Autengruber/MugrauerOktoberstreik – Die Realität hinter den Legenden über die Streikbewegung im Herbst 1950. Sanktionen gegen Streikende und ihre Rücknahme

2. Auflage, Verlag des ÖGB, Wien 2017 224 Seiten, kartoniert, € 19,90

RUDOLFMÜLLER (WIEN/SALZBURG)

Adolf Schärf schreibt in „Österreichs Erneuerung 1945-1955“ als Überschrift des 34. Kapitels „Kommunistenputsch 1950 von Sozialisten erstickt“, räumt aber darin in Bezug auf den 3. Oktober ein, dass „die oberste Führung der Russen die Aktionen der Kommunisten nicht oder, besser gesagt, nicht mehr unterstützte“. Das hier rezensierte, 2017 bereits in zweiter Auflage erschienene Buch beruht auf einem Forschungsauftrag des ÖGB und hat das Anliegen, dieses Narrativ, wonach der Oktoberstreik des Jahres 1950 ein kommunistischer Putschversuch gewesen sei, nachhaltig zu korrigieren. Diese von der KPÖ unter aktiver Beteiligung des Verbandes der Unabhängigen (VdU) inszenierte Streikbewegung ereignete sich in Reaktion auf die Zustimmung des ÖGB (gegen die Stimmen der kommunistischen Gewerkschafter) zum vierten, zwischen den Sozialpartnern seit 1947 geschlossenen Lohn-Preisabkommen, aufgrund dessen ab 1.10.1950 Mehl um 64 %, Zucker um 34 % und Brot um 26 % teurer werden sollte. Der nach dem Streik erfolgte Ausschluss zahlreicher kommunistischer Funktionäre aus dem ÖGB als „Landesverräter“ wurde aufgrund der vorliegenden Untersuchung vom ÖGB-Bundesvorstand im Herbst 2015 posthum rückgängig gemacht und die Betroffenen vom damals im ÖGB erhobenen Vorwurf der Beteiligung an einem Putschversuch rehabilitiert.

Das Werk beginnt mit einer Skizze von Autengruber über die historische Entwicklung: Vom Marschallplan und seinen Auswirkungen auf die österreichische Souveränität ist ebenso die Rede wie vom System der von einem Teil der Arbeitnehmerschaft abgelehnten sogenannten „Lohn-Preisabkommen“ der Sozialpartner, bei denen die Preiserhöhungen stets prompt erfolgten, die vereinbarte Bewegung des damals extrem niedrigen Lohnniveaus nach oben aber in der Regel auf sich warten ließ. Dies entsprach durchaus dem Zweck dieser Abkommen, (nur) minimale Reproduktionsstandards der ArbeiterInnen sicherzustellen, ohne sie an der Produktivitätssteigerung zu beteiligen, dh an der ungleichen Einkommensverteilung nicht zu rütteln. Es gelang mit diesen Abkommen zwar, die Löhne, nicht aber die Preise unter Kontrolle zu halten. Dieser Teil endet mit einer Art Zeittafel der Ereignisse vom 7.9. bis zum 5.10.1950. Die dahinter stehende politische Entwicklung wird dann eingehend in einem Überblick von Peter Autengruber/Manfred Mugrauer dargestellt. Vor allem die Motive rund um die Streikunterbrechung vom 26.9. hätten gezeigt, dass es um die Dosierung des Drucks auf die Regierung zur Abschwächung des 4. Lohn-Preisabkommens gegangen sei, nicht aber um Machtübernahme durch die KPÖ. Auch habe jede Unterstützung der Streikbewegung durch die UdSSR gefehlt: Auch nach Öffnung der Archive der ehemaligen UdSSR [Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken] seien keine Dokumente zutage getreten, die in diese Richtung deuten würden. Es konnte den Interessen der UdSSR schon damals nicht entsprochen haben, Österreich zu teilen und damit die NATO in Reaktion darauf in Westösterreich sitzen zu haben.

Die Regierung ging auf Verhandlungen bis zum Ablauf eines bis 3.10. befristeten Ultimatums nicht ein. Nach dem Zeugnis Fritz Klenners (ebenso übrigens Schärf, aaO 257) war am 4.10.1950 bereits entschieden, dass auch der zweite Versuch eines Generalstreiks misslungen war. In Wien wurde an diesem Tag am Morgen – sieht man von einem USIA-Betrieb in Favoriten ab – durchwegs gearbeitet. Die umstrittene Intervention Franz Olahs mit einem Trupp von 2000 Bauarbeitern hatte – entgegen der darauf aufgebauten Legenden – keinen Putsch niedergeschlagen, wie dies medial anschließend von Olah verwertet und lange Zeit auch aufrechterhalten wurde: Letztlich hatte die Olah-Truppe nur mehr ein Häuflein kommunistische Demonstranten als Gegner. Der Streik gegen das vierte Lohn-Preisabkommen wurde am 5.10. offiziell abgeblasen, das darauf folgende fünfte Lohn-Preisabkommen ging ohne derartige Vorkommnisse über die Bühne. Gleichwohl verstand es in der Folge Franz Olah, sich als Retter Österreichs zu präsentieren und die Streikbewegung zu seinem politischen Nutzen zu einem Putschversuch der KPÖ hochzustilisieren. Autengruber beschäftigt sich in der Folge mit den Hintergründen dafür, dass die von der Sozialdemokratie und den sozialistischen Gewerkschaftern getriggerten Legenden über den Oktoberstreik lange Zeit hindurch auf eine Weise gedeihen konnten, dass Historiker sogar von einem identitätsstiftenden Mythos der Nachkriegsgeneration schrieben. In der Geschichtswissenschaft wurde – so die Autoren – die These vom Putschversuch schon 1977 von Konrad widerlegt. Die Putsch-Metapher – wird Rathkolb zitiert – diente aber der Durchsetzung mittel- und langfristiger Ziele im kalten Krieg und hatte auch den side-effect, die SPÖ vor dem Vorwurf der Konservativen zu schützen, sie plane eine „Einheitsfront“ mit den Kommunisten. Dennoch finden sich Hinweise auf einen angeblichen418Putschversuch noch in Werken aus 2000, obwohl Olah schon 1977 eingeräumt hatte, er möchte den Streikversuch 1950 nicht als Putschversuch werten. Autengruber beschäftigt sich auch mit Ereignissen, die mitunter als „Sturm auf den ÖGB“ dramatisiert wurden.

Autengruber/Mugrauer beschäftigen sich dann mit den Sanktionen gegen Streikende und mit deren Rücknahme, während ein weiterer Beitrag Mugrauers die gewerkschaftliche und betriebliche Verankerung der KPÖ in den Jahren 1945 bis 1955 behandelt. Ein Kommentar von Brigitte Pellar und Hans Hautmann zu dem Forschungsprojekt schließt den Textteil des Werkes ab, dem noch ein ausführlicher Bild- und Dokumentationsteil angeschlossen ist, der sich teils im Text, teils in einem Anhang findet. Ein ausführliches Literatur- und Quellenverzeichnis belegt die Monstrosität der Arbeit, die das Forscherteam geleistet hat.

Es ist ein erfreulich nüchternes, lesenswertes und wichtiges Buch – es leistet nichts mehr und nicht weniger als einen Beitrag zur historischen Wahrheit. Nach dessen Lektüre bleibt in einem historisch interessierten Leser, wie dem Rezensenten, aber dennoch ein gewisses Verständnis für die damaligen Zeitgenossen, wenn sie den politischen Kräften in der UdSSR nach dem Stand der Verhältnisse des Jahres 1949 in den von ihr besetzten Staaten alles Mögliche zugetraut haben (und wohl auch zutrauen durften), sodass es in der historisch konkreten politischen Lage des Jahres 1950 – in Unkenntnis der wahren Hintergründe – nicht gar so fernliegend gewesen sein mag, einen Putschversuch hinter dem missglückten Versuch eines Generalstreiks zu vermuten (Schärf berichtet zB davon, dass die Wiener ÖVP nach Aussage eines ihrer Abgeordneten zur Zeit der Demonstrationen in dieser Erwartungshaltung alle Akten aus der russischen Zone fortgeschafft hatte). Nur die aktive Beteiligung des VdU (die Schärf, aaO 255, auf dem Boden der KP-Putsch-These immerhin „bemerkenswert“ gefunden hat) kommt einem darin wie ein Fremdkörper vor, auch wenn man die These des Buches von der grundsätzlichen Gewerkschaftsfeindlichkeit dieser politischen Gruppierung teilt. Es kommt aus dem Buch nicht hervor, dass einer der Akteure damals wider besseres Wissen agiert hätte; auch bei Olah lässt sich das so nicht finden, wenngleich er sich und seine Bauarbeiter natürlich um der politischen Folgen willen danach enorm überinszeniert hat. Diese These vom Putschversuch hinter dem Streikversuch schien damals plausibel und stieß mehrheitlich offenbar auf Zustimmung. Dass der plausible Verdacht eines Putschversuches politisch als Gewissheit verkauft wurde, gehört zum politischen Geschäft. Die These vom Putschversuch leistete in der Folge ihren Urhebern in Partei und Gewerkschaftsbund als Mythos gute politische Dienste und führte kurzfristig zu einer nie dagewesenen Säuberungsaktion im ÖGB. Deren ökonomische Folgen für die Betroffenen stehen freilich auf einem anderen Blatt und werden in diesem Werk auch entsprechend kritisch beleuchtet.

Manches in diesem Werk löste bei mir Assoziationen mit der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart aus: Der Marschallplan mit seinen Auflagen erinnert an die wirtschaftliche Kujonierung Griechenlands, die politische Nützlichkeit eines Putsches (mag er nun im behaupteten Umfang stattgefunden haben oder nicht) an die Ereignisse in der Türkei. Gewisse politische Mechanismen funktionieren unverdrossen, wahrscheinlich, weil sie – wie sich immer wieder zeigt – leider so großartig wirksam sind. Und: Fake-News sind kein Kind der Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts. Für politisch und/oder historisch Interessierte ist „Oktoberstreik“ eine Pflichtlektüre.