ThieleNeoliberale Strömungen im sozialen Dienstleistungssektor

Pro mente edition, Linz 2015, 154 Seiten, € 19,90

KLAUSFIRLEI (SALZBURG)

Die schmale, aber gehaltvolle Monographie stellt sich der Frage, welche Faktoren das Verhältnis zwischen ökonomischen und professionellen Interessen in der Sozialen Arbeit beeinflussen und welche Chancen es im „Post-Wohlfahrtsstaat“ für einen möglichen Ausgleich dieser Interessen gibt. Die Kernthese der Verfasserin ist, dass es in der heutigen sozio-ökonomischen Formation zu einem Ungleichgewicht zugunsten ökonomischer Interessen kam. Soziale Dienstleistungen würden in das neoliberale Wettbewerbsregime einbezogen. Folge sei eine schrittweise Prekarisierung der Sozialen Arbeit.

Die Verfasserin geht ganz zu Recht davon aus, dass die mangelnde Verrechtlichung der Sozialen Arbeit ihre Fähigkeiten untergräbt, wirtschaftliche und sozialrechtliche Diskurse zu beeinflussen. Damit würden sowohl eine adäquate Vertretung der KlientInneninteressen als auch der Professionsinteressen verhindert. Für die Bewertung und Beschaffung sozialer Leistungen würden extern festgelegte monetäre Kriterien dominieren.

Das Buch beschreibt in eindrucksvoller Weise den mit Ende der 1970er-Jahre einsetzenden Wandel vom versorgenden Wohlfahrtsstaat zum aktivierenden Sozialstaat. Dafür steht (auch) im Bereich der Sozialen Arbeit das Steuerungsmodell des „New Public Management“. Erfreulich ist, dass sich Stefanie Thiele knapp, aber fundiert mit der allzu oft unterschätzten Ebene des europäischen Wettbewerbsrahmens für soziale Dienstleistungen beschäftigt, dh mit der Dienstleistungs-RL, dem Vergaberecht und dem europäischen Beihilfenregime.

Es folgt eine Analyse und Beschreibung der Auswirkungen dieser Rahmenbedingungen auf Beschäftigungssituation und Arbeitsbedingungen im sozialen Dienstleistungssektor und auf die KlientInnen. Der arbeitsrechtliche bzw arbeitspolitische Befund ist, wenig überraschend, dass die Bedingungen im Sektor der Sozialen Arbeit geprägt sind durch eine umfassende Prekarisierung, durch atypische Beschäftigungsverhältnisse, durch erhebliche gesundheitliche und insb auch psychische Belastungen, etwa durch Zeitdruck, sowie durch zunehmende Entgrenzungserscheinungen in Bezug auf Arbeitsort, Arbeitszeit, Arbeitsrolle und Arbeitsanforderungen. Entgrenzung bedeutet ua, dass es zu einem erweiterten Zugriff auf die Arbeitskraft iSd Nutzung ihrer Subjektivität kommt. Dabei werden insb die Kompetenzen von Frauen ausgebeutet. Die Verfasserin stellt die berechtigte Frage, wie lange sich angesichts der sich abzeichnenden Tendenzen die prekären Umstände durch die Beschäftigten noch ausbalancieren lassen.

Anschließend legt Thiele eine Analyse der Machtressourcen Sozialer Arbeit vor, primär unter dem Gesichtspunkt, ob diese dazu beitragen können, das bestehende Ungleichgewicht zwischen ökonomisierenden Faktoren und professionellen Interessen auszugleichen. Die Autorin unterscheidet zwischen Positionsmacht, Artikulationsmacht und Deutungsmacht. Daraus werden drei Diskurslinien abgeleitet. Eine davon ist der Diskurs um eine stärkere rechtliche Verankerung Sozialer Arbeit zum Zweck der Stärkung ihrer Positionsmacht.

Die Autorin plädiert hier überzeugend für eine stärkere Absicherung iS einer Sozialarbeitsgesetzgebung. Diese sollte sich eher an spezifischen Handlungsfeldern orientieren anstatt an einer generalisierten professionellen Identität. Problematisch erscheint somit ein allgemeines Berufsgesetz der Sozialen Arbeit. Nützlich wäre aber eine auf rechtlicher Grundlage beruhende stärkere Vereinheitlichung der Methoden-, Tätigkeits- und Qualifikationsvorbehalte. Hilfreich wären zB Referenzbestimmungen zu einem Sozialarbeitsgesetz in bestehenden Rechtsnormen wie etwa dem Kinder- und Jugendhilfegesetz („Jugendwohlfahrt“). Beispiele dafür werden aus Oberösterreich angeführt.

Kritisch sieht die Autorin das Fehlen eines Rechtsanspruchs auf Soziale Dienstleistungen. Diese sind weithin keine Pflichtleistungen, sondern privatwirtschaftlich organisierte Kann-Leistungen. Zumindest die Verankerung von Vorhalteleistungen in bestimmten Bereichen würde zu einem Mehr an Rechtssicherheit und damit neben der Stärkung der KlientInneninteressen auch zu einer Festigung der Positionen der MitarbeiterInnen im Bereich der Sozialen Arbeit führen. Dieser These kann nur uneingeschränkt zugestimmt werden. Gerade dieser Bereich des Sozialstaats kann nicht als finanzpolitische Manövriermasse missbraucht werden. Es wäre dann auch erforderlich, im Rahmen von Kriterien für die erforderliche Sozialplanung die Qualität und Arbeitsbedingungen umfassend zu verankern. Letztlich müsste man sich, so wie in anderen Bereichen des Sozialstaats, zu einer bedarfsorientierten Versorgung mit definierten Leistungen und ohne Deckelung der Finanzmittel durchringen. Dabei wäre darauf zu achten, dass angemessene Arbeitsbedingungen und Entgelte garantiert sind. Gesetzlich verankert werden sollten nach Thiele auch, einem Vorschlag von Dimmel folgend, erweiterte Qualitätskriterien im Vergaberecht. Zulässig wäre dies jedenfalls.

Jene LeserInnen, die sich auf einen Extrakt dieser beeindruckenden Untersuchung beschränken wollen, seien die zusammenfassenden Thesen empfohlen. Sie enthalten viele Anregungen für Verbesserungen der Arbeitssituation der Beschäftigten in diesem Sektor.

Offen bleibt allerdings die Frage, warum die Vertretung der Interessen der Beschäftigten mit Hilfe der klassischen arbeitsrechtlichen Instrumente erkennbar so schwach ist. Offensichtlich ist es gelungen, die Trägerorganisationen gegeneinander auszuspielen. Es scheint, dass die Position der Finanziers, die Mittel auf der Basis von Ermessenentscheidungen zu verteilen, insgesamt zu einer massiven Disziplinierung geführt hat. Insofern sind Gewerkschaft und Arbeiterkammern dazu aufgerufen, die in diesem Buch aufgezeigten Defizite durch Kollektivverträge, Betriebsvereinbarungen und Beeinflussung der Gesetzgebung zu beseitigen. Auffallend ist ja doch, dass die Verfasserin zwar eine Vielzahl von Optionen zur Verbesserung der Situation skizziert, wie etwa berufsrechtliche Regelungen, der Aspekt einer Nutzung der Interessenvertretungsmöglichkeiten, die insb das kollektive Arbeitsrecht bietet, aber unbeachtet bleibt. Man kann wohl davon ausgehen, dass die ausgeprägte beruflich-professionelle Identität der MitarbeiterInnen im Bereich der Sozialen Arbeit ein gewisses Hindernis bildet. Dies wäre ein lohnendes Thema für eine weitere Untersuchung.421