Das Betriebsrätegesetz von 1947
Das Betriebsrätegesetz von 1947
Am 28.3.1947 wurde von SPÖ und ÖVP das Betriebsrätegesetz (BRG) beschlossen. Inhalt und Bedeutung aus Perspektive von ÖGB und AK können aktuell wie folgt zusammengefasst werden:
„Das Betriebsrätegesetz (BGBl. Nr 97, 1947) verbessert unter Berücksichtigung der geänderten wirtschaftlichen und sozialpolitischen Verhältnisse das Betriebsrätegesetz vom Jahre 1919. Es gilt für Betriebe aller Art, ausgenommen sind nur Betriebe der Land- und Forstwirtschaft, Dienststellen der Hoheitsverwaltung, öffentliche Unterrichts- und Erziehungsanstalten und privaten Haushalte. BetriebsrätInnen sind in allen Betrieben zu wählen, in denen dauernd mindestens 20 ArbeitnehmerInnen beschäftigt sind. In Betrieben, die weniger als 20, aber dauernd mindestens fünf ArbeitnehmerInnen beschäftigen, sind „Vertrauensmänner“ zu bestellen. Von besonderem sozialpolitischem Interesse ist der Kündigungsschutz, den das Betriebsrätegesetz sowohl dem Betriebsrat, als auch der oder dem von der Kündigung betroffenen ArbeitnehmerIn gegen eine sozial unbillige Kündigung zugesteht.“*
Gegenstand und Ziel dieses Beitrags ist es, die historische Genese des BRG sowie die, oben bereits angedeuteten, konkreten wirtschaftlichen und (sozial)politischen Verhältnisse zu erläutern, welche die Beschlussfassung 1947 umrahmten.
Wie bereits erwähnt, bildet das am 15.5.1919 von der Konstituierenden Nationalversammlung beschlossene BRG 1919 die legistische Basis für das BRG 1947. Erstmals wurde damit rechtlich die Position der Interessenvertretung auf der betrieblichen Ebene festgeschrieben. Zuvor, im Habsburgerstaat, hatten demgegenüber lediglich juristisch nicht anerkannte Vertrauenspersonen in den Betrieben agiert. Diese hatten zudem mit permanenten Sanktionen der Unternehmensleitungen zu kämpfen.* Betriebsräte konnten nach dem neuen Gesetz in Betrieben ab 20 Beschäftigten gewählt werden und waren mit einer Reihe von Überwachungs- und Kontrollfunktionen ausgestattet. Hinzu kam der Kündigungsschutz für gewählte Betriebsräte sowie Strafbestimmungen für UnternehmerInnen, welche die Wahl bzw Arbeit eines BR behinderten. Der damalige Beschluss beinhaltete eine Reihe von Kompromissen. Zu diesen gehörten die Ausnahme landwirtschaftlicher Betriebe aus dem Geltungsbereich des Gesetzes, verpflichtende Wahl erst ab 20 und nicht, wie von AN-Seite gefordert, zehn Personen im Betrieb, sowie ein – im Gegensatz zu den Bestrebungen der Gewerkschaften – radikal reduziertes Strafausmaß bei Verletzungen der Bestimmungen durch die AG-Seite. Besonders umstritten waren die Einsichtsmöglichkeiten der Betriebsräte in Geschäftsberichte und Rechnungsabschlüsse. Die entsprechenden Verpflichtungen wurden – entgegen der ursprünglichen Regierungsvorlage – schließlich auf Handelsunternehmen mit mindestens 30 Angestellten und Industrieunternehmen beschränkt.* Nichtdestotrotz war der Beschluss in zweifacher Hinsicht bahnbrechend. Erstens wurde mit dem BRG 1919 rechtlich die bis dahin absolute Herrschaft des Unternehmers im Betrieb in Frage gestellt. Bis zu diesem Zeitpunkt beruhte, wie bereits skizziert, die betriebliche Position der AN ausschließlich auf den jeweils in den Betrieben konkret erkämpften und damit äußerst fragilen Machtverhältnissen.* Zweitens war dieses Gesetz das erste seiner Art in der kapitalistischen Welt. Die österreichische ArbeiterInnenbewegung übernahm somit in Fragen der betrieblichen Interessenvertretung eine internationale Pionierrolle.*
Der Erfolg, den das BRG 1919 aus Gewerkschaftsperspektive bedeutete, kann nicht getrennt von den nationalen und internationalen Rahmenbedingungen sowie der damit zusammenhängenden Gesamtstrategie der österreichischen ArbeiterInnenbewegung verstanden werden.* Zu diesen Rahmenbedingungen gehörten zunächst die von der russischen Revolution 1917 ausgehenden Rätebewegungen, die nicht zuletzt in Bayern und Ungarn zu – wenn auch kurzlebigen – sozialistischen Räterepubliken führten. Insb Ostösterreich entwickelte sich gegen Kriegsende ebenfalls zu einem Brennpunkt von ArbeiterInnenräten, die zunächst auf lokaler Ebene eine massive politische und wirtschaftliche Tätigkeit entfalteten.* Von Seiten der sich mit Kriegsende restrukturierenden Sozialdemokratie bzw dem Aufschwung der von503ihr dominierten „Freien Gewerkschaften“ setzte man darauf, dieser Entwicklung in den Städten und Gemeinden mit der Bildung von unmittelbar in den Betrieben tätigen Betriebsräten zu begegnen. Eingebettet war diese Idee der Interessenvertretung nicht zuletzt in ein Gesamtkonzept der – im Gegensatz zum Sowjet-Modell – schrittweisen Sozialisierung und damit auch Demokratisierung der Wirtschaft. Für bereits sozialisierte Teile war hier ein demokratisches Verwaltungsmodell aus je einem Drittel Belegschafts-, KonsumentInnen- und StaatsvertreterInnen vorgesehen.* Nach Otto Bauer, der diese Vorstellungen für Österreich entwickelt hatte, bedeuteten demgegenüber die Rechte, die das BRG 1919 im privaten Sektor einräumte, die Möglichkeit für die gewählten MandatarInnen entsprechende Steuerungskompetenzen in der Wirtschaft zu erlernen.* Diese Form der wirtschaftsdemokratischen Bildung und Erziehung in den Betrieben wurde somit sowohl als Voraussetzung als auch als notwendige Begleiterscheinung der von der Sozialdemokratie angestrebten, schrittweisen Umsetzung eines sozialistischen Gesellschaftsmodells betrachtet. In diesem Sinne war das BRG 1919 sowohl konzeptionell als auch faktisch Teil des „Paketes der Sozialisierungsgesetze“, die 1918/19 ausgearbeitet wurden. Demgegenüber ist aber auch zu betonen, dass das BRG selbst in bürgerlichen Kreisen auf Zustimmung stieß, da es für sich genommen im Rahmen der kapitalistischen Ordnung blieb. Nicht zuletzt trug es in der Folge faktisch zum Ende der Rätebewegung – die diese Ordnung ja zu sprengen drohte – bei.* In der Realität war das BRG bedeutender als andere Gesetze des „Sozialisierungspaketes“. Und zwar deshalb, weil in der politischen Realität der Ersten Republik die ambitionierten Sozialisierungsbestrebungen bald ins Stocken gerieten, während das BRG weiter in Kraft blieb.*
Nichtsdestotrotz erfolgte 1922 mit der Genfer Sanierung eine weitgehende Umorientierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik, von der die Gewerkschaften, aber auch die Praxis des Betriebsratswesens – und schließlich auch das BRG selbst –, nicht unberührt blieben. Die Gewerkschaften hatten 1922 bereits den Höhepunkt ihrer Entwicklung überschritten. Die hohe Arbeitslosigkeit schränkte ihre Kampf- und Widerstandsfähigkeit ein.* Durch die sich verstärkende Asymmetrie zu Ungunsten der Interessenvertretungen der ArbeiterInnenbewegung war die faktische Rolle von Betriebsräten zunehmend auf die – in der betrieblichen Praxis vielfach erfolglose – Verteidigung ihrer im BRG festgehaltenen Rechte beschränkt.* Schlusspunkt dieser Entwicklung war die Verordnung der Regierung Dollfuß vom 23.2.1934 (also wenige Tage nach dem Februaraufstand), die alle Betriebsratsmandate von SozialdemokratInnen/FreigewerkschafterInnen für ungültig erklärte. Das BRG selbst blieb demgegenüber noch etwas länger, nämlich bis zur Verabschiedung des Gesetzes über die Werksgemeinschaften durch den Ministerrat am 12.7.1934, in Kraft.* Während sich trotz der ständischen Grundlage und der Repression des Austrofaschismus bestimmte Elemente betrieblicher Interessenvertretung in der Realität behaupten konnten, beseitigte der Nationalsozialismus sowohl rechtlich als auch real jede Form der eigenständigen überbetrieblichen und betrieblichen Organisation außerhalb der strengen Illegalität. Die Vertreibung und Ermordung einer ganzen Generation linker IdeologInnen und gewerkschaftlicher AktivistInnen bedeutete zudem auch auf der betrieblichen Ebene eine auf die Entwicklung nach 1945 nachhaltig wirkende Zäsur.*
In einer der jüngsten und gleichzeitig interessantesten Publikationen zur österreichischen Gewerkschaftsgeschichte werden die Jahre 1947 und 1948 zurecht als „Wendepunkt“ im Europa der Nachkriegszeit bezeichnet. Vor dem Hintergrund der Neuaufteilung der Welt begann bereits 1945/46 der antifaschistische Nachkriegskonsens zu zerbrechen. Die Truman-Doktrin im Westen und stalinistische Transformationen in Osteuropa läuteten den „Kalten Krieg“ ein.* Die Rahmenbedingungen in Österreich waren nach 1945 – neben der allgemeinen Not – natürlich von der Besatzung, aber auch dem Fehlen eines starken Besitzbürgertums im Kontext mit der allgemeinen Zerstörung von Infrastruktur und des nunmehr „herrenlosen“ deutschen Eigentums geprägt. Als langfristig stabilisierende Faktoren erwiesen sich in diesem Zusammenhang zunächst die Bildung einer von allen Seiten anerkannten Zentralregierung, aber auch die folgenden, umfassenden Verstaatlichungen. Diese regelten nicht nur vakante Eigentumsfragen. Sie sicherten auch die (kapitalistische) Restauration der Gesamtwirtschaft ab und boten gleichzeitig erhöhte Einflussmöglichkeiten für die politischen Akteure, insb auch die Interessenvertretungen der AN bzw deren Spitzen.* Vor diesem Hintergrund der eigenen ökonomischen Schwäche existierte auf der Unternehmerseite ein – im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit – ausgeprägter Wille zur Kooperation. Dieser wurde, ausgehend vom New Deal504der 1930er-Jahre, nicht zuletzt auch durch damals moderne Vorstellungen aus dem Westen befeuert. Diese Ideen sahen ua den Ausbau betrieblicher Kontroll- und Mitspracherechte als Basis für eine erfolgreiche bzw kontinuierliche ökonomische und demokratische Entwicklung vor.* Angesichts der Besatzung, aber auch der Aussicht auf einen, nach diesem Modell, ökonomischen und demokratischen Neubeginn, war die realpolitische Linie des sozialdemokratisch dominierten ÖGB ebenfalls stark auf Kooperation auf Spitzenebene ausgerichtet.* Als für die Umsetzung dieser Linie bedeutsam erwies sich diesbezüglich die Neukonstitution der österreichischen Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1945 als einheitlicher und ausgeprägt zentralistischer Gewerkschaftsbund. Dieses Konzept war 1945 durch wenige Funktionäre der SPÖ, ÖVP und KPÖ entwickelt worden und wurde in der Folge „von oben“ implementiert. Es stand damit im Gegensatz zu den „historischen“ Richtungsgewerkschaften bzw der wenig bedeutsamen Zentralkommission der (freien) Gewerkschaften in der Monarchie bzw der Ersten Republik.*
Auch wenn damit bereits 1945-1947 wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung der „Sozialpartnerschaft“ existierten, gelten erst die fünf Lohn- und Preisabkommen zwischen August 1947 und Juli 1951 als Beginn bzw erste Phase der Institutionalisierung dieses Systems.* Die rund zweijährige Phase nach dem Kriegsende stellte somit nicht nur auf internationaler Ebene, sondern auch für Österreich eine Übergangsperiode dar. In dieser waren Faktoren, welche die sozialpartnerschaftliche Praxis sowohl sozial- als auch demokratiepolitisch in Frage stellten, zumindest noch eine Art akzeptierte Normalität im politischen bzw gewerkschaftlichen Gefüge. Zu diesen Faktoren zählten nicht nur die vergleichsweise prominente Rolle der KPÖ als – zwar zunehmend an den Rand gedrängte – Regierungspartei, aber auch im ÖGB, sowie eine organisierte linke Opposition innerhalb der SPÖ.* Ebenso kam es in dieser Periode zu spontanen sozialen Protesten und Arbeitsniederlegungen, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der ersten politischen Massenkundgebung nach dem Krieg am 5.5.1947, also wenige Wochen nach dem Beschluss des BRG 1947, fanden.* Zu den besonders spannenden Aspekten der unmittelbaren Nachkriegsperiode gehörten dabei auch die Entwicklungen in den Betrieben, die sich unmittelbar zu/nach Kriegsende im Kontext der Entnazifizierung abspielten. Zahlreiche NS-„Betriebsführer“ verließen 1945 ihre Arbeitsplätze oder wurden in verschiedenen Fällen durch VertreterInnen aus der Belegschaft ersetzt. Das NS-Verbotsgesetz vom 8.5.1945 bestimmte zudem, dass NS-Mitglieder sich wirtschaftlich nicht mehr führend betätigen durften.* Mit den Gesetzen über die Bestellung öffentlicher VerwalterInnen und über die Erfassung arisierter Unternehmungen vom 10.5.1945 wurden Staatsämter zur Einsetzung solcher VerwalterInnen gebildet. Die Anzahl der durch diese Ämter bestellten BetriebsleiterInnen betrug laut ÖGB insgesamt 6.000 Personen.* Die entsprechenden Prozesse der Übernahme von Betriebsleitungen waren in der Praxis zudem oft konfliktreich, aber auch unterschiedlich in ihrem konkreten Ausgang.* Manchmal gemeinsam mit den VerwalterInnen, manchmal ohne diese, begannen auch die Belegschaften mit dem Aufbau neuer organisatorischer Strukturen, die teilweise massiv auf allen Ebenen der betrieblichen Praxis eingriffen. Bei den EisenbahnerInnen fungierten beispielsweise „Aktionsausschüsse“ als Leitungsorgane und Personalvertretung in einem.*
Für das Zustandekommen von unabhängigen betrieblichen Interessenvertretungen existierten demgegenüber nach dem Ende der NS-Diktatur zunächst keine rechtlichen Grundlagen. Die einzige Basis der (provisorischen) Wahlen für (provisorische) Betriebsrats- und Vertrauensleutekörperschaften bildete zunächst eine Vereinbarung, die 1945 zwischen Unternehmer- und GewerkschaftsvertreterInnen abgeschlossen wurde. Nach Aufforderung des Staatsamtes für soziale Verwaltung gab der ÖGB am 15.9.1945 Richtlinien für Betriebsratswahlen aus, die sich am BRG 1919 orientierten. Obwohl damit das BRG eben nicht wieder in Kraft gesetzt worden war, fanden derart gewählte Betriebsräte fast restlos Anerkennung.* Gleichzeitig wurde von verschiedenen Seiten begonnen – wie auch in anderen Bereichen des Arbeits- und Sozialrechts –, an der Wiederherstellung der entsprechenden gesetzlichen Basis zu arbeiten. Im Fall des BRG forderten AK und ÖGB allerdings eine Neuregelung, welche die Wirkungsmöglichkeiten der Betriebsräte gegenüber der Gesetzeslage von 1919 erweitern sollten. Der Tätigkeitsbericht des ÖGB 1945-1947 spiegelte wider, dass dieses Ansinnen durchaus auch der betrieblichen Realität in Österreich entsprach: „In vielen Fällen konnte sich die Arbeiterschaft auf Grund ihrer Leistungen für den Wiederaufbau einen Einfluß in den Betrieben sichern, der über die Bestimmungen des alten Betriebsrätegesetzes hinausging
.“*
Bereits im ersten Halbjahr 1946 erstellte das BM für soziale Verwaltung unter dem Sozialminister und Metallgewerkschafter Karl Maisel einen Entwurf zu einem neuen BRG.* Neben Fragen der Rechts-505sicherheit anerkannte die Regierung darin grundsätzlich die Notwendigkeit, die Betriebsverfassung unter der Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen, aber vor allem auch demokratischen Bedürfnisse und Rechte der AN neu zu regeln. Durch diese Neuregelung sollte allerdings auch die Leistungsfähigkeit und Bereitschaft der arbeitenden Bevölkerung gesteigert und der Wiederaufbau beschleunigt werden.* Trotz der auch hier deutlich erkennbaren, wirtschaftspartnerschaftlich orientierten Grundlinie divergierten die Stellungnahmen der unterschiedlichen Interessenvertretungen naturgemäß stark. Die AK entwickelte im Begutachtungsverfahren schließlich einen eigenen Gesetzesentwurf, der Ende 1946 fast wortident von mehreren Abgeordneten der SPÖ als Initiativantrag eingebracht wurde.*
Die wesentlichen Reibungspunkte zwischen den VertreterInnen von AK, ÖGB und SPÖ bzw der Wirtschaftskammer und der ÖVP bildeten Fragen des Geltungsbereichs des BRG, Aufgaben und Befugnisse bzw Mitsprache- und Kontrollrechte der Betriebsräte sowie Fragen der Verschwiegenheitspflicht, des Kündigungsschutzes, der Schiedsgerichtsbarkeit bzw von Strafbestimmungen bei Verstößen. Die Stoßrichtung der AN-Seite war dabei klar auf die Teilnahme – und nicht die bloße Mitwirkung – an der Betriebsführung ausgerichtet. Das galt insb für alle Personalangelegenheiten (inklusive Kündigungen), aber auch bei der Erstellung von Wirtschaftsplänen, bei Stilllegungen oder einer Veränderung der Produktionsweise.*
Regierungsvorlage und Initiativantrag wurden im Ausschuss für soziale Verwaltung des Nationalrats behandelt. Dem entsprechenden Unterausschuss gehörten VertreterInnen aller drei Regierungsparteien (SPÖ, ÖVP und KPÖ) an. Dieser legte schließlich den endgültigen Gesetzestext am 28.3.1947 zur Beschlussfassung vor.* Die wesentlichen Neuerungen gegenüber dem BRG 1919 blieben darin deutlich hinter den Ambitionen von ÖGB und AK zurück: Schaffung des Zentralbetriebsrates sowie der Betriebsversammlung als Organ der Gesamtbelegschaft, Ausbau der Schutzbestimmungen für Betriebsratsmitglieder und die Freistellung ab (damals) 200 Beschäftigten.* Auf einige Diskrepanzen zwischen den ursprünglichen Forderungen der AN-Interessenvertretungen und dem BRG 1947 wiesen eine Reihe von Abänderungsanträgen der SPÖ hin, die aber allesamt abgelehnt wurden.* In seiner Rede an das Plenum des Nationalrates bezeichnete Friedrich Hillegeist (SPÖ) das BRG zwar angesichts des bisherigen Mangels einer gesetzlichen Grundlage als absolute Notwendigkeit. Er kritisierte aber – wie die KPÖ – insb das Fehlen des Mitwirkungsrechts des BR bei Neuaufnahmen. Ebenso forderte er, analog zu den SPÖ-Initiativanträgen, die Option eines aufschiebenden Vetos durch den BR bei Betriebsschließungen bereits in Betrieben mit mehr als 200 Beschäftigten (im BRG waren 500 Personen vorgesehen) zu verankern.*Viktor Elser von der KPÖ – die dem Gesetz als einzige Partei nicht zustimmte – kritisierte darüber hinaus die fehlende Verankerung eines allgemeinen, wirtschaftspolitischen Einflusses für Betriebsräte. Lediglich bei Betrieben über 500 Personen sei eine Mitwirkung vorgesehen. Damit wären 9/10 aller österreichischen Betriebe nicht betroffen. Das BRG 1947 sei in diesem Sinne nur eine „Kopie“ des BRG 1919.* Für Alfred Maleta (ÖVP) war das BRG demgegenüber vor allem ein Mittel zur Erreichung des sozialen Friedens und sozialen Fortschritts. Maleta – eigentlich ÖVP-AN- und nicht Wirtschaftsvertreter – rechtfertigte zudem die Ausnahme der LandarbeiterInnen aus dem Geltungsbereich des Gesetzes (Landessache) sowie die de facto-Beschränkung der Mitsprache auf – verstaatlichte – Großbetriebe: „Das ist vorläufig genügend Feld zum Experimentieren.
“*
Trotz dieser gegensätzlichen Positionen zeigten sich im Zusammenhang mit der Gestaltung des politischen Prozesses bis zur Beschlussfassung in markanter Weise die Methoden, die zwischen den nunmehrigen „Sozialpartnern“ bzw von SPÖ und ÖVP 1947-1951 weiter verfestigt wurden. Die Verhandlungen erfolgten durch VertreterInnen der Interessenvertretungen in den Gremien und Ausschüssen hinter verschlossenen Türen bzw waren von der Regierung dorthin ausgelagert worden. Die AkteurInnen berichteten im Vorfeld kaum öffentlich in ihren Medien. Selbst die Beschlussfassung fand ohne breite, abschließende Debatte im Nationalrat statt.* Die außerparlamentarische bzw betriebliche Mobilisierung unterblieb in dieser, für die Gewerkschaften an sich zentralen, Frage völlig. Selbst die KPÖ-Geschichtsschreibung, welche das Gesetz heftig kritisierte, nennt als einzigen außerparlamentarischen Protest zum BRG eine Betriebsrätekonferenz der Alpine-Betriebsräte vom 29.3.1947 – also nach der Beschlussfassung im Parlament.* Die Gründe für diese „Nicht-Mobilisierungen“ liegen auf der Hand: Zum einen rückten die Lebensmittelknappheit und die Folgen des Hungerwinters 1946/47 zu diesem Zeitpunkt andere Fragen in den Mittelpunkt. Zum anderen agierte der ÖGB schon gegenüber den zu diesem Zeitpunkt bestehenden Protesten und Mobilisierungen, die diese Probleme betrafen, skeptisch bis ablehnend. So hatten sich bereits im Herbst 1946 alleine in Niederösterreich 72 Betriebe an sogenannten Kalorienstreiks beteiligt. Im März und April streikten sowohl mehrere Abteilungen der Alpine Donauwitz als auch verschiedene Industriebetriebe in Wien und Niederösterreich. Die bereits erwähnte erste politische Massenkundgebung vom 5.5.1947 am Ballhausplatz und die darauffolgenden Streiks in 114 Betrieben in Wien und Umgebung waren insb ohne die zentrale Initiative der Gewerkschaften zustande gekommen. Der ÖGB warnte in dieser506Periode bereits deutlich vor Streiks und Demonstrationen ohne seine ausdrückliche Anordnung und betrachtete weitere Proteste eher als Problemfälle denn als Unterstützung für gewerkschaftliche Anliegen.*
Während das BRG 1919 in seiner – auch internationalen – Pionierrolle als „Meilenstein“ (Filla) auf dem Weg betrieblicher Demokratie unstrittig ist, unterscheiden sich die Bewertungen zum BRG 1947.* Die AK beschrieb 1948 das BRG als „das im Jahr 1947 bedeutendste sozialpolitische Gesetz
“, mit dem die „jahrzehntealte Forderung
“ nach einer „demokratischen Betriebsverfassung verwirklicht
“ werde.*Friedrich Hillegeist sah einen „bedeutenden Fortschritt
“ in Richtung „einer gesunden Betriebsdemokratie
“.* Diesen zeitgenössischen Einschätzungen widersprechen allerdings in der Folge vor allem auch gewerkschaftsnahe AutorInnen. So sieht zB Emmerich Tálos im BRG 1947 zwar eine Erweiterung der Befugnisse und Aufgaben der Betriebsräte, während sich aber die ÖVP den von ihr vertretenen Grundsatz der Dispositionsfreiheit der Unternehmer im Großen und Ganzen durchsetzen konnte.* Auch eine jüngere Publikation zur Genese des BRG räumt dem BRG 1947 nur wenig Platz ein und hebt demgegenüber eher das ArbVG von 1973 bzw dessen Novellierung in den 1980er-Jahren hervor.*
Wilhelm Filla schrieb über das BRG 1919, dass dieses „keinen legistischen Akt
“ darstelle, der „der sozialen Wirklichkeit voraussetzungslos aufgepfropft wurde
“.* Diese Analyse gilt für das BRG 1947 mE nur eingeschränkt. Der unmittelbare Druck für das BRG 1947 resultierte zwar ebenfalls – zumindest zum Teil – aus sozialen Bewegungen, die sich aus der Entnazifizierung auf betrieblicher Ebene ergaben. Es ging der Regierung und den Interessenvertretungen gemeinsam aber nicht nur darum, die mehr oder weniger spontan entstehenden betrieblichen Initiativen in rechtlich legale, sondern auch kontrollierbare Bahnen zu bringen. Vorhandene starke und eigenständige betriebliche Positionen der AN blieben in den Verhandlungen – soweit nachvollziehbar – anders als 1919 ungenutzt. Das Zustandekommen und der Kompromiss des BRG 1947 spiegelten damit den bereits eingeschlagenen Weg der Interessenvertretungen Richtung „Sozialpartnerschaft“ wider. Im Gegensatz zu den folgenden Lohn- und Preisabkommen entzündeten sich am BRG 1947 aber aus den genannten Gründen keine nennenswerten Proteste oder Widerstände. Obwohl das BRG 1947 auf dem BRG 1919 fußte, unterschieden sich das BRG 1919 und das BRG 1947 damit auch im konzeptionellen Gesamtkontext fundamental. Während das BRG 1919 im Zusammenhang mit Sozialisierungsgesetzen und den langfristigen, gesellschaftsverändernden Zielen der Sozialisierung zu sehen ist, bilden die Konzepte einer Wirtschaftspartnerschaft im Kontext von wirtschaftlichem Aufbau den eigentlichen Hintergrund für das Agieren der Interessenvertretungen rund um das BRG 1947.507