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Einkommensabhängiges Kinderbetreuungsgeld bei Erwerbstätigkeit in anderem EU-Staat

MARTINATHOMASBERGER
§ 24 Abs 2 KBGG; Art 1 lit a, lit f und lit z, Art 67 und 68 VO (EG) 883/2004

Die Beschränkung der Anspruchsvoraussetzung in § 24 Abs 2 KBGG auf eine lediglich in Österreich und nicht auch in einem anderen Mitgliedstaat der EU ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ist als unionsrechtswidrig zu qualifizieren und daher unbeachtet zu lassen.

SACHVERHALT

Der Kl lebt mit seiner Familie im gemeinsamen Haushalt in Österreich. Er übt seit 1999 in Deutschland eine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aus. Im März 2013 wurde sein Kind geboren. Seine Frau hatte aus eigener Beschäftigung in Österreich Anspruch auf Wochengeld. Anschließend beantragte sie das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld (ea KBG) in Österreich. Der Kl nahm 2013 zwei Monate (deutsche) Elternzeit in Anspruch und beantragte bei der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse (OÖGKK) das ea KBG für diesen Zeitraum. Die OÖGKK lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass der Kl in den letzten sechs Kalendermonaten vor der Geburt des Kindes in Österreich keine sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ausgeübt habe. Gegen diesen Bescheid wurde die Klage eingereicht.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Das Erstgericht gab der Klage statt und verpflichtete die bekl OÖGKK zur Zahlung des ea112KBG. Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Die ordentliche Revision wurde zugelassen. Der OGH wies die Revision der Bekl ab und bestätigte das erstinstanzliche Urteil.

Der OGH kam zu dem Ergebnis, dass das ea KBG ebenso wie das deutsche Elterngeld eine Geldleistung an Eltern sei, die im Hinblick auf die Betreuung eines Kleinkindes eine bestimmte Zeit nicht oder nur eingeschränkt erwerbstätig sind. Da sowohl die deutschen als auch die österreichischen Ansprüche auf die Familienleistungen (Elterngeld und ea KBG) durch Beschäftigung ausgelöst werden und daher als gleichartig iSd Art 68 Abs 1 lit b sublit b VO 883/2004 anzusehen sind, und da der Wohnort des Kindes in Österreich liegt, sei Österreich der vorrangig zuständige Mitgliedstaat.

Das Erfordernis der mindestens sechsmonatigen versicherungspflichtigen Beschäftigung in Österreich in § 24 Abs 2 KBGG widerspreche dem Erfordernis der Gleichbehandlung in Art 4 VO 883/2004/EG, da Grenzgänger regelmäßig nicht in der Lage sein werden, dieses Erfordernis in ausreichender Weise zu erfüllen. Auch die in Art 5 VO 883/2004/EG normierte Gleichstellung von Sachverhalten und Tatbeständen erfordert, dass die zuständigen Träger eines Mitgliedstaats in grenzüberschreitenden Angele- genheiten bei der Auslegung und Anwendung ihrer eigenen Bestimmungen der sozialen Sicherheit nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats verwirklichte Tatbestände sowie in einem anderen Mitgliedstaat eingetretene Sachverhalte so berücksichtigen, als hätten sie sich in ihrem Bereich ereignet. Aus diesen Gründen sei die Beschränkung des § 24 Abs 2 KBGG auf österreichische Sozialversicherungszeiten als unionsrechtswidrig zu qualifizieren und daher wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unbeachtet zu lassen.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[…] 3.8. Da somit die Karenzzeit der Ehefrau des Klägers als ‚Beschäftigung‘ im Sinne des Art 68 der VO 883/2004 anzusehen ist, ist nach zutreffender Rechtsansicht der Vorinstanzen Österreich gemäß Art 68 Abs 1 lit b sublit i VO 883/2004 der für die Gewährung der Familienleistungen im verfahrensgegenständlichen Zeitraum vorrangig zuständige Mitgliedsstaat, weil hier auch der Wohnort des Kindes ist […].

Art 68 VO 883/2004 vermeidet einerseits Doppelleistungen und sichert andererseits Leistungsansprüche, die ein Elternteil nach dem Recht eines Mitgliedsstaats erworben hat und kürzt diese nur, falls für dasselbe Kind nach dem Recht eines anderen Mitgliedsstaates eine Leistungspflicht ebenfalls besteht. Die Lastenverteilung begründet sich daraus, dass der Wohnstaat des Kindes und Beschäftigungsstaat eines Elternteils eine höhere Verantwortung für den Ausgleich der Familienlasten hat als der Staat, in dem ein Elternteil zwar beschäftigt ist, aber das zu fördernde Kind nicht wohnt (Eichenhöfer, Sozialrecht der Europäischen Union 183). […]

Nach ständiger Rechtsprechung verbietet der in Art 4 VO 883/2004 niedergelegte Gleichbehandlungsgrundsatz nicht nur offenkundige Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit der nach den Systemen der sozialen Sicherheit leistungsberechtigten Personen, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch Anwendungen anderer Unterscheidungskriterien tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen. Als mittelbar diskriminierend sind daher Voraussetzungen anzusehen, die zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten, die aber im Wesentlichen oder ganz überwiegend Wanderarbeitnehmer betreffen sowie unterschiedslose geltende Voraussetzungen, die von inländischen Arbeitnehmern leichter zu erfüllen sind als von Wanderarbeitnehmern (Fuchs in

Fuchs
, Europäisches Sozialrecht, Art 4 VO [EG] 883/2004 Rz 2 mwN). Es steht daher dieses Gleichbehandlungsgebot der Weigerung, bei der Gewährung des österreichischen Kinderbetreuungsgeldes die Bezugszeiten einer vergleichbaren Leistung in einem anderen Mitgliedsstaat genauso zu berücksichtigen, als wären sie in seinem Hoheitsgebiet zurückgelegt worden, entgegen (vgl EuGHC-507/06, Klöppel, EU:C:2008:110). 5.2. Weiters erfordert das in Art 5 VO 883/2004 enthaltene Gebot der Tatbestandsgleichstellung, dass jeder Mitgliedsstaat (bzw deren zuständiger Träger) bei der Anwendung und Auslegung des eigenen Rechts der sozialen Sicherheit die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedsstaats verwirklichten Sachverhalte berücksichtigt, als hätten sich diese nach den eigenen Rechtsvorschriften oder auf dem eigenen Staatsgebiet ereignet, sofern es sich um gleichartige Verhältnisse oder entsprechende Sachverhalte handelt. […]

5.3. Aufgrund dieser Erwägungen ist die in § 24 Abs 1 Z 2 iVm § 24 Abs 2 KBGG enthaltene Beschränkung auf eine lediglich in Österreich ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit als unionsrechtswidrig zu qualifizieren (vgl Felten in

Spiegel
, Art 60 VO 987/2009 Rz 3) und daher wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unbeachtet zu lassen (vgl 10 ObS 117/14z; RIS-Justiz RS0109951 [T1]). […]

5.4.3. […] [Es ist] entgegen der Ansicht der beklagten Partei Art 6 VO 883/2004 nicht dahin auszulegen, dass die ‚Zusammenrechnung‘ mindestens zwei in verschiedenen Mitgliedsstaaten zurückgelegte Zeiten der Erwerbstätigkeit voraussetzt. Es kann somit ein Mitgliedsstaat des für die Gewährung einer Leistung zuständigen Trägers für den Zweck der Zusammenrechnung113nicht vorsehen, dass eine Zeit der Erwerbstätigkeit in seinem Hoheitsgebiet zurückgelegt worden sein muss, was die Zugrundelegung einer einzigen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaats zurückgelegten Zeit für den Erwerb eines Anspruchs auf eine Leistung der sozialen Sicherheit ausschließe (vgl EuGHC-257/10, Bergström, EU:C:2001:839, Rz 39 f). […]

6.1. Aus dem Urteil in der Rechtssache C-257/10, Bergström, ergibt sich nämlich, dass das Erwerbseinkommen von Personen, die nicht den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedsstaats unterliegen, für die Berechnung von einkommensabhängigen Familienleistungen dem Grunde nach zu berücksichtigen sind, auch wenn nach den Koordinierungsregeln für die Berechnung des Betrags der Familienleistung das Recht des Mitgliedsstaats des zuständigen Trägers anzuwenden ist und dieses für die Berechnung auf Einkommen im betreffenden Mitgliedsstaat abstellt. Sonst erlangte die Auslegung des Art 6 VO 883/2004 keine praktische Wirksamkeit und würde dem Gleichbehandlungsgebot (Art 4 VO 883/2004) nicht Genüge getan.“

ERLÄUTERUNG

Der OGH hatte sich im Rahmen dieses Verfahrens erneut (vgl bereits OGH 24.3.2015, 10 ObS 117/14z) mit Fragen der Sozialrechtskoordinierung im Zusammenhang mit dem Kinderbetreuungsgeld zu beschäftigen. Wie schon in der vorgenannten E kam er auch hier wieder zum Ergebnis, dass die legistischen Versuche gescheitert sind, das Kinderbetreuungsgeld, insb das einkommensabhängige Modell, vor einer Inanspruchnahme durch andere EU-Bürger abzuschotten.

Der OGH beruft sich in einem wesentlichen Teil seiner Begründung auf das Urteil des EuGH in der Rs C-257/2010, Bergström, EU:C:2001:839. Die Kl in diesem Verfahren war eine schwedische Staatsbürgerin, die Versicherungszeiten aus Erwerbstätigkeit in der Schweiz erworben hatte und nach ihrer Entbindung nach Schweden zurückkehrte und dort die einkommensabhängige Familienleistung beantragte. Die schwedischen Behörden verweigerten die einkommensabhängige Leistung und sprachen ihr nur die pauschale Leistung zu, ua mit der Begründung, dass keine nationale Bemessungsgrundlage ermittelt werden konnte und dass keine ausreichenden Zeiten der Pflichtversicherung bzw Erwerbstätigkeit in Schweden vorgelegen sei. Der EuGH sprach aus, dass es gemeinschaftsrechtlich unzulässig ist, Ansprüche auf Familienleistungen, die der Koordinierung unterliegen, ausschließlich vom Erwerb inländischer Versicherungszeiten abhängig zu machen. Auch wenn keine inländischen Bemessungsgrundlagen verfügbar sind, verlangt das Gebot der Gleichbehandlung in Art 4 VO 883/2004/EG (bzw im auf den entschiedenen Fall noch anzuwendenden Art 3 VO 1408/71/EWG), dass in solchen Fällen die Behörden des leistungszuständigen Staates das von Personen gleicher Qualifikation erzielte Durchschnittseinkommen heranziehen können.

In seiner ausführlichen Begründung dekonstruierte der OGH alle von der bekl OÖGKK vorgebrachten Versuche, ausschließlich österreichische Zeiten pflichtversicherter Erwerbstätigkeit als Anspruchsvoraussetzungen für das Kinderbetreuungsgeld heranzuziehen oder wenigstens die Berücksichtigung ausländischer Zeiten für die Anspruchsvoraussetzungen so restriktiv wie möglich zu handhaben. In 10 ObS 117/14z hatte der OGH bereits herausgearbeitet, dass das Erfordernis der mindestens sechsmonatigen pflichtversicherten Beschäftigung auch durch entsprechende Zeiten in einem anderen Mitgliedstaat erfüllt werden kann und dass in Koordinierungsfällen der Begriff der Beschäftigung nach unionsrechtlichen Kriterien auszulegen ist. Dies wurde im hier vorliegenden Urteil nochmals deutlich herausgearbeitet. Weiterhin offen bleibt die Frage nach der Bemessung des ea KBG. Dazu musste sich der OGH aus prozessualen Gründen nicht äußern. Im vorliegenden Verfahren musste nicht geklärt werden, ob ein dem beruflichen Qualifikations- und Einkommensniveau des Kl entsprechendes fiktives, inländisches Einkommen als Bemessungsgrundlage oder gem Art 5 VO 883/2004/EG das tatsächlich in Deutschland erzielte Einkommen aus unselbstständiger Erwerbstätigkeit heranzuziehen ist.114