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Der EuGH und das Kopftuch

THOMASMAJOROS (WIEN)
Art 2 Abs 1 und 2; Art 4 Abs 1 RL 2000/78/EG; Art 9 EMRK; Art 10 und 16 GRC
EuGH 14.3.2017 C-188/15Asma Bougnaoui/Micropole SA

Art 4 Abs 1 der RL 2000/78/EG ist dahin auszulegen, dass der Wille eines/einer AG, Kundenwünschen zu entsprechen, die Leistungen dieses/dieser AG nicht mehr von einer AN ausführen zu lassen, die ein islamisches Kopftuch trägt, nicht als eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iS dieser Bestimmung angesehen werden kann.

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Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

13 Den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, ist zu entnehmen, dass Frau Bougnaoui im Oktober 2007 vor ihrer Anstellung durch das private Unternehmen Micropole auf einer Studierendenmesse einen Vertreter von Micropole traf, der sie darauf hinwies, dass das Tragen des islamischen Kopftuchs Probleme bereiten könnte, wenn sie mit den Kunden dieses Unternehmens in Kontakt trete. Als sich Frau Bougnaoui am 4.2.2008 bei Micropole vorstellte, um dort ihr Abschlusspraktikum zu absolvieren, trug sie ein einfaches Bandana. Im Anschluss trug sie am Arbeitsplatz ein islamisches Kopftuch. Nach Absolvierung des Praktikums stellte Micropole sie ab 15.7.2008 mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag als Softwaredesignerin ein.

14 Am 15.6.2009 wurde sie zu einem Vorgespräch über ihre etwaige Entlassung gebeten und anschließend mit Schreiben vom 22.6.2009 entlassen. In diesem Schreiben heißt es:

„... Im Rahmen Ihrer Aufgaben kamen Sie bei der Durchführung von Aufträgen für unsere Kunden zum Einsatz.Wir hatten Sie beauftragt, am 15. Mai 2009 für den Kunden ... an dessen Standort ... tätig zu werden. Im Anschluss an diesen Einsatz teilte uns der Kunde mit, dass eine Reihe seiner Mitarbeiter an dem Schleier Anstoß genommen habe, den Sie tatsächlich täglich tragen. Er bat zudem darum, dass es ‚nächstes Mal keinen Schleier‘ geben möge.Bei Ihrer Einstellung in unserem Unternehmen und Ihrem Gespräch mit Ihrem Betriebsmanager ... sowie der Verantwortlichen für Einstellungen ... wurde das Thema des Tragens eines Schleiers sehr deutlich mit Ihnen besprochen. Wir hatten Ihnen klargemacht, dass wir den Grundsatz der Meinungsfreiheit ebenso wie die religiösen Überzeugungen eines jeden völlig respektieren, dass Sie aber, da Sie sowohl intern als auch extern in Kontakt mit Kunden des Unternehmens stehen würden, den Schleier nicht in allen Situationen würden tragen können. Im Interesse unseres Unternehmens und seiner Entwicklung sehen wir uns gezwungen, gegenüber unseren Kunden hinsichtlich der Äußerung persönlicher Einstellungen unserer Angestellten Zurückhaltung zu verlangen. Bei unserem Gespräch vom 17. Juni 2009 hatten wir diesen Grundsatz notwendiger Neutralität Ihnen gegenüber bekräftigt und Sie um seine Einhaltung gegenüber unserer Kundschaft gebeten. Wir hatten Sie erneut gefragt, ob Sie diese beruflichen Anforderungen akzeptieren könnten, indem Sie sich bereit erklären würden, den Schleier nicht zu tragen, was Sie verneinten.Wir sind der Meinung, dass diese Tatsachen aus den oben genannten Gründen die Auflösung Ihres Arbeitsvertrags rechtfertigen. [...]“

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Zur Vorlagefrage

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26 Erstens besteht nach Art 1 der RL 2000/78 ihr Zweck in der Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.

27 Der in Art 1 der RL 2000/78 verwendete Begriff der Religion wird in dieser Richtlinie nicht definiert.

28 Im ersten Erwägungsgrund der RL 2000/78 hat der Unionsgesetzgeber jedoch auf die Grundrechte Bezug genommen, wie sie in der am 4.11.1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) gewährleistet sind. Die EMRK sieht in ihrem Art 9 vor, dass jede Person das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat, wobei dieses Recht ua die Freiheit umfasst, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.

29 Der Unionsgesetzgeber hat im ersten Erwägungsgrund der RL 2000/78 außerdem auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts Bezug genommen. Zu den Rechten, die sich aus diesen gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben und die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bekräftigt wurden, gehört das in Art 10 Abs 1 der Charta verankerte Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. Es umfasst nach dieser Bestimmung die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. Wie sich aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl 2007, C 303, S 17) ergibt, entspricht das in Art 10 Abs 1 der Charta garantierte Recht dem durch Art 9 EMRK garantierten Recht, und nach456Art 52 Abs 3 der Charta hat es die gleiche Bedeutung und die gleiche Tragweite wie dieses.

30 Da die EMRK und in der Folge die Charta dem Begriff der Religion eine weite Bedeutung beilegen und darunter auch die Freiheit der Personen, ihre Religion zu bekennen, fassen, ist davon auszugehen, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass der RL 2000/78 den gleichen Ansatz verfolgen wollte, so dass der Begriff der Religion in Art 1 der RL dahin auszulegen ist, dass er sowohl das forum internum, dh den Umstand, Überzeugungen zu haben, als auch das forum externum, dh die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit, umfasst.

31 Zweitens ist festzustellen, dass der Vorlageentscheidung nicht zu entnehmen ist, ob sich die Frage des vorlegenden Gerichts aus der Feststellung einer unmittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhenden Ungleichbehandlung ergibt oder aus der Feststellung einer mittelbar auf diesen Kriterien beruhenden Ungleichbehandlung.

32 War insoweit die Entlassung von Frau Bougnaoui – was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist – auf einen Verstoß gegen eine innerhalb des Unternehmens geltende interne Regel gestützt, die das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen verbietet, und sollte sich herausstellen, dass diese dem Anschein nach neutrale Regel tatsächlich dazu führt, dass Personen in besonderer Weise benachteiligt werden, die wie Frau Bougnaoui einer bestimmten Religion oder Weltanschauung angehören, wird von einer mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhenden Ungleichbehandlung iS von Art 2 Abs 2 Buchst b der RL 2000/78 auszugehen sein (vgl in diesem Sinne Urteil vom heutigen Tag, G4S Secure Solutions, C-157/15, Rn 30 und 34).

33 Nach Art 2 Abs 2 Buchst b Ziff i der RL 2000/78 würde eine solche Ungleichbehandlung jedoch nicht zu einer mittelbaren Diskriminierung führen, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Umsetzung einer Politik der Neutralität durch Micropole im Verhältnis zu ihren Kunden sachlich gerechtfertigt wäre und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich wären (vgl in diesem Sinne Urteil vom heutigen Tag, G4S Secure Solutions, C-157/15, Rn 35 bis 43).

34 Für den Fall, dass die Entlassung von Frau Bougnaoui nicht auf einen Verstoß gegen eine innerhalb des Unternehmens geltende interne Regel, wie sie in Rn 32 des vorliegenden Urteils angeführt wurde, gestützt wäre, ist hingegen zu prüfen – wie auch die Frage des vorlegenden Gerichts nahelegt –, ob der Wille eines AG, dem Wunsch eines Kunden zu entsprechen, die Leistungen nicht mehr von einer AN ausführen zu lassen, die wie Frau Bougnaoui von diesem AG zu diesem Kunden geschickt wurde und ein islamisches Kopftuch trägt, eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung iS von Art 4 Abs 1 der RL 2000/78 darstellt.

35 Nach dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art 1 dieser RL genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.

36 Somit ist es Sache der Mitgliedstaaten, gegebenenfalls vorzusehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art 1 der RL genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt. Das scheint nach Art L 1133-1 des Arbeitsgesetzbuchs vorliegend der Fall zu sein. Dies zu prüfen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts.

37 Dies vorausgeschickt, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, dass nach Art 4 Abs 1 der RL 2000/78 nicht der Grund, auf den die Ungleichbehandlung gestützt ist, sondern ein mit diesem Grund im Zusammenhang stehendes Merkmal eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen muss (vgl Urteile vom 12.1.2010, Wolf, C-229/08, EU:C:2010:3, Rn 35, vom 13.9.2011, Prigge ua, C-447/09, EU:C:2011:573, Rn 66, vom 13.11.2014, Vital Pérez, C-416/13, EU:C:2014:2371, Rn 36, sowie vom 15.11.2016, Salaberria Sorondo, C-258/15, EU:C:2016:873, Rn 33).

38 Darüber hinaus kann nach dem 23. Erwägungsgrund der RL 2000/78 ein Merkmal, das ua mit der Religion im Zusammenhang steht, nur unter sehr begrenzten Bedingungen eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen.

39 Auch kann nach dem Wortlaut von Art 4 Abs 1 der RL 2000/78 selbst das betreffende Merkmal eine solche Anforderung nur „aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung“ darstellen.

40 Aus diesen verschiedenen Hinweisen folgt, dass der Begriff „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ iS dieser Bestimmung auf eine Anforderung verweist, die von der Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben ist. Er kann sich hingegen nicht auf subjektive Erwägungen wie den Willen des AG, besonderen Kundenwünschen zu entsprechen, erstrecken. [...]457