zu rechnen ist (vgl § 190 ASVG). Unfallheilbehandlung kann damit nicht nur über einen längeren Zeitraum, sondern auch mehrmals hintereinander (arg: „so oft“) gewährt werden. Angesichts des einmaligen Charakters des Versehrtengeldes ist jedoch für den „Abschluss der Heilbehandlung“ iSd § 212 Abs 3 ASVG auf jenen Zeitpunkt abzustellen, zu dem die Behandlung aus Sicht der behandelnden Ärzte erstmals abgeschlossen ist. Die (bloße) Möglichkeit einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes in der Zukunft und dadurch bedingte regelmäßige Kontrollen hindern somit den Zuspruch von Versehrtengeld nicht.102

Der OGH geht dabei offenkundig davon aus, dass die auch bei Abschluss der Heilbehandlung erforderliche Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 % entweder (seit dem Unfalleintritt) noch oder auch wieder vorliegen muss. Andernfalls wäre die erst im Jänner (wieder) vorliegende Minderung der Erwerbsfähigkeit von Vornherein irrelevant gewesen, da der Kl im Oktober des Vorjahres nur eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von rund 10 % aufgewiesen hatte. Versehrtengeld gebührt demnach, wenn ab Eintritt des Unfalls über drei Monate eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 % gegeben ist und eine solche auch bei (zumindest vorläufigem) Abschluss der Heilbehandlung noch oder wieder vorliegt. Ein vorübergehendes (!) Absinken der Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem genannten Dreimonatszeitraum, aber vor dem erstmaligen Behandlungsabschluss, schadet somit nach Ansicht des OGH offenbar nicht. Ebenso wenig schließt es aber einen Anspruch auf Versehrtengeld aus, wenn die Minderung der Erwerbsfähigkeit aufgrund später (doch) erneut gesetzter Behandlungsmaßnahmen – auch dauerhaft – auf unter 10 % herabsinkt.