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Pensionsvorschuss nur bis zur Gutachtenserstellung durch den Pensionsversicherungsträger

KARLBRANDSTETTER (LINZ)
§§ 7, 12, 23, 24 AlVG
  1. Der Pensionsvorschuss ist bei Personen, die sich in einem aufrechten Arbeitsverhältnis befinden, einzustellen, wenn ein Gutachten im Wege der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) feststellt, dass Arbeitsfähigkeit vorliegt. Das Gutachten liegt vor, sobald es erstellt wurde.

  2. Einer Zustellung des Gutachtens an Leistungsbezieher bedarf es für die Einstellung nicht. Den Versicherten bleibt es unbenommen, sich nach der Befundaufnahme über das Ergebnis des Gutachtens zu erkunden, um rechtzeitig Dispositionen treffen zu können.

Mit Bescheid vom 7.9.2015 stellte die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Scheibbs (im Folgenden: AMS) das der Revisionswerberin gem § 23 Abs 4 AlVG als Vorschuss auf die Berufsunfähigkeitspension gewährte Arbeitslosengeld gem § 24 Abs 1 AlVG iVm §§ 7 und 12 AlVG ab dem 1.8.2015 ein. Das dem Bescheid der PVA vom 31.8.2015 zu Grunde liegende Gutachten der PVA vom 28.7.2015 habe ergeben, dass Arbeitsfähigkeit vorliege. Daher sei mit der Zuerkennung der Leistung aus der SV nicht zu rechnen. Der Pensionsvorschuss werde mit dem 1. des noch nicht liquidierten Monats eingestellt.

In ihrer gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde brachte die Revisionswerberin vor, sie sei erst durch Zustellung des ablehnenden Bescheides der PVA am 2.9.2015 schriftlich davon in Kenntnis gesetzt worden, dass ihrem Antrag auf Berufsunfähigkeitspension nicht Rechnung getragen werde. Sie beantrage daher, den angefochtenen Bescheid aufzuheben und ihr den Pensionsvorschuss bis zur eigentlichen Kenntnisnahme der Ablehnung (Zugang des Bescheides), somit bis 2.9.2015, zuzuerkennen. Mit Beschwerdevorentscheidung vom 1.12.2015 wies das AMS die Beschwerde als unbegründet ab. [...]

Mit dem angefochtenen Erk wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gem § 28 Abs 1 und 2 VwGVG als unbegründet ab (Spruchpunkt A). Mit Spruchpunkt B erklärte es die Revision gem Art 133 Abs 4 B-VG für nicht zulässig. [...]

Die Revisionswerberin habe seit 4.7.2015 Arbeitslosengeld als Vorschuss auf die Berufsunfähigkeitspension, die sie bei der PVA am 24.6.2015 beantragt habe, bezogen. Auf Grund des Erreichens der Höchstdauer habe sie ihren Krankengeldanspruch am 3.7.2015 erschöpft. Bis 12.9.2015 habe sie sich bei der B EKZ GmbH in einem aufrechten Dienstverhältnis befunden, wobei ihr Entgeltanspruch am 1.8.2015 (nach der Aktenlage richtig: 2014) geendet habe.

Mit Bescheid vom 31.8.2015 habe die PVA den Antrag der Revisionswerberin vom 24.6.2015 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension mangels Vorliegens von Berufsunfähigkeit abgewiesen. Dieser Entscheidung der PVA liege das ärztliche Gesamtgutachten der PVA vom 28.7.2015 zugrunde. Die Revisionswerberin habe gegen den Bescheid der PVA vom 31.8.2015 Klage beim Landesgericht St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht erhoben. Dem AMS sei sowohl der Bescheid vom 31.8.2015 als auch das Gutachten vom 28.7.2015 am 2.9.2015 von der PVA übermittelt worden.

In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, gem § 23 Abs 1 und 2 AlVG sei für den Bezug von Arbeitslosengeld als Pensionsvorschuss erforderlich, dass abgesehen von der Arbeitsfähigkeit, Arbeitswilligkeit und Arbeitsbereitschaft die übrigen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Arbeitslosengeld vorlägen und mit der Zuerkennung der Leistungen aus der SV – im gegenständlichen Fall folglich mit der Zuerkennung der Berufsunfähigkeitspension – zu rechnen sei. Gem § 23 Abs 3 AlVG sei mit der Zuerkennung der Leistungen aus der SV nur zu rechnen, wenn ein Gutachten der PVA erstellt worden sei, aus welchem hervorgehe, dass Arbeitsfähigkeit nicht vorliege.

§ 23 Abs 4 AlVG sehe Ausnahmen von der Voraussetzung des Abs 3 vor. So sei bei Personen, die aus einem aufrechten Dienstverhältnis keinen Entgeltanspruch mehr hätten und deren Anspruch auf Krankengeld erschöpft sei, Arbeitslosigkeit anzunehmen und bis zum Vorliegen des entsprechenden Gutachtens gem Abs 3 davon auszugehen, dass Arbeitsfähigkeit nicht gegeben sei. Diese Regelung komme im vorliegenden Fall zum Tragen. Laut ärztlichem Gesamtgutachten der PVA vom 28.7.2015 liege bei der Revisionswerberin keine Arbeitsunfähigkeit vor. Da gem § 23 Abs 4 AlVG nur bis zum Vorliegen des entsprechenden Gutachtens davon auszugehen sei, dass Arbeitsfähigkeit nicht vorliege, sei der Leistungsbezug zu Recht ab dem 1.8.2015 gem § 24 Abs 1 AlVG eingestellt worden. Dass das Datum der Gutachtenserstellung relevant sei, erhelle auch „aus dem Gesetzeswortlaut des § 23 Abs 4 AlVG (‚erstellt wurde‘)“. [...]

Gegen dieses Erk richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der VwGH erwogen hat:

1. § 23 Abs 1 bis 4 AlVG in der hier zeitraumbezogenen anzuwendenden Fassung BGBl I Nr 139/2013 lautet wie folgt: [...]

Gem § 24 Abs 1 AlVG ist das Arbeitslosengeld einzustellen, wenn eine der Voraussetzungen für den Anspruch wegfällt. Dies gilt für den Pensionsvorschuss entsprechend, da dieser eine Variante des Arbeitslosengeldes bzw der Notstandshilfe darstellt353(vgl unter vielen etwa das hg Erk vom 22.2.2012, Zl 2009/08/0052, mwN).

2. Die Revisionswerberin führt zur Zulässigkeit der Revision aus, die „Rechtsfrage erheblicher Bedeutung“ sei, ob sich aus dem Wortlaut des § 23 Abs 4 AlVG sowie aus dessen Sinn und Zweck und Gesamtzusammenhang ergebe, dass bei der Revisionswerberin das Datum der Gutachtenserstellung relevant sei und nicht jenes Datum, an dem sie vom Gutachten Kenntnis erlangt habe, nämlich der 2.9.2015.

Vom Ergebnis der Lösung dieser Rechtsfrage hänge ab, ob sie einen Rechtsanspruch auf Pensionsvorschuss für den Zeitraum nach dem 1.8.2015 zumindest bis zum 2.9.2015 habe. Wäre sie am 28.7.2015 von der PVA in Kenntnis gesetzt worden, dass diese vom Vorliegen der Arbeitsfähigkeit ausgehe, hätte sie die Möglichkeit gehabt, entsprechende existenzsichernde Schritte zu setzen. Die vom Bundesverwaltungsgericht vorgenommene Interpretation bewirke hinsichtlich ihrer Auswirkungen einen für die Revisionswerberin „geradezu willkürlichen Zustand“. Es entspreche auch nicht der Intention und dem Ziel des Gesetzgebers, Zeiträume zu kreieren, in denen der Normunterworfene weder einen Anspruch auf Entgelt noch auf Arbeitslosengeld noch auf Pensionsvorschuss habe, ohne dass gleichzeitig ein Fehlverhalten gesetzt worden wäre.

In den Revisionsgründen wird weiters ausgeführt, es sei der allgemeine Grundsatz zu beachten, dass Rechtsfolgen erst ab Kenntnis des betroffenen Anspruchswerbers über die relevanten Voraussetzungen eintreten dürften. Zum Zeitpunkt der Einstellung des Pensionsvorschusses mit 1.8.2015 habe die Revisionswerberin noch auf die positive Erledigung ihres Antrages auf Berufsunfähigkeitspension vertrauen dürfen, weil sie vom Gutachten der PVA vom 28.7.2015 keine Kenntnis gehabt habe. Mit dem angefochtenen Erk werde auch der Eindruck erweckt, dass das Bestehen eines Rechtsanspruchs von einem durch die auszahlende Behörde selbst gewählten Datum abhängig gemacht werde; wäre im gegenständlichen Fall das AMS auch nur einige Tage später vom Gutachtensergebnis in Kenntnis gesetzt worden, wäre der Pensionsvorschuss für August bereits ausgezahlt und nicht rückforderbar gewesen. Weiters sei § 23 Abs 4 AlVG als Schutzbestimmung konstruiert worden. Diejenigen, die bei aufrechtem Dienstverhältnis und andauerndem Krankenstand ihren Anspruch auf Krankengeld erschöpft hätten, sollten bis zur Entscheidung über ihre Arbeitsfähigkeit im Pensionsverfahren nicht aus jeglichem Leistungsbezug fallen, um ihren Lebensunterhalt gesichert zu erhalten. Es liege nicht im Willen des Gesetzgebers, dass durch eine derartige Vorgangsweise des AMS wiederum Lücken im Leistungsbezug entstünden, über die die versicherte Person erst rückwirkend Kenntnis erlange. Intention des Gesetzgebers sei es gewesen, die Leistung eines Pensionsvorschusses jedenfalls bis zur Kenntnis des Verfahrensausgangs zu gewähren und somit auch erst mit Kenntnis über den entsprechenden Ausgang einzustellen, um soziale Härten zu vermeiden und eine Einkommenssicherung sowie Rechtssicherheit zu gewähren. Durch das angefochtene Erk werde dieses Ziel gerade nicht erreicht. Er beruhe sohin auf einer Fehlinterpretation der relevanten gesetzlichen Bestimmungen.

3. Die Revision ist zulässig, weil Rsp des VwGH zu der von der Revisionswerberin aufgeworfenen Frage fehlt und sich deren Beantwortung nicht so eindeutig aus dem Gesetz ergibt [...]. Sie ist jedoch nicht berechtigt.

4. Nach § 23 Abs 4 AlVG ist in den dort geregelten Fällen bis zum Vorliegen des entsprechenden Gutachtens gem § 23 Abs 3 AlVG davon auszugehen, dass Arbeitsfähigkeit nicht vorliegt.

Diese Bestimmung ist im Wesentlichen das Ergebnis von zwei Gesetzesänderungen. Zunächst wurden mit dem 2. Stabilitätsgesetz 2012 – 2. StabG 2012, BGBl I Nr 35, strengere Voraussetzungen für den Bezug eines Pensionsvorschusses geschaffen [...]. Diese Bestimmungen traten mit 1.1.2013 in Kraft. § 23 Abs 4 AlVG wurde aber mit dem 2. Sozialversicherungs-Änderungsgesetz 2013 – 2. SVÄG 2013, BGBl I Nr 139, rückwirkend mit 1.1.2013 nochmals geändert und erhielt die oben unter Pkt 1. wiedergegebene Fassung. Demnach ist unter der Voraussetzung, dass sich die betroffene Person so rasch wie möglich der Begutachtung unterzieht, von Anfang an – allerdings nur bis zum Vorliegen des entsprechenden Gutachtens – vom Nichtvorliegen der Arbeitsfähigkeit auszugehen [...]. Dies wurde in der Begründung des Initiativantrages 2362/A 24. GP dahingehend erläutert, dass die betroffenen Versicherten nach der durch das 2. StabG 2012 geschaffenen Rechtslage bis zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch das Gutachten kein Einkommen erhielten und in der Regel auch keinen Anspruch auf bedarfsorientierte Mindestsicherung hätten; auf Grund der Neuregelung der Voraussetzungen für den Pensionsvorschuss gebe es also Fälle, in denen keine soziale Absicherung gegeben sei. Zur Lösung der sozialen Problematik solle die nunmehr vorgeschlagene Änderung rückwirkend in Kraft treten.

Der Revisionswerberin ist also darin zuzustimmen, dass die Regelung mit dem Ziel geschaffen wurde, soziale Härten – namentlich Einkommenslücken – möglichst zu vermeiden. Nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut des § 23 Abs 4 AlVG gilt die darin normierte Annahme, dass Arbeitsfähigkeit nicht vorliegt, aber nicht bis zur rechtskräftigen Beendigung des Pensionsverfahrens, sondern nur bis zum Vorliegen eines Gutachtens nach § 23 Abs 3 AlVG. Sobald dieses Gutachten vorliegt, richtet sich die Beurteilung, ob Arbeitsfähigkeit nicht vorliegt [...], nach dem Gutachten: Ergibt sich daraus, dass Arbeitsfähigkeit nicht vorliegt, ist der Pensionsvorschuss bis zur Entscheidung über den Pensionsantrag weiter zu gewähren; ergibt sich aus dem Gutachten hingegen, dass Arbeitsfähigkeit vorliegt, so ist die Leistung – weil es an der Voraussetzung des § 23 Abs 2 Z 2 AlVG fehlt – einzustellen (es sei denn, es lägen sämtliche Voraussetzungen für die reguläre Gewährung von Arbeitslosengeld bzw Notstandshilfe vor, was aber bei noch aufrechtem Beschäftigungsverhältnis [...] schon mangels Arbeitslosigkeit zu verneinen ist).

Das Gutachten liegt vor, sobald es erstellt wurde (vgl auch die Formulierung in § 23 Abs 3 AlVG: „wenn ... ein Gutachten zur Beurteilung der Arbeits-354fähigkeit ... erstellt wurde“). Einer Zustellung an die Leistungsbezieherin bedarf es für den Eintritt dieser Voraussetzung entgegen dem Revisionsvorbringen nicht. Allerdings bleibt es ihr unbenommen, sich nach der Befundaufnahme über das Ergebnis des Gutachtens zu erkundigen, um im Hinblick auf den Entfall des Anspruchs auf Pensionsvorschuss rechtzeitig entsprechende Dispositionen treffen zu können. Ausgehend davon verlangt auch der sozialpolitische Regelungszweck keine andere, über den bloßen Wortlaut hinausgehende Auslegung des § 23 Abs 4 AlVG. Richtig ist, dass dann, wenn die Leistung nach Vorliegen des Gutachtens [...] noch ausgezahlt wurde, eine Rückforderungsmöglichkeit nur nach Maßgabe des § 25 AlVG besteht; die erschwerten Bedingungen für die Rückforderung bereits ausgezahlter Leistungen gegenüber der bloßen (auch rückwirkend möglichen) Einstellung noch nicht liquidierter Leistungen gelten aber grundsätzlich bei allen Leistungen nach dem AlVG und sind dadurch gerechtfertigt, dass der tatsächliche Empfang einer Leistung im Vergleich zu deren bloßer Erwartung eine größere Schutzwürdigkeit begründet.

5. Als Ergebnis ist daher festzuhalten, dass die Einstellung des als Vorschuss auf die Berufsunfähigkeitspension gewährten Arbeitslosengeldes mit dem auf das Vorliegen des Gutachtens vom 28.7.2015 folgenden Monatsersten, dem 1.8.2015, zu Recht erfolgt ist.

6. Da somit bereits der Inhalt der Revision erkennen lässt, dass die behauptete Rechtsverletzung nicht vorliegt, war die Revision gem § 35 Abs 1 VwGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung als unbegründet abzuweisen.

ANMERKUNG
1.
Vorbemerkungen

Das Ergebnis der vorliegenden E ist Ausfluss grundlegender Änderungen beim Pensionsvorschuss (beginnend mit BGBl I 2012/35; siehe dazu Krapf/Keul, Arbeitslosenversicherungsgesetz [12. ErgLfg] Rz 491 ff). Obwohl der Gesetzgeber zwischenzeitlich durch mehrere Novellen versucht hat, die eklatantesten Versorgungsengpässe zu reparieren, bestehen nach wie vor Lücken in der existenziellen Absicherung für Versicherte. Vor allem bei Personen in aufrechten Arbeitsverhältnissen ergeben sich häufig Probleme. Eine spürbare Abmilderung brachte das auf Druck der Arbeiterkammer OÖ und der Bundesarbeitskammer eingeführte „Sonderkrankengeld“ in § 139 Abs 2a und 2b ASVG. Das „Sonderkrankengeld“ trat mit 1.1.2016 in Kraft und war für den gegenständlichen Fall noch nicht anzuwenden. Dessen ungeachtet hätte aber selbst ein Anspruch gem § 139 Abs 2a AlVG zu einer Versorgungslücke geführt. Der VwGH hat im gegenständlichen Fall die Revision völlig zu Recht zugelassen, da zur aufgeworfenen Rechtsfrage bislang eine Rsp fehlte und sich deren Beantwortung nicht eindeutig aus dem Gesetz ergibt. Leider interpretierte der VwGH diese Frage mE zu restriktiv. Bei differenzierter Betrachtung bietet sich eine gegenteilige Lösung an. Im Folgenden möchte ich in der gebotenen Kürze – unter Heranziehung der gängigen Interpretationsmethoden – einen (alternativen) Lösungsweg vorschlagen.

2.
Wortlautinterpretation

Der VwGH begründet seine E mit dem „insoweit eindeutigen Wortlaut des § 23 Abs 4 AlVG“. Diese Bestimmung fingiert Arbeitslosigkeit bei Personen, die sich in einem aufrechten Arbeitsverhältnis befinden, keinen Anspruch auf Entgelt mehr haben und deren Anspruch auf Krankengeld erschöpft ist. Liegen diese Voraussetzungen vor, folgt eine weitere Fiktion. Diesfalls gilt eine solche Person nämlich bis zum Vorliegen des Gutachtens als nicht arbeitsfähig. Bis zu diesem Zeitpunkt gebührt der Pensionsvorschuss. Der einschlägige Passus in § 23 Abs 4 AlVG lautet auszugsweise: „[...], dass sich die betroffene Person so rasch wie möglich der Begutachtung unterzieht, bis zum Vorliegen des entsprechenden Gutachtens gemäß § 23 Abs 3 AlVG davon auszugehen, dass Arbeitsfähigkeit nicht vorliegt.“ Entscheidend ist das Verständnis der Textstelle „Vorliegen des entsprechenden Gutachtens“. Liegt das Gutachten schon vor, sobald es im Anstaltsverfahren fertiggestellt ist oder erst, wenn es in die Außensphäre tritt? Dem Begriffskern nach liegt das Gutachten jedenfalls mit Fertigstellung im Anstaltsverfahren vor. Dies betrifft aber nur das Innenverhältnis beim Pensionsversicherungsträger. Die Rechtsfolgen entfalten ihre Wirkung aber im Außenverhältnis, konkret auf die versicherte Person. Somit stellt sich die Frage, ob das Substantiv „Vorliegen“ nicht in diesem Sinne zu verstehen ist. Bezieht man obige Überlegungen mit ein, dass die Außenwirkung des Gutachtens maßgeblich ist, ist diesem Verständnis der Vorzug einzuräumen. Das Gutachten liegt demnach mE vor, wenn es in die Außensphäre tritt, also erst im Zeitpunkt der Zustellung an die versicherte Person bzw mit deren Kenntnisnahme. Diese Auslegung liegt noch innerhalb des äußerst möglichen Wortsinnes. Für diese vorgeschlagene extensive Lesart sprechen zudem systematische Gründe, vor allem der Grundsatz des Parteiengehörs nach § 45 Abs 3 AlVG (siehe unten).

3.
Historische Interpretation

Zum gleichen Ergebnis führt die historische Interpretation unter Zugrundelegung der Gesetzesmaterialien. Die EB zur RV (ErläutRV 1685 BlgNR 24. GP 56 f) beschreiben mehrere Fallkonstellationen. Unterschieden wird zwischen: (1) Personen, die sich bereits im Arbeitslosengeldbezug/Notstandshilfebezug befinden (aus Platzgründen wird dieses Begriffspaar im Folgenden nur durch den Arbeitslosenbezug benannt, gemeint sind jeweils beide) und deren Arbeitsfähigkeit im Auftrag des AMS überprüft werden soll, (2) Personen, die im Arbeitslosengeldbezug stehen und von sich aus einen Pensionsantrag stellen sowie (3) Personen, die sich zum Zeitpunkt des Pensionsantrages in einem aufrechten Dienstverhältnis befinden. Bemerkenswert ist, dass in den Fällen (1) und (2) die Materialien explizit darauf Bezug nehmen, dass bei Verneinung355der Arbeitsfähigkeit der Pensionsvorschuss ab dem Datum des Gutachtens gebührt. Hingegen wird bei Bejahung das Arbeitslosengeld mit dem Zusatz weiter gewährt, dass die Versicherten der Arbeitsvermittlung dann wieder zur Verfügung stehen müssen. Anders verhält es sich bei Personen in aufrechten Dienstverhältnissen. Bei dieser Fallkonstellation ist kein Hinweis auf das Datum zu finden. Da bei den ersten beiden Fällen ausdrücklich das Datum genannt ist, bei Personen in aufrechten Dienstverhältnissen aber nicht, tut sich die Frage auf, ob es sich hierbei um ein Versehen oder um ein bewusstes (beredtes) Schweigen handelt. Letzteres ist mE der Fall. In den ersten beiden Fallkonstellationen tritt somit – außer bei Arbeitsunwilligkeit – keine Versorgungslücke ein. Etwaige Sanktionen des AMS könnten denklogisch nur dann verhängt werden, wenn Versicherte von der wieder aufgelebten Verpflichtung Kenntnis erlangen. MaW: Das AMS wird Betroffene davon in Kenntnis setzen (müssen). Abgesehen vom Fall der Arbeitsverweigerung läuft die Leistung aus der AlV aber weiter. Da die rechtliche Situation bei aufrechten Arbeitsverhältnissen anders ist, ist auch eine differenzierte Behandlung geboten und nicht auf das Datum des Gutachtens abzustellen. Das Ergebnis „arbeitsfähig“ bedeutet für diesen Personenkreis das Ende des Pensionsvorschusses und nicht wie bei den beiden anderen Fällen eine Perpetuierung des Arbeitslosengeldbezuges. Das Ergebnis „arbeitsfähig“ führt somit zu unterschiedlichen Rechtsfolgen. Um unsachliche Differenzierungen dieser Fallgruppen zu vermeiden, kann vom Vorliegen des Gutachtens auch nach historischer Interpretation erst gesprochen werden, wenn es in die Außensphäre getreten ist.

4.
Systematisch-logische Auslegung

IS einer systematisch-logischen Interpretation stellt sich die Frage, ob es im fraglichen Zusammenhang andere aufschlussreiche Normen gibt, die Schlüsse auf die hier aufgeworfenen Fragen ergeben könnten (näher dazu F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2 [2012] 442 ff). Da es sich im Hinblick auf das Vorliegen des Gutachtens im weitesten Sinn um eine Verfahrensfrage handelt, ist ein Blick ins Verfahrensrecht geboten. Aus § 45 Abs 3 AVG iVm § 37 AVG folgt der fundamentale Grundsatz des Parteiengehörs für das Beweisverfahren (Hengstschläger/Leeb, AVG § 45 Rz 23 f). Der Grundsatz des Parteiengehörs gilt nach der Rsp des VwGH auch im Leistungsverfahren des AMS (VwGH 14.10.2009, 2009/08/0150). Danach ist den Parteien von den Verwaltungsbehörden das Ergebnis der Beweisaufnahme zur Kenntnis zu bringen. Ausfluss des Grundsatzes ist das Überraschungsverbot. Den Parteien soll die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben werden. Das Parteiengehör ist vor der Entscheidung der Behörde zu gewähren (Hengstschläger/Leeb, AVG § 45 Rz 27). Dem folgend judizierte der VwGH, dass ein Gutachten nicht erst gleichzeitig mit dem Bescheid zugestellt werden darf (VwGH 10.6.1986, 86/06/0015). Diese Betrachtungen können mutatis mutandis auf den vorliegenden Fall umgelegt werden. Die gegenständliche E lässt dem zuwider den Eintritt von (rückwirkenden) Rechtsfolgen unter Missachtung des Parteiengehörs zu. Dadurch wird es Versicherten unmöglich gemacht, anderweitige Dispositionen zu treffen (bspw Antrag auf Mindestsicherung, arbeitsrechtliche Maßnahmen). Unter dem Aspekt des Parteiengehörs darf die Einstellung des Pensionsvorschusses somit frühestens ab Kenntnis des Gutachtens eintreten. Rechtlich besteht – soweit überblickbar – nur die Möglichkeit, die Richtigkeit des Gutachtens im Verfahren vor den Arbeits- und Sozialgerichten zu bekämpfen, da im Leistungsverfahren vor dem Pensionsversicherungsträger das Parteiengehör ausgeschlossen ist. Ob dies verfassungskonform ist, müsste im Rahmen einer weiterführenden Untersuchung geprüft werden. Da der Entzug des Pensionsvorschusses aber unabhängig von einem Sozialgerichtsverfahren erfolgt, darf diese Rechtsfolge erst eintreten, nachdem die Partei vom Gutachten informiert ist. Ein Nachfragerecht, wie dies der VwGH vermeint, widerspricht diesem Grundsatz und ist auch aus rechtsstaatlicher Sicht inakzeptabel.

5.
Teleologische und verfassungskonforme Interpretation

Welche Ergebnisse können aus teleologischer und verfassungskonformer Interpretation gewonnen werden? Der Zweck des Pensionsvorschusses liegt in der existenziellen Absicherung während eines Pensionszuerkennungsverfahrens (Krapf/Keul, Arbeitslosenversicherungsgesetz [12. ErgLfg] Rz 491 ff). Diesen Zweck anerkennt grundsätzlich auch der VwGH, indem er ausführt, dass die Regelung mit dem Ziel geschaffen wurde, soziale Härten – namentlich Einkommenslücken – möglichst zu vermeiden. Ausdrücklich nimmt der VwGH darauf Bezug, dass die Leistung nur bei aufrechtem Arbeitsverhältnis – ab Vorliegen des Gutachtens – einzustellen ist. Andernfalls sei auf das Arbeitslosengeld umzustellen (zu gleichheitsrechtlichen Bedenken siehe sogleich unten). Der Zweck der existenziellen Absicherung geht durch die (vorzeitige) Einstellung verlustig. Selbst durch die Schaffung des Sonderkrankengeldes in § 139 Abs 2a ASVG ist diese Lücke nicht geschlossen worden, da der Antrag auf Sonderkrankengeld erst ab Vorliegen der negativen Entscheidung des Pensionsversicherungsträgers gestellt werden kann und nicht rückwirkend gebührt. Dass die Verhinderung von Einkommenslücken ein wesentlicher Zweck des Pensionsvorschusses ist, erschließt sich ferner aus den Materialien zum BGBl I 2013/139, wonach der Pensionsvorschuss bei aufrechtem Arbeitsverhältnis jedenfalls bis zum Vorliegen des Gutachtens gebührt. Die Materialien rechtfertigen dies zudem mit der sehr geringen Anzahl an zu erwartenden Fällen (ErlIA 2362/A BlgNR 24. GP 13). Gleichermaßen führt mE eine verfassungskonforme Auslegung – als Abart der systematisch-teleologischen Interpretation (vgl F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2 455 ff) – zu diesem Ergebnis. Ausgangspunkt ist der Gleichheitsgrundsatz nach Art 7 B-VG. Wie bereits ausgeführt, gestaltet sich die rechtliche Situation für Personen, die Arbeitslosengeld beziehen oder sich in aufrech-356ten Arbeitsverhältnissen befinden, im Kontext des Pensionsvorschusses unterschiedlich. Während ein Gutachten, das Arbeitsfähigkeit attestiert, für Erstere eine Perpetuierung des Arbeitslosengeldes/der Notstandshilfe bedeutet, wird der Pensionsvorschuss bei Letzteren nach der gegenständlichen Judikatur des VwGH mit dem Vorliegen des Gutachtens (präziser: Kenntnis des AMS) eingestellt. Diese Ungleichbehandlung ist sachlich nicht gerechtfertigt und widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz. Beide Fallgruppen haben nur ein Ziel: eine finanzielle Absicherung in einer ohnedies prekären Lage! Lediglich Versicherte in aufrechten Arbeitsverhältnissen sind mit dieser Leistungslücke konfrontiert, die bei verfassungskonformer Interpretation vermieden werden kann. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass es wiederum auf die tatsächliche Kenntnisnahme der versicherten Person ankommen muss.

6.
Fazit

ME ist nach allen Auslegungsvarianten vom Vorliegen des Gutachtens auszugehen, wenn es in die Sphäre der versicherten Person gelangt. Das Ergebnis des VwGH wäre nach dem hier Gesagten durchaus diskussionswürdig. Jedenfalls ist es höchst wünschenswert, dass der Gesetzgeber reagiert und die beschriebene „Lücke“ schließt.