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Grenzen der Bindung des Arbeitgebers an Entscheidung der Disziplinarkommission bei Entlassung

MARTINACHLESTIL
§ 102 ArbVG; § 48 Abs 1 DiszO 2004

Der Kl war seit 1992 bei der Bekl (und ihrer Rechtsvorgängerin) beschäftigt und seit 1996 unkündbar gestellt. Von Oktober 2013 bis Anfang Mai 2014 veruntreute er während seines Dienstes als Busfahrer Einnahmen für Einzelfahrscheine in Höhe von jedenfalls € 600,–. Nach Hervorkommen der Tat wurde er vom Dienst suspendiert. Das über ihn durchgeführte gerichtliche Strafverfahren wurde diversionell erledigt. Das über ihn nach der Disziplinarordnung der Bekl (DiszO 2004) durchgeführte Disziplinarverfahren endete mit mehrstimmigem Erkenntnis der Disziplinarkommission der Bekl vom 12.5.2016, in dem zusammengefasst ausgesprochen wurde, dass der Kl im genannten Zeitraum die Fahrscheineinnahmen veruntreut und sich zumindest in Höhe von € 600,– unrechtmäßig angeeignet habe. Er habe dadurch eine schwere Dienstpflichtverletzung begangen und iSd § 48 Abs 2 DiszO 1994 einen Entlassungsgrund gesetzt. Auf Grundlage dieser Entscheidung wurde der Kl von der Bekl mit Schreiben vom 13.5.2016 entlassen.348

Der Kl begehrte mit seiner Klage die Feststellung des aufrechten Bestands seines Dienstverhältnisses, in eventu der Unwirksamerklärung der Entlassung. Die Vorinstanzen wiesen das Klagebegehren ab. Der OGH schloss sich dieser Entscheidung an und wies die Revision des Kl mangels erheblicher Rechtsfrage zurück.

Wie bereits in OGH vom 26.11.2015, 9 ObA 133/15x, ausgeführt, gilt nach § 48 Abs 1 DiszO 2004 für die Feststellung, ob der Beschuldigte einen Entlassungsgrund gesetzt habe, mangels Angestellteneigenschaft eines Mitarbeiters das Einstimmigkeitsprinzip. Der Kl fällt nicht in den Anwendungsbereich des AngG; der bloße Umstand, dass die Mitarbeiter der Bekl in den Allgemeinen Vertragsbedingungen (AVB) als „ÖBB-Angestellte“ bezeichnet werden, reicht nicht aus, um generell auf eine Geltung des AngG für Bedienstete der Bundesbahnen zu schließen. Das bedeutet, dass die mangelnde Einstimmigkeit im vorliegenden Fall grundsätzlich zur Unwirksamkeit der Entlassung führen würde.

Aus dem Fehlen seiner Angestellteneigenschaft ist für den Kl im vorliegenden Fall allerdings nichts gewonnen: Nach stRsp ist eine Entlassung nicht als Disziplinarmaßnahme gem § 102 ArbVG anzusehen, kann daher auch keine Disziplinarstrafe einer gem § 96 Abs 1 Z 1 ArbVG oder durch KollV zustande gekommenen Disziplinarordnung sein und ist somit betriebsverfassungsrechtlich unwirksam. Allerdings – wie bereits in OGH vom 17.3.2005, 8 ObA 12/04d, ausgeführt – kann eine Disziplinarkommission arbeitsvertragsrechtlich (Anmerkung der Bearbeiterin) als „Dritter“ mit der Konkretisierung bestimmter Rechte des AG betraut werden. Somit ist grundsätzlich von einer Wirksamkeit der (Selbst-)Bindung des AG an die von ihm selbst geschaffenen Dienstvorschriften hinsichtlich des bei Entlassungen einzuhaltenden Verfahrens (auch hinsichtlich der Einschränkung auf die dort geltend gemachten Entlassungsgründe), aber auch an die Entscheidung der Disziplinarkommission auszugehen. Die Grenze liegt jedoch dort, wo deren Entscheidung in einer einem sachkundigen und unbefangenen Beurteiler sofort erkennbaren Weise im Kernbereich des Entlassungsrechts offensichtlich unrichtig ist.

Auch in der Folge wurde in mehreren Entscheidungen des OGH festgehalten, dass sich beide Teile des Arbeitsvertrages mit der Vereinbarung eines bestimmten Verfahrens der Entscheidung eines „Dritten“ unterwerfen, die soweit nicht als sittenwidrig anzusehen ist, als nicht in den zweiseitig zwingenden Kernbereich der vorzeitigen Auflösung eingegriffen wird. Ob die Grenze der Sittenwidrigkeit überschritten wurde, kann nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden; in Fällen wie dem vorliegenden ist die Selbstbindung des AG an das Ergebnis des Disziplinarverfahrens unter materiellen Aspekten nicht aufrechtzuerhalten. Der OGH sieht keinen Korrekturbedarf hinsichtlich der vom Berufungsgericht vorgenommenen Wertung, dass das Stimmverhalten des gegen die Entlassung stimmenden Mitglieds der Disziplinarkommission ganz auffallend offensichtlich unrichtig sei, weil es sich um ein vorsätzlich begangenes Vermögensdelikt handle, der Schaden nicht gering sei, der Kl die Untreuehandlung in etwa in 200 Fällen gesetzt habe, keine Notlage behauptet worden sei und das vom Kl erst nach anhaltendem Leugnen unter dem Eindruck der bereits erfolgten strafgerichtlichen Verurteilung und in Anbetracht einer im Raum stehenden diversionellen Erledigung im Strafverfahren abgelegte Tatsachengeständnis nicht rechtfertigen könne, die Unzumutbarkeit einer Weiterbeschäftigung zu verneinen. Ist aber in Fällen wie dem vorliegenden die Selbstbindung des AG an das Ergebnis des Disziplinarverfahrens unter materiellen Aspekten nicht aufrecht zu erhalten, kommt es auf das Stimmverhalten einzelner Kommissionsmitglieder nicht weiter an.