Mosler/Pfeil (Hrsg)Mindestlohn im Spannungsfeld zwischen Kollektivvertragsautonomie und staatlicher Sozialpolitik
Verlag des ÖGB, Wien 2016, 184 Seiten, kartoniert, € 24,90
Mosler/Pfeil (Hrsg)Mindestlohn im Spannungsfeld zwischen Kollektivvertragsautonomie und staatlicher Sozialpolitik
Dies hier besprochene Buch ist der Tagungsband zu einer gleichnamigen Tagung, die im Jänner 2016 in Salzburg stattgefunden hat, und beinhaltet die zum Teil erweiterten Vorträge sowie eine Wiedergabe der anschließenden, von Pfeil moderierten Podiumsdiskussion. Die Frage der Notwendigkeit gesetzlicher Mindestlöhne und deren Verhältnis zur Kollektivvertragsautonomie war und ist immer wieder Gegenstand der politischen und wissenschaftlichen Diskussion, die in Österreich mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in Deutschland durch das Mindestlohngesetz, das einen jährlich anzupassenden gesetzlichen Mindestlohn von zum Zeitpunkt der Tagung € 8,50 pro Stunde vorsah, neuen Zündstoff erhalten hat.
Vor diesem Hintergrund ist logisch, dass der erste Beitrag von Deinert das deutsche Mindestlohngesetz behandelt. Bevor ich auf den Inhalt seiner Ausführungen eingehe, muss ich jedoch auf einige wesentliche Unterschiede zwischen dem deutschen Tarifvertragsrecht und dem österreichischen Kollektivvertragsrecht hinweisen. Anders als in Österreich kann in Deutschland aufgrund des dortigen Verständnisses der Koalitionsfreiheit keine gesetzliche Interessenvertretung mit Pflichtmitgliedschaft Tarifverträge abschließen. Darüber hinaus verlangt das deutsche Tarifvertragsgesetz die doppelte Tarifgebundenheit mit der Folge, dass sowohl der AG als auch der AN Mitglied des am Tarifvertrag beteiligten, auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhenden AG- bzw AN-Verbandes sein muss. Auch kennt das deutsche Recht weder auf AG- noch auf AN-Seite eine Außenseiterwirkung von Tarifverträgen. Dies hat zur Konsequenz, dass im Westen Deutschlands eine Tarifbindung von weniger als 60 %, im Osten von weniger als 50 % der Arbeitsverhältnisse besteht, was bei einer Tarifbindung von ca 98 % in Österreich die Notwendigkeit gesetzlicher Mindestlöhne in einem anderen Licht erscheinen lässt. Von dem gesetzlichen Mindestlohn profitieren in Deutschland ca 13 % der AN, die bisher schlechter als € 8,50 pro Stunde entlohnt wurden. Neben den deskriptiven Darstellungen des Mindestlohngesetzes und der dogmatischen Einordnung des Mindestlohnes lassen sich den Ausführungen von Deinert jedoch auch Aussagen entnehmen, die sich für die Diskussion der Notwendigkeit gesetzlicher Mindestlohnregelungen in Österreich fruchtbar machen lassen. So wird in Deutschland der gesetzliche Mindestlohn bspw teilweise als eine Stärkung der Tarifautonomie gesehen, da unterhalb des gesetzlichen Mindestlohnes die Gewerkschaften keine Notwendigkeit haben, Tarifverhandlungen einzugehen, und darüber hinaus durch gesetzliche Mindestlöhne auch AG- wie AN-Außenseiter erfasst werden. Auch stärken gesetzliche Mindestlöhne das deutsche Sozialversicherungssystem. Für die österreichische politische Diskussion halte ich zudem die Feststellung Deinerts für wichtig, dass die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne in Deutschland zu keinen negativen beschäftigungspolitischen Auswirkungen geführt hat.512
Im folgenden Beitrag befasst sich Melzer-Azodanloo mit den rechtlichen Instrumenten der Mindestlohnpolitik in Österreich, namentlich mit dem Mindestlohntarif, der Lehrlingsentschädigung, dem Gesamtvertrag, dem Heimarbeitstarif und dem Heimarbeitsgesamtvertrag, dem KollV, dem General-KollV und der Satzung. Angesichts der durch diese Regelungen in Österreich bestehenden, im internationalen Vergleich extrem hohen Tarifbindung vertritt Melzer-Azodanloo die Auffassung, dass es keiner gesetzlichen Festlegung von Mindestentgelten bedarf. Diese Auffassung stützt sie vor allem dadurch, dass es die Möglichkeit gibt, durch den General-KollV das Mindestentgelt zu regeln und sämtliche AG-Außenseiter durch Satzung dieses General-KollV an diese Mindestlöhne zu binden. ME ist dieses Ergebnis auch dadurch zu stützen, dass einer der hinter dem österreichischen Kollektivvertragsrecht stehenden Grundgedanken ist, dass mit den Sozialpartnern die Arbeitsbedingungen durch Institutionen geregelt werden sollen, die das Arbeitsleben innerhalb der jeweiligen Branchen besser kennen als die Parlamentsmitglieder.
Unter dem Titel „Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Mindestlohnpolitik“ befasst sich Felten mit der Frage, ob durch die Vorgaben des Verfassungs- und Europarechts der nationale Gesetzgeber verpflichtet ist, einen gesetzlichen Mindestlohn vorzusehen, bzw ob diese Regelungen einer nationalen gesetzlichen Regelung zur Festlegung des Mindestlohns entgegenstehen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass weder das Verfassungs- noch das Europarecht einen gesetzlichen Mindestlohn vorgeben noch ihm entgegenstehen. Als wesentliche Argumente führt Felten an, dass das österreichische Staatsgrundgesetz (StGG) anders als das deutsche Grundgesetz (GG) kein Gebot zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums enthalte. Zwar lege auch Art 31 der Grundrechtecharta (GRC) einen Anspruch auf „gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen“ fest, worunter seiner Meinung nach entgegen der hM auch das Arbeitsentgelt falle. Jedoch könne die GRC nur bei Auslandsbezug zur Anwendung kommen. Aus dem Blickwinkel der Dienstleistungsfreiheit erachtet Felten die Einführung von Mindestlöhnen nur dann bedenklich, wenn sie nicht flächendeckend für alle inländischen AN gelten. Bedenken in Bezug auf die Vereinbarkeit eines gesetzlichen Mindestlohnes mit der Koalitionsfreiheit äußert er nur für den Fall, dass die Art der gesetzlichen Mindestlöhne den Bedarf am kollektiven Ausverhandeln von Mindestlöhnen entbehrlich macht und dadurch auch für den Beitritt zu einer freiwilligen Berufsvereinigung kein Anreiz mehr besteht. Diese Sorge kann ich zwar abstrakt, nicht aber faktisch teilen, da sich die Diskussion über die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne auf einem Entgeltniveau abspielt, das den Kollektivvertragsparteien nach oben hin noch weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten offenlässt.
In seinem Beitrag „Verhinderung von prekären Arbeitsverhältnissen: Mindestlohn gegen Grundeinkommen“ befasst sich Firlei seinen eigenen Worten nach „ausschließlich mit der Entgeltprekarität“, wobei er ausdrücklich darauf aufmerksam macht, dass diese nicht nur im Niedriglohnsektor bestehen kann, sondern auch gegeben ist, wenn ein auf den ersten Blick nominell ausreichendes Entgelt in Wirklichkeit nicht eine angemessene Gegenleistung für die erbrachten Leistungen und Belastungen ist. Ausgehend von dieser These behandelt Firlei die Frage, wie niedrig oder hoch Mindestlöhne sein dürfen. Dabei geht er insb auf die Vorgaben internationaler Abkommen, die Sittenwidrigkeit und in diesem Zusammenhang auf die Angemessenheit von Entgelten ein, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass allein das Kriterium der Angemessenheit des Entgelts für eine Mindestlohnpolitik ungeeignet sei. Als wesentliche Punkte bei der Bestimmung eines absoluten Mindestlohnes schlägt er einen „angemessenen Tauschwert der Arbeitsleistung“, die Berechnung auf Netto-Basis sowie eine Relation zum sozialen Existenzminimum vor, wobei das Mindestentgelt deutlich über dem Existenzminimum liegen müsse. Darüber hinaus habe bei der Festlegung von absoluten Mindestlöhnen eine „Beteiligung an der steigenden volkswirtschaftlichen Produktivität“ vor allem in Form von periodischen Anpassungen zu erfolgen. Der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens erklärt Firlei jedoch eine eindeutige Absage, da es die Arbeit gesellschaftspolitisch, ökonomisch und sozialpolitisch an den Rand drücken würde und zudem auch wesentliche Aspekte des bisherigen Systems der sozialen Sicherheit nicht erfüllen könne. Grundsätzlich sieht er die bestehenden Gestaltungsmöglichkeiten des Arbeitsrechts als ausreichendes Regelungsinstrument an, weshalb insb kein Mindestlohngesetz erforderlich sei. Allerdings zeichnet Firlei insgesamt ein düsteres Bild vom gesellschafts- und sozialpolitischen Ist-Zustand, ohne dessen Änderung eine vernünftige Lohnpolitik durch die kollektiven Regelungsinstrumente nicht möglich sei.
Neben diesen rechtlichen Beiträgen enthält der Sammelband auch zwei sozialwissenschaftliche Beiträge. In seinem Beitrag „Mindestlöhne und Mindestlohnregime im europäischen Vergleich“ bringt Schulten einen repräsentativen Überblick über bestehende kollektivvertragliche und gesetzliche Mindestlohnsysteme inklusive einer Vielzahl von Statistiken und befasst sich zudem mit der Debatte über eine koordinierende, europäische Mindestlohnpolitik. Fink/Rocha-Akis behandeln unter dem Titel „Kurzfristige Einkommens- und Verteilungseffekte der Einführung eines flächendeckenden Mindestlohnes“ – auf Basis eines mit Hilfe der WIFO geschaffenen Mikrosimulationsmodells – die Auswirkungen der Einführung eines kollektivvertraglichen Monatslohns von € 1.700,–, was einem Bruttostundenlohn von € 9,80 entspricht. Gerade für die Frage der Notwendigkeit der Festlegung eines solchen Mindestlohnes sind die Feststellungen relevant, dass ca 20 % der AN von dieser Regelung betroffen sind und der größte Teil der betroffenen AN weiblich ist. Beide sozialwissenschaftlichen Beiträge gehen aber ebenfalls davon aus, dass in Österreich mit dem bestehenden Kollektivvertragsrecht ein ausreichendes Instrumentarium zur Festsetzung von Mindestlöhnen existiert.
Der Tagungsband zeigt aus einer Vielzahl von Blickwinkeln, dass – mE vollkommen zu Recht – in Österreich kein Regelungsbedarf hinsichtlich eines gesetzlichen Mindestlohnes besteht. Er ist gerade aufgrund der Vielfältigkeit der behandelten Ansätze ein wichtiger Beitrag zur immer wieder diesbezüglich aufflammenden Diskussion.513