72Arbeitstraining und Beschäftigungstherapie als Rehabilitationsmaßnahme?
Arbeitstraining und Beschäftigungstherapie als Rehabilitationsmaßnahme?
Für eine Versicherte ohne Berufsschutz besteht kein Rechtsanspruch gegenüber der Pensionsversicherung auf Gewährung von Arbeitstraining und Beschäftigungstherapie.
Die 1980 geborene Kl hat keinen Beruf erlernt und in unregelmäßigen Abständen als Küchenhilfe gearbeitet. Seit acht Jahren ist sie in einer geschützten Einrichtung – es handelt sich um eine Filzwerkstatt – im Rahmen einer Tagesstruktur beschäftigt, wo die Kl Produkte aus Schafwolle herstellt. Die Kl leidet an massiven psychischen Problemen und ist nicht in der Lage, die Anforderungen am ersten Arbeitsmarkt zu bewältigen. Durch die Fortsetzung des bisherigen Arbeitstrainings und der Beschäftigungstherapie kann sich der psychische Zustand der Kl verbessern; es ist nicht ausgeschlossen, dass bei geänderten Rahmenbedingungen eine Tätigkeit am ersten Arbeitsmarkt möglich wird. Die Kl bezieht eine befristete Invaliditätspension.
Der Antrag auf Weitergewährung der von 2007 bis 31.3.2014 gewährten befristeten Invaliditätspension wurde von der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) abgelehnt. Es liege keine dauernde Invalidität vor. Es liege aber vorübergehende Invalidität vor, weshalb als Maßnahme der medizinischen Rehabilitation der Verlauf weiterer Therapien abzuwarten sei und Anspruch auf Rehabilitationsgeld bestehe. Die Kl klagte auf Weitergewährung der befristen Invaliditätspension; in eventu auf Gewährung von Maßnahmen der medizinischen, beruflichen und sozialen Rehabilitation durch Fortsetzung des bisherigen Arbeitstrainings und der Beschäftigungstherapie.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren vollinhaltlich statt. Es liege eine Maßnahme der ambulanten medizinischen Rehabilitation vor. Das Berufungsgericht änderte über Berufung der PVA das Urteil dahingehend ab, dass weder ein Anspruch auf befristete Invaliditätspension noch auf Gewährung von Maßnahmen der medizinischen, beruflichen oder sozialen Rehabilitation insb auf Fortsetzung des bisherigen Arbeitstrainings und der Beschäftigungstherapie bestehe.
Der OGH bestätigte die Rechtsansicht des Berufungsgerichts. Die Kl habe keinen Rechtsanspruch gegenüber dem bekl Pensionsversicherungsträger auf Fortsetzung des bisherigen Arbeitstrainings und der Beschäftigungstherapie als Maßnahme der beruflichen Rehabilitation.
„Für Versicherte im Anwendungsbereich des SRÄG 2012 besteht ein Anspruch auf Invaliditätspension – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen – nur mehr dann, wenn Invalidität (§ 255 ASVG) aufgrund des körperlichen oder geistigen Zustands voraussichtlich dauerhaft vorliegt (§ 254 Abs 1 Z 1 ASVG idF SRÄG 2012) und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig (§ 303 Abs 3 ASVG) oder nicht zumutbar (§ 303 Abs 4 ASVG) sind (§ 254 Abs 1 Z 2 ASVG idF SRÄG 2012). Auf diese Maßnahme der beruflichen Rehabilitation besteht jedoch kein Rechtsanspruch, weil die einen Rechtsanspruch auf berufliche Rehabilitation beinhaltende Bestimmung des § 253e ASVG für diese Versichertengruppe nicht mehr gilt (§ 669 Abs 2 und 5 ASVG). Diese Maßnahmen werden nunmehr als Ermessensleistungen nach § 303 ASVG erbracht. […]103
Personen, für die bescheidmäßig festgestellt wurde, dass vorübergehende Invalidität im Sinne des § 255 Abs 1 und 2 oder 3 ASVG im Ausmaß von zumindest sechs Monaten vorliegt, haben gemäß § 253f Abs 1 ASVG Anspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation (§ 302 Abs 1 ASVG), wenn dies zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit notwendig und infolge des Gesundheitszustands zweckmäßig ist. Die Maßnahmen müssen ausreichend und zweckmäßig sein, dürfen jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Sie sind vom Pensionsversicherungsträger unter Berücksichtigung des Gesundheitszustands und der Zumutbarkeit für die versicherte Person zu erbringen (§ 253f Abs 2 ASVG). […] Der Rechtsanspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation gemäß § 253f ASVG besteht auch für Versicherte ohne Berufsschutz. […]
Ein Rechtsanspruch auf berufliche Rehabilitation und damit verbunden auf Umschulungsgeld durch das Arbeitsmarktservice besteht allerdings nur bei den sogenannten gemäß § 255 Abs 1 und 2 (bzw § 273 Abs 1) ASVG ‚berufsgeschützten‘ Tätigkeiten. […] Besteht daher – wie im vorliegenden Fall – kein Berufsschutz, so hat der Versicherte zwar einen Rechtsanspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation gemäß § 253f ASVG gegen den Pensionsversicherungsträger und auf Rehabilitationsgeld gemäß § 143a ASVG gegen den Krankenversicherungsträger, aber keinen Anspruch auf berufliche Rehabilitation durch das Arbeitsmarktservice sowie auf Zahlung von Umschulungsgeld gemäß § 39b AlVG. Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation sind daher nach der Rechtslage nach dem SRÄG 2012 wieder eine Pflichtaufgabe der Pensionsversicherung im Sinne der §§ 300 ff ASVG und nach § 303 Abs 1 ASVG nach pflichtgemäßem Ermessen zu gewähren. […]
Strittig ist allein noch die Frage, ob die Klägerin darüber hinaus auch einen Anspruch auf Gewährung von Maßnahmen der medizinischen, beruflichen oder sozialen Rehabilitation in Form des (bisherigen) Arbeitstrainings bzw der (bisherigen) Beschäftigungstherapie durch den beklagten Pensionsversicherungsträger hat. […]
Soweit die Klägerin das begehrte Arbeitstraining bzw die begehrte Beschäftigungstherapie als Maßnahme der sozialen Rehabilitation aus der Pensionsversicherung beansprucht, steht diesem Begehren schon die Unzulässigkeit des Rechtswegs entgegen. Eine Klage darf unter anderem in einer Leistungssache nach § 65 Abs 1 Z 1 ASGG vom Versicherten nur erhoben werden, wenn der Versicherungsträger darüber bereits mit Bescheid entschieden hat. […] Von der ‚Antragsfiktion‘ des § 361 Abs 1 letzter Satz ASVG idF BGBl I 2015/2 sind lediglich Leistungen von medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation und des Rehabilitationsgeldes sowie die Feststellung umfasst, ob berufliche Maßnahmen der Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar sind; nicht umfasst sind Maßnahmen der sozialen Rehabilitation im Sinn des § 304 ASVG. […]
Während die medizinische Akutversorgung Behandlungsmaßnahmen umfasst, die schwerpunktmäßig von Ärzten erbracht werden, handelt es sich […] bei Rehabilitationsmaßnahmen um medizinische Leistungen, die auch in der Verantwortung von Ärzten, praktisch jedoch schwerpunktmäßig von anderen Berufsgruppen erbracht werden. […] Bei der stationären Rehabilitation erfolgt eine Aufnahme in einer spezialisierten Einrichtung während der gesamten Behandlungsdauer. Die ambulante medizinische Rehabilitation wurde erst mit dem durch das BudgetbegleitG 2011 (BGBl I 2010/111) eingeführten § 302 Abs 1 Z 1a ASVG ausdrücklich in den Leistungskatalog der Pensionsversicherung aufgenommen. [...]
Zutreffend hat bereits das Berufungsgericht darauf hingewiesen, dass es sich bei der Tätigkeit der Klägerin im Rahmen der Tagesstruktur von ‚p*****‘ in einer Filzwerkstatt, wo sie verschiedene Produkte aus Schafwolle herstellt, nicht um eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme im Sinne des § 302 ASVG – und auch nicht um eine unter der Verantwortung von Ärzten ambulant erbrachte medizinische Maßnahme im Sinn des § 302 Abs 1 Z 1a ASVG – handelt. […]
Bei der Beschäftigungstherapie der Klägerin handelt es sich um eine fähigkeitsorientierte Aktivität in einer Einrichtung zur Arbeitsorientierung, Entwicklungsorientierung oder Tagesstrukturierung, um Menschen mit Beeinträchtigungen, die keiner Arbeit nachgehen können, eine sinnvolle Beschäftigung zu bieten. Es handelt sich dabei um eine berufliche Rehabilitationsmaßnahme im Sinn des § 303 ASVG. […] Als berufliche Maßnahmen der Rehabilitation kommen insbesondere Berufsfindungsmaßnahmen, Arbeitstrainingsmaßnahmen, Ein-, Um- und Nachschulungen, Lehr- oder Schulausbildungen udgl in Betracht. […]
Die Klägerin hat einen Antrag auf (Weiter-)Gewährung der (befristeten) Invaliditätspension gestellt. Ihr Antrag war gemäß der ‚Antragsfiktion‘ des § 361 Abs 1 letzter Satz ASVG idF BGBl I 2015/2 unter anderem auch auf die Feststellung gerichtet, ob berufliche Maßnahmen der Rehabilitation zweckmäßig und zumutbar sind. Es wurde aber bereits darauf hingewiesen, dass die Klägerin im Zusammenhang mit ihrem Pensionsantrag einen Rechtsanspruch auf Gewährung beruflicher Maßnahmen der Rehabilitation durch das Arbeitsmarktservice im Hinblick auf den fehlenden Berufsschutz nicht mit Erfolg geltend machen kann. Es wurde ebenfalls bereits ausgeführt, dass für Versicherte, die – wie die Klägerin – ab dem 1. 1. 1964 geboren wurden, nach der Aufhebung der Bestimmung des § 253e ASVG durch das SRÄG 2012 auch kein Rechtsanspruch auf Gewährung von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nach dem ASVG mehr104besteht, sondern die entsprechenden Leistungen vom Arbeitsmarktservice im Rahmen des Case-Managements erbracht werden. […] Es besteht daher […] auch kein Rechtsanspruch der Klägerin gegenüber dem beklagten Pensionsversicherungsträger auf Fortsetzung des bisherigen Arbeitstrainings und der Beschäftigungstherapie als Maßnahme der beruflichen Rehabilitation.“
Die vorliegende E stellt eine weitere Grundsatzentscheidung zur Rechtslage nach dem SRÄG 2012 dar. Eine Versicherte mit schweren gesundheitlichen Einschränkungen, die bereits seit 1.5.2007 eine (mehrfach) befristete Invaliditätspension bezog, ist weiterhin arbeitsunfähig. Eine Verbesserung ihres Gesundheitszustandes und des Leistungskalküls – und damit eine Arbeitsfähigkeit auf dem normalen Arbeitsmarkt – ist „nicht auszuschließen“. Insb die Fortsetzung des Arbeitstrainings und der Beschäftigungstherapie kann den Zustand verbessern. Der OGH hat daraus freilich keine rechtlichen Schlüsse gezogen. Im Hinblick auf die Ausführlichkeit der E ist dies durchaus verwunderlich. Denn zuletzt hat sich der OGH mehrmals zu der Frage geäußert, welche Rechtsfolgen die Wahrscheinlichkeit der Besserung des Gesundheitszustandes haben kann (OGH 30.7.2015, 10 ObS 40/15b; OGH 2.9.2015, 10 ObS 89/15h; OGH 22.10.2015, 10 ObS 102/15w ua).
Das Arbeitstraining und die Beschäftigungstherapie sind nicht von der PVA zu gewähren: Auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation gegenüber der PV besteht Rechtsanspruch auch für Versicherte ohne Berufsschutz (§ 253f ASVG). Die im vorliegenden Fall zur Beurteilung stehenden Leistungen sind laut OGH keine medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation iSd § 302 ASVG (ua Unterbringung in Krankenanstalten, die der Rehabilitation dienen; Gewährung von diversen Hilfsmitteln und Heilmitteln). Diesbezüglich ist dem OGH zuzustimmen, wenngleich sich aus den Feststellungen nicht völlig klar erkennen lässt, welche konkreten Maßnahmen der Kl im Rahmen der Therapien gewährt werden.
Der OGH stellt weiters fest, dass es sich bei der Beschäftigungstherapie um eine berufliche Rehabilitationsmaßnahme iSd § 303 ASVG handelt. Ein Rechtsanspruch auf diese Leistung besteht für die Kl nicht, weil sie über keinen „Berufsschutz“ verfügt und ohnehin auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden kann. Der Verweis auf die Aufhebung von § 253e ASVG mit 31.12.2013 für Versicherte ab Jahrgang 1964 ist aber überschießend, weil die Kl auch nach § 253e ASVG keinen Anspruch gehabt hätte, da sie nicht über die erforderlichen Monate einer qualifizierten Berufsausübung verfügt.
Die Möglichkeit der Gewährung als soziale Maßnahme der Rehabilitation wird aus prozessualen Gründen abgelehnt, weil darüber nicht mit Bescheid abgesprochen wurde und somit die Klage unzulässig gem § 67 Abs 1 Z 1 ASGG ist. Dazu ist mA Folgendes zu ergänzen: Soziale Maßnahmen der Rehabilitation sind nur nach pflichtgemäßem Ermessen zu gewähren, dh es besteht kein Rechtsanspruch. Sie umfassen nach § 304 ASVG solche Leistungen, die über die medizinischen und beruflichen Maßnahmen hinausgehen und geeignet sind, dazu beizutragen, das Rehabilitationsziel zu erreichen und zu sichern. In Frage kommen etwa Darlehen zur Adaptierung des Wohnraums, Zuschüsse zu den Kosten der Erlangung der Lenkerberechtigung oder die Übernahme von Transportkosten zum Arbeitsplatz (§ 304 ASVG iVm § 201 ASVG). Die Beurteilung des Arbeitstrainings und der Beschäftigungstherapie als soziale Maßnahme der Rehabilitation erscheint somit ebenfalls nicht möglich.