78Anwendung der neuen Rechtslage bei Erhöhung des Pflegebedarfs während eines anhängigen Verfahrens
Anwendung der neuen Rechtslage bei Erhöhung des Pflegebedarfs während eines anhängigen Verfahrens
§ 48f Abs 1 und Abs 3 BPGG sind so auszulegen, dass sich in einem zum 1.1.2015 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen (Gerichts-) Verfahren eine erst nach dem 1.1.2015 eingetretene Verschlechterung des Gesundheitszustands und die daraus resultierende Veränderung (Erhöhung) im Ausmaß des Pflegebedarfs nach der ab dem 1.1.2015 geltenden („neuen“) Rechtslage richtet.
Mit Bescheid vom 24.11.2014 wurde dem Kl aufgrund seines Antrags vom 9.10.2014 Pflegegeld der Stufe 1 ab 1.11.2014 zuerkannt, weil der durchschnittliche monatliche Pflegebedarf 84 Stunden betrage. Der Kl klagte jedoch auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes, da sich im Hinblick auf eine im Februar 2015 eingetretene Verschlechterung des Gesundheitszustands sein Pflegebedarf ab 1.3.2015 auf insgesamt 94 Stunden monatlich erhöht habe. Nach der Rechtslage vor dem 1.1.2015 hätte ein Pflegebedarf von 94 Stunden einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 2 begründet. Seit dem 1.1.2015 bedarf es dafür nunmehr eines Pflegebedarfs von mehr als 95 Stunden.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes für den Zeitraum von 1.11.2014 bis 28.2.2015 ab, weil der Pflegebedarf 84 Stunden betrage. Im Hinblick auf die im Februar eingetretene Verschlechterung des Zustands hat sich der Pflegebedarf auf 94 Stunden monatlich erhöht. Da jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits die neue Rechtslage anzuwenden sei, die für das Erreichen der Pflegegeldstufe 2 mehr als 95 Stunden (statt bisher 85 Stunden) Pflegebedarf erfordere, besteht auch ab diesem Zeitpunkt nur Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 1. Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge; die im Februar eingetretene Verschlechterung des Gesundheitszustands löse einen neuen Stichtag aus und sei daher nach der neuen Rechtslage zu beurteilen. Die im Hinblick auf die Auslegung der Übergangsbestimmung des § 48f BPGG zulässige Revision des Kl ist nach Auffassung des OGH nicht berechtigt.
„Mit der Novelle zum BPGG BGBl I 2015/12BGBl I 2015/12 wurden die Anspruchsvoraussetzungen für Pflegegeld der Stufe 1 und 2 neuerlich verschärft. […]
Entsprechend der Übergangsbestimmung des § 48f Abs 1 BPGG sind in allen am 1.1.2015 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren auf Zuerkennung oder Erhöhung des Pflegegeldes die bis zum 31.12.2014 jeweils für die Beurteilung des Anspruchs geltenden Bestimmungen dieses Bundesgesetzes zu Grunde zu legen. Eine Minderung oder Entziehung eines rechtskräftig zuerkannten Pflegegeldanspruchs wegen der gesetzlichen Änderung der Anspruchsvoraussetzungen gemäß § 4 Abs 2 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl I 2015/12BGBl I 2015/12 ist nur dann zulässig, wenn auch eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs eingetreten ist. Eine Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs ist wesentlich, wenn diese so ein Ausmaß erreicht, dass auch nach der Rechtslage zum 31.12.2014 eine Minderung oder Entziehung zulässig wäre. […] Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass nach den Übergangsbestimmungen zu beurteilen ist, ob eine Gesetzesänderung für ein laufendes Verfahren zu beachten ist (RIS-Justiz RS0031419). […]
Von der Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen durch die Novelle zum BPGG BGBl I 2015/12BGBl I 2015/12 sind nur Pflegebedürftige betroffen, die einen Antrag auf Erstgewährung oder Erhöhung (von Stufe 1 auf Stufe 2) ab dem 1.1.2015 stellen (‚Neufälle‘). Für Personen, die ihre Anträge bis zum 31.12.2014 gestellt haben, ändert sich hingegen nichts (‚Altfälle‘); ihre Verfahren sind – auch über den 1.1.2015 hinaus – auf Basis der bisherigen Rechtslage zu Ende zu führen. […]
Im vorliegenden Fall ist aber während eines zum 1.1.2015 noch anhängigen Verfahrens im Februar 2015 eine Verschlechterung des Gesundheitszustands und eine daraus folgende Erhöhung des Pflegebedarfs eingetreten. […]
Es trifft zu, dass sich in der Pensionsversicherung die Beurteilung, ob der Versicherungsfall eingetreten ist und auch die anderen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind sowie in welchem Zweig der Pensionsversicherung und in welchem Ausmaß eine Leistung gebührt, nach den Verhältnissen am Stichtag (§ 223 Abs 1 ASVG)110richtet. […] Tritt aber während des Gerichtsverfahrens eine Rechtsänderung, eine Änderung des Gesundheitszustands des Versicherten oder eine sonstige Änderung der Anspruchsvoraussetzungen (etwa auch das Erreichen eines bestimmten Lebensalters) ein, ist die sich daraus ergebende Änderung in der Entscheidung zu berücksichtigen, wenn dies zur Anwendung geänderter Voraussetzungen für den Anspruch auf die begehrte Leistung führt. Es wird durch diese Änderungen, sofern sie für den erhobenen Anspruch von Bedeutung sind, ein neuer Stichtag ausgelöst und die Anspruchsvoraussetzungen sind zu diesem neuen Stichtag zu prüfen. […]
Auch im BPGG wird mit dem Einlangen des Antrags auf Erstgewährung oder Erhöhung des Pflegegeldes der sogenannte Stichtag festgelegt. Das (höhere) Pflegegeld gebührt mit dem der Antragstellung folgenden Monatsersten (§ 9 Abs 1 BPGG). […]
Eine Einschränkung dahingehend, dass die bis zum 31.12.2014 geltende Rechtslage auf etwaige während des Verfahrens nach dem 1.1.2015 eintretende Verschlechterungen des Gesundheitszustands und auf eine daraus folgende Erhöhung des Pflegebedarfs nicht anwendbar sein sollte, lässt sich aus dem Wortlaut des § 48f Abs 1 BPGG zwar nicht entnehmen. Wollte man aber die Ansicht vertreten, es komme auch in diesen Fällen für den Übergang von der ‚alten‘ auf die ‚neue‘ Rechtslage allein auf den Zeitpunkt des rechtskräftigen Abschlusses des (gerichtlichen) Pflegegeldverfahrens an, würde die Perpetuierung der alten Rechtslage im Ergebnis dazu führen, dass der Kläger, der an sich eine materiell nicht berechtigte Klage gegen den Bescheid des Versicherungsträgers eingebracht hat, allein durch die Einbringung der Klage und die damit verbundene Verlängerung des Verfahrens über den 1.1.2015 hinaus weiterhin von der für ihn günstigen ‚alten‘ Rechtslage profitieren würde. Hätte er hingegen den Bescheid der Beklagten als zutreffend akzeptiert und keine Klage dagegen erhoben und hätte er dann im Hinblick auf die Verschlechterung seines Gesundheitszustands im Februar 2015 einen Erhöhungsantrag gestellt, hätten für diesen Antrag unzweifelhaft bereits die ab 1.1.2015 höheren Bedarfsgrenzen gegolten. Die Auslegung, es komme für den Übergang von der ‚alten‘ auf die ‚neue‘ Rechtslage allein auf den Zeitpunkt des rechtskräftigen Abschlusses des ( gerichtlichen) Pflegegeldverfahrens an, würde daher zu einem sachlich nicht begründbaren Ergebnis führen. Die Übergangsbestimmung des § 48f Abs 1 und 3 BPGG ist daher zusammenfassend dahin auszulegen, dass sich in einem zum 1.1.2015 noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Gerichtsverfahren eine erst nach dem 1.1.2015 eingetretene Verschlechterung des Gesundheitszustands und die daraus resultierende Veränderung (Erhöhung) im Ausmaß des Pflegebedarfs nach der ab dem 1.1.2015 geltenden (‚neuen‘) Rechtslage richtet.“
Mit dem Budgetbegleitgesetz 2011 (BGBl 2010/111BGBl 2010/111) wurden die Anspruchsvoraussetzungen der Pflegegeldstufen 1 und 2 ab 1.1.2011 strenger geregelt. Mit der hier auszulegenden Novelle des Bundespflegegeldgesetzes (BGBl 2015/12BGBl 2015/12) folgte bereits die nächste Verschärfung ab 1.1.2015: In der Pflegegeldstufe 1 ist ein Pflegebedarf von mehr als 65 Stunden monatlich (statt bisher 60) und in der Pflegestufe 2 von mehr als 95 (statt bisher 85) Stunden monatlich erforderlich. In den Materialien wird die Änderung der Zugangskriterien mit „budgetbegleitenden Maßnahmen“ begründet. In bestehende Ansprüche wird „wegen des besonders schutzwürdigen Personenkreises“ nicht eingegriffen; das Übergangsrecht ist jeweils so ausgestaltet, dass allein aufgrund der gesetzlichen Änderung keine Entziehung oder Herabsetzung des Pflegegeldes erfolgen kann. Nach der Judikatur kann eine wesentliche Veränderung im Ausmaß des Pflegebedarfs, der zu einer Herabsetzung oder Entziehung führen kann, nur dann angenommen werden, wenn diese Veränderung auch nach der alten Rechtslage zur Herabsetzung oder Entziehung berechtigt hätte (OGH 12.9.2013, 10 ObS 108/13z; OGH 28.1.2014, 10 ObS 184/13a).
Im hier vorliegenden Fall ist aber nicht eine Verbesserung des Gesundheitszustandes – und damit eine Herabsetzung des Pflegegeldes – zur Diskussion gestanden, sondern im Gegenteil dazu eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes und damit ein höherer Pflegebedarf eingetreten; dies noch dazu während des anhängigen Verfahrens.
Der OGH hält fest, dass die Übergangsbestimmung des § 48f BPGG dafür keine ausdrückliche Regelung enthält, sondern – ganz im Gegenteil – eine Einschränkung, dass die „alte“ Rechtslage auf während des Verfahrens eintretende Verschlechterungen nicht anwendbar sein sollte, dem Wortlaut nicht zu entnehmen sei. Dennoch gelangt der OGH zum Ergebnis, dass die „neue“ Rechtslage angewendet werden muss. Weiters argumentiert der OGH, dass mit der vorgenommenen Auslegung, ein „früherer Eintritt der Harmonisierung der alten mit der neuen Rechtslage verbunden ist, was im Sinn einer Gleichbehandlung der Versicherten gerechtfertigt erscheint“. Dies steht in einem gewissen Widerspruch zur Bedeutung von Übergangsbestimmungen im Sozialrecht, wonach der Gesetzgeber für bestimmte als schutzwürdig erachtete Personen das alte Recht für weiter anwendbar erklärt.111