SteinerReinhold Melas und die österreichische Sozialversicherung
Verlag des ÖGB, Wien 2017 184 Seiten, gebunden, € 36,–
SteinerReinhold Melas und die österreichische Sozialversicherung
Mit Guenther Steiner mausert sich ein junger Historiker zum Geschichtsschreiber der österreichischen518Sozialversicherung. Nach Studien der Politikwissenschaft und Geschichte an den Universitäten Salzburg und Innsbruck (Dr. phil. 2003) arbeitet er seit März 2010 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Konfliktforschung, ua mit dem Forschungsschwerpunkt Geschichte und Entwicklung der Sozialversicherung und der Sozialpolitik in Österreich. Nach Büchern über Friedrich Hillegeist, Karl Maisel, Johann Böhm, über den Hauptverband und nach dem Erscheinen des historischen Überblicks „60 Jahre Allgemeines Sozialversicherungsgesetz“ (Rezension siehe DRdA 2017, 242) legt dieser Autor nun eine Arbeit über Reinhold Melas vor. Unmittelbarer Anlass dazu ist dessen 40. Todestag. Der Zeitpunkt könnte aber auch aus anderen Gründen besser nicht gewählt sein, gibt es doch eine aktuelle Diskussion über die Vielzahl der Sozialversicherungsträger und ob man sie nicht unter „Effizienzgesichtspunkten“ besser zu einigen wenigen zusammenlegen könnte (vgl nur die Entschließungsanträge der NEOS 37/A (E); 755/A (E) 25. GP; 792/A (E) 25. GP; ferner http://derstandard.at/2000037953313/Regierung-will-Sozialversicherung-und-Gewerbeordnung-modernisierenhttp://derstandard.at/2000037953313/Regierung-will-Sozialversicherung-und-Gewerbeordnung-modernisieren; http://www.nachrichten.at/nachrichten/politik/landespolitik/Sozialversicherungstraeger-AErztekammer-gegen-Zusammenlegung;art383,2251507http://www.nachrichten.at/nachrichten/politik/landespolitik/Sozialversicherungstraeger-AErztekammer-gegen-Zusammenlegung;art383,2251507; http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/821987_Regierung-startet-Kassenkampf.htmlhttp://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/821987_Regierung-startet-Kassenkampf.html; uva). Reinhold Melas hat als Vertreter eines Modells, das einen einheitlichen Träger für die PV vorgesehen hätte, diese Diskussionen – wie man jetzt nachlesen kann – schon im Jahre 1947 geführt. Er hat sich als erklärter „Zentralist“ zwar gegen die Interessengruppen, die für eine eher berufsständisch organisierte Sozialversicherung (wohlgemerkt: damals nur der unselbständig Erwerbstätigen) eingetreten sind, nicht durchsetzen können, wohl aber – als Gegengewicht gegen allzuviel Partikularismus – die Schaffung des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger, der zunächst als eine Art „Familienbetrieb“ „in einem Turmzimmer des Hauses der Wiener Gebietskrankenkasse in der Wipplingerstrasse“ (S 52) untergebracht war, und als dessen geistiger Vater er gilt. Er war der erste „Leitende Angestellte“ des Hauptverbandes ab 1.1.1948 und schließlich ihr Generaldirektor ab 1967, eine Funktion die er bis 1970 bekleidete. „Melas war der Hauptverband“ heißt es in einer Kapitelüberschrift (S 47) und auch im Resümee des Autors (S 165).
Es ist schwer zu entscheiden, ob man Reinhold Melas als Kind der Sozialversicherung bezeichnen soll oder ob die Sozialversicherung sein Kind war – beides stimmt irgendwie. Er hatte jedenfalls – und das lässt sich aus der Biographie ableiten – eine nahezu erotische Beziehung zu dieser Institution (er bezeichnete sie als seine „zweite Liebe“, S 12), der er – unter Ablehnung diverser Angebote aus der Politik – sein gesamtes Berufsleben widmete, beginnend mit seinem Eintritt in die „Krankenkasse der Handlungsgehilfen“ am 1.4.1927, dem eine Tätigkeit im Magistrat vorangegangen war. Er kam zwar aus dem Gemeindebau, war aber ein früh verwaistes Kind aus eher bürgerlichem Milieu, das sich ua als Barpianist einen bescheidenen Unterhalt verdiente. Das hatte ihn für sein Leben geprägt und wohl auch der Sozialdemokratie zugeführt. 1930 Leiter der Rechtsabteilung, Stellvertreter des leitenden Angestellten, 1934 als Sozialdemokrat von dieser Funktion enthoben. Dann Angestellter der „Ortskrankenkasse“. Am 16.4.1945 nehmen die ehemaligen Wiener Sozialversicherungsträger ihre Arbeit wieder auf (S 15) und Reinhold Melas ist von Anfang an als Fachexperte dabei. Und er ist ein „Partisan der Selbstverwaltung“ (S 20 ff), wie ihn ein Weggefährte nannte. Das Buch schildert an dieser Stelle die Bemühungen im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft von 14 Versicherungsträgern aus Wien und Niederösterreich um die Wiedererrichtung der Organisation der österreichischen SV, wie sie schließlich im Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz 1947 nur zum Teil ihren Niederschlag gefunden haben. Interessant ist, dass die Arbeitsgemeinschaft ursprünglich ua die Durchführung der UV durch einen gemeinsamen Träger für die Rentenversicherung forderte (auch vor 1938 gab es für die UV keinen eigenen Träger) und die Durchführung der AlV in Selbstverwaltung (S 29). Als Meilenstein in dieser frühen Entwicklung gilt zu Recht der erste Rahmenvertrag mit den Ärzten vom 10.4.1947 und damit die bis heute maßgebliche Weichenstellung der Leistungsbereitstellung durch freiberuflich tätige und nicht – analog zum System des staatlichen Gesundheitsdienstes im Vereinigten Königreich – durch angestellte Ärzte.
Melas gehörte auch zu jenen, die erfolgreich für die Wiedererrichtung der erwerbsbezogenen SV österreichischen Zuschnitts und gegen eine Volksversicherung nach englischem Muster aussprachen, wie sie ursprünglich die SPÖ auf ihre Fahnen geheftet hatte (S 57 ff). Melas trat für den Hillegeist-Plan, für die Anhebung der Altrenten auf das Niveau des ASVG und in weiterer Folge auch für eine regelmäßige Pensionsanpassung ein, er sah die Finanzierung der KV einschließlich eines wechselseitigen Risikoausgleichs der Krankenversicherungsträger (eine Frage, die aufgrund einer eher restriktiven Rsp des VfGH bis heute nicht befriedigend gelöst werden konnte) als elementar für das Gesamtsystem an (S 119 ff). Finanzierungsfragen der SV begleiteten Melas wie auch die SV selbst durch seine gesamte Amtszeit.
Steiner beschreibt Melas (neben Hillegeist und Böhm), als eine „zentrale Gestalt der Sozialversicherungspolitik“ der ersten 25 Jahre der zweiten Republik. Der vorliegende Band enthält unzählige historische Details aus Berichten von Zeitgenossen und aus Dokumenten. Für jemanden wie den Rezensenten, der sich seit rund 40 Jahren eher nur mit der juristischen Seite der SV beschäftigt, tut sich mit diesem Buch eine interessante sozialpolitische Welt auf, die man in diesem Detailreichtum nicht gekannt hatte. Das Buch setzt einer faszinierenden Persönlichkeit der österreichischen Sozialversicherungspolitik ein ihr gebührendes Denkmal. Der Band sei allen, die sich für Zeitgeschichte, für Sozialpolitik und im Besonderen für die SV interessieren, zur Lektüre wärmstens empfohlen, vor allem aber auch jenen, die sich in ihrem Verantwortungsbereich aktuell mit Reformgedanken zu den Institutionen der SV tragen. Sie sollten daraus Gewinn ziehen.519