KaterndahlTarifverhandlung und Streik als Menschenrechte

Nomos Verlag, Baden-Baden 2017, 527 Seiten, broschiert, € 125,–

ELISABETHBRAMESHUBER (WIEN)

In der letzten von der Autorin verfassten Rezension in dieser Zeitschrift (DRdA 2018, 362 ff) wurde darauf hingewiesen, dass beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein Urteil zum Beamtenstreikverbot ausständig ist. Mittlerweile hat das BVerfG mit Urteil vom 12.6.2018 zu 2 BvR 1738/12, 2 BvR 1395/13, 2 BvR 1068/14 und 2 BvR 646/15 entschieden. Dabei rekurriert das BVerfG in Rz 161 ua auf den Autor des hier zu besprechenden Werkes; dieses wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Wintersemester 2015/2016 als Dissertation angenommen. Christoph Katerndahl sieht das Buch auch als Bestandsaufnahme über das „Maß an Gemeinsamkeit“, das „die europäischen Staaten ... beim Schutz der Koalitionsfreiheit bis dato erreicht haben“. Dieses Unterfangen erstreckt sich dem Untertitel der Arbeit entsprechend – „Eine dogmatische Analyse der Koalitionsfreiheit des Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention“ – auf alle Mitgliedstaaten des Europarats. Bereits die hierfür erforderlichen Analysen der nationalen Rechtsordnungen dahingehend, inwiefern Tarifverhandlung und Streik Rechte des Individuums oder Kollektivrechte sind bzw inwiefern es sich beim Recht auf Streik um ein Menschenrecht handelt, stellen einen Mehrwert für die wissenschaftliche Diskussion dar.

Vom Standpunkt des österreichischen Rechts aus ist darüber hinaus auch die Darstellung der Weiterentwicklung der Rsp des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nach den Rs Demir und Baykara vom 12.11.2008 (BswNr 34504/97) und Enerji Yapi-Yol Sen vom 21.4.2009 (BswNr 68959/01) von Interesse. Beachtenswert ist zunächst die Aufdröselung der unterschiedlichen Herangehensweisen der jeweiligen Sektionen innerhalb des EGMR – während die übrigen Sektionen die Gewährleistung des Streikrechts durch Art 11 Abs 1 2. HS EMRK anerkennen, steht die Judikatur der II. Sektion des EGMR „seltsam unverbunden“ neben der Judikatur der anderen Sektionen (S 156). Als „wichtigste materiellrechtliche Implikation der jüngeren EGMR-Rechtsprechung für das Streikrecht“ führt Katerndahl die Anerkennung des Sympathiestreiks an. Dass es sich beim Streikrecht sowohl um ein kollektives als auch ein individuelles Grundrecht handelt, lässt sich mittlerweile ebenfalls aus einschlägiger EGMR-Judikatur ableiten (siehe insb die Rs Veniamin Tymoshenko ua/Ukraine vom 2.10.2014, BswNr 48408/12). Einer von Katerndahls weiteren Untersuchungsschritten befasst sich daher mit der Frage, ob das Verbot des „wilden Streiks“ in Deutschland aufrechtzuerhalten oder aber als konventionswidrig einzustufen ist (S 178). Ebenfalls Gegenstand Katerndahls‘ Untersuchung ist die Frage, ob das ausschließlich status- und nicht funktionsbezogene Beamtenstreikverbot in Deutschland gegen die Koalitionsfreiheit aus Art 11 Abs 1 2. HS EMRK verstößt und bejahendenfalls, auf welchem Wege ein konventionskonformer Rechtszustand erreicht werden kann (S 180). Schließlich widmet sich Katerndahl der Frage, ob im Lichte der EMRK auch ein nicht tarifbezogener Arbeitskampf anzuerkennen ist. Die diesbezügliche Schwierigkeit liegt auch darin, dass selbst nach der EMRK bzw der Judikatur des EGMR (noch) nicht eindeutig geklärt ist, ob auch politische Demonstrationsstreiks von Art 11 Abs 1 2. HS EMRK geschützt sind.

Angesichts des BVerfG-Urteils vom 12.6.2018 lohnt sich an dieser Stelle vor allem ein Vergleich der Ergebnisse Katerndahls mit besagtem Urteil. Dem BVerfG zufolge stellen Disziplinarmaßnahmen gegen streikende verbeamtete Lehrer (in concreto Geldbußen iHv € 100,– bzw € 1.500,– bzw eine Disziplinarverfügung, mit der ein Verweis ausgesprochen wurde), die wegen der nicht genehmigten Teilnahme an Streiks verhängt wurden, Eingriffe in das Grundrecht aus Art 9 Abs 3 GG dar (Rz 136). Diese Eingriffe sind jedoch nach Ansicht des BVerfG verfassungsrechtlich gerechtfertigt; an diesem Ergebnis ändere auch eine Beurteilung im Lichte der EMRK nichts.

Aufgedröselt bedeutet dies zunächst, dass es sich bei den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums um „kollidierendes Verfassungsrecht zur Rechtfertigung von Beschränkungen des Art. 9 Abs 3 GG“ handelt. Sie stellen gerade keine verfassungsunmittelbare Begrenzung der Koalitionsfreiheit dar (Rz 139). Beide Verfassungsgüter – Koalitionsfreiheit und Grundsätze des Berufsbeamtentums – sind daher nach dem BVerfG entsprechend dem Grundsatz der praktischen Konkordanz miteinander derart in Einklang zu bringen, dass „der schonendste Ausgleich gefunden wird“.

Auch mit der von Katerndahl behandelten Frage, inwiefern es für die Eröffnung des Schutzbereichs des Art 9 Abs 3 GG und somit der Koalitionsfreiheit einer Tarifbezogenheit des Streiks und einer Tariffähigkeit der Streikenden bedarf, setzt sich das BVerfG zumindest implizit auseinander. Eines der Ergebnisse Katerndahls ist, dass der sachliche Schutzbereich des Streikrechts aus Art 11 Abs 1 2. HS EMRK mangels europäischen Konsenses auf den tarifbezogenen Streik beschränkt ist. Für den Fall, dass der EGMR jedoch den sachlichen Schutzbereich auf den nicht tarifbezogenen Arbeitskampf ausdehnen sollte, stellt sich indes die Frage, ob dies mit einer methodisch vertretbaren Auslegung des Art 9 Abs 3 GG vereinbart werden könnte. Katerndahl verneint dies; zusammengefasst führte seiner Ansicht nach die Zulassung eines politischen oder eines Demonstrationsstreiks zu einer unzulässigen Einschränkung des Grundrechtsschutzes nach dem GG – die Rechte des AG bzw der AG-Koalition stünden einem solchen Streik entgegen. Der AG wäre politisch motivierten Streiks „schutzlos ausgeliefert“, denn als nicht unmittelbar Betroffener kann er die mit einem solchen Arbeitskampf verfolgten Ziele und Zwecke nicht erfüllen. Das Kräftegleichgewicht würde in diesem Fall massiv zulasten der AG-Seite verschoben (S 469 f). Ob hingegen durch die Zulassung von politischen Streiks tatsächlich das Demokratieprinzip449verletzt würde, darf bezweifelt werden, denn ob der parlamentarische Gesetzgeber durch politische Streiks genötigt und somit wegen Einräumung eines Sonderrechts für AN der Grundsatz der Chancengleichheit bei der politischen Willensbildung verletzt würde (S 471 f), ist äußerst fraglich.

Das BVerfG hingegen betont, dass es für die Zugehörigkeit zum Schutzbereich des Art 9 Abs 3 GG nicht darauf ankommt, dass der Streik auf den Abschluss eines eigenen Tarifvertrags gerichtet ist, vielmehr sei entscheidend, dass „es sich um gewerkschaftlich getragene, auf Tarifverhandlungen bezogene Aktionen handelt“. Damit erklärt das BVerfG politische Streiks zwar nicht explizit für zulässig, unter Rekurs auf die Rs RMT/UK des EGMR vom 8.4.2014, BswNr 31045/10, nach der auch der Unterstützungsstreik ein ergänzendes Element der Koalitionsfreiheit darstelle, verweist es jedoch auf ein „umfassendes Verständnis von Art 9 Abs 3 GG“. Gewährleistet soll ein möglichst weitreichender Grundrechtsschutz werden, sodass ein bloß „mittelbarer Tarifbezug“ (Streik zur Unterstützung eines auf den Abschluss eines Tarifvertrags gerichteten Streiks) jedenfalls nicht ex ante vom Schutzbereich des Art 9 Abs 3 GG ausgenommen ist (Rz 140). Auch in diesem Fall kann der bestreikte AG jedoch nicht unmittelbar die mit dem Streik verfolgten Ziele erfüllen, sodass die diesbezügliche Argumentation Katerndahls iZm nicht tarifbezogenen Streiks wohl ins Leere geht.

Trotz der Beeinträchtigung des Grundrechts aus Art 9 Abs 3 GG durch die disziplinarische Ahndung der Streikteilnahme der Beschwerdeführer gelangt das BVerfG jedoch zu dem Schluss, dass diese Beeinträchtigung der Koalitionsfreiheit durch „hinreichend gewichtige, verfassungsrechtlich geschützte Belange gerechtfertigt (ist)“. Im Lichte der Arbeit Katerndahls ist vor allem das Ergebnis, das statusbezogene Streikverbot für Beamte greife „auch nicht unverhältnismäßiger Weise in die Gewährleistung des Art 9 Abs 3 GG ein“, von Interesse (Rz 143). Nach Ansicht Katerndahls folgt das Streikverbot für Beamte in Deutschland nicht der von Art 11 Abs 2 Satz 2 EMRK vorgegebenen funktionsbezogenen Abgrenzung, weshalb es auch nicht gerechtfertigt ist. Dem Argument, auch Lehrer würden hoheitliche Aufgaben wahrnehmen, komme keine Bedeutung zu, denn ein Vergleich mit den von der EMRK genannten hoheitlich tätigen Polizei- oder Streitkräften ergebe, dass der Tätigkeit von Lehrern keine vergleichbare Bedeutung zur Sicherung der demokratischen Ordnung durch Ausübung von Hoheitsgewalt zukommt (S 417 f). Doch auch eine allfällige Rechtfertigung des statusbezogenen allgemeinen Streikverbots für Beamte anhand der allgemeinen Schrankenklausel des Art 11 Abs 2 Satz 1 EMRK scheidet Katerndahl zufolge aus. Konkret bezogen auf verbeamtete Lehrer gefährde ein Streik dieser Personengruppe weder die öffentliche Sicherheit noch die Aufrechterhaltung der Ordnung (aA BVerfG Rz 178). Als legitime Ziele könnten zwar allenfalls unter dem Aspekt des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer die Grundrechte der Kinder aus Art 2 Abs 1 und Art 12 Abs 1 GG auf Entwicklung der Persönlichkeit und Bildung sowie das Erziehungsrecht der Eltern aus Art 6 Abs 2 und 3 GG vorgebracht werden. Dennoch ist ein absolutes Streikverbot nach Katerndahl im Ergebnis als unverhältnismäßig und damit als Verstoß gegen die EMRK einzustufen (S 422). Auf der Suche nach Möglichkeiten, dieses Ergebnis mit der Rechtslage in Deutschland in Einklang zu bringen, gelangt Katerndahl jedoch zum Fazit, dass weder das statusbezogene Verbot des Beamtenstreiks zugunsten einer funktionalen Differenzierung des Berufsbeamtentums aufgegeben werden, noch eine Einschränkung oder Aufgabe tragender Strukturprinzipien der Institution des Berufsbeamtentums erfolgen könne. Auch eine Einschränkung oder Aufhebung des Beamtenstreikverbots mithilfe der Fortentwicklungsklausel des Art 33 Abs 5 GG lasse sich lege artis nicht erzielen; ebenso wenig zielführend sei eine Einräumung partieller Tarifautonomie bezüglich der Gestaltung der Besoldung nicht genuin hoheitlich tätiger Beamter. Um die konventionsrechtlichen Wertungen „schonend“ in das „dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen“, muss daher Katerndahl zufolge die statusrechtliche und die funktionsbezogene Differenzierung parallelisiert und damit harmonisiert werden. Mit anderen Worten, Personen, die nicht im Rahmen der genuin hoheitlichen Verwaltung (zur genuin hoheitlichen Verwaltung zählen Streitkräfte, Polizei, aber nach Katerndahl wohl auch sonstige Ordnungskräfte, Rechtspflege, Steuerverwaltung oder Diplomatie) tätig werden, demnach etwa auch Lehrer, müssten als Angestellte im öffentlichen Dienst beschäftigt werden. Eine „streikrechtliche Zweiteilung des Berufsbeamtentums“ lehnt Katerndahl daher ab (S 451 ff).

Auch dem BVerfG zufolge ist das Streikverbot für Beamte nach der gegenwärtigen verfassungsrechtlichen Konzeption des Berufsbeamtentums mit dem Alimentationsprinzip sowie der Treuepflicht untrennbar verbunden (Rz 152); dem einfachen Gesetzgeber ist aufgrund der für das Streikverbot geltenden Beachtenspflicht der Weg zu tiefgreifenden Reformen versperrt (Rz 153); eine Abweichung von der klar konzipierten Zweiteilung des öffentlichen Dienstrechts ist abzulehnen (Rz 161). Prima facie könnte man daher meinen, Katerndahls Vorschlag liege auf einer Linie mit dem BVerfG. Das BVerfG gelangt jedoch – anders als das BVerwG in seinem Urteil vom 27.2.2014, 2 C 1/13, BVerwGE 149, 117, in dem dieses einen Konflikt des deutschen Verfassungsrechts mit der EMRK feststellt und dem Gesetzgeber Hinweise zur Anpassung des Streikrechts an die neuere Judikatur des EGMR gibt – zum Ergebnis, dass das Streikverbot für Beamte unabhängig davon, ob es einen Eingriff in Art 11 Abs 1 EMRK darstellt, „wegen der Besonderheiten des deutschen Systems des Berufsbeamtentums jedenfalls nach Art 11 Abs 2 S 1 bzw S 2 EMRK gerechtfertigt (ist)“ (Rz 176 ff). Anders als Katerndahl sieht das BVerfG etwa das Streikverbot wegen eben dieser Besonderheiten des deutschen Systems des Berufsbeamtentums als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft (Rz 179). Unter Berufung auf das Urteil RMT/UK des EGMR vom 8.4.2014, BswNr 31045/10, Rz 88, wonach bei Unterstützungsstreiks, die keinen Kernbereich der Vereinigungsfreiheit betreffen, dem Staat ein weiterer Beurteilungsspielraum bei Einschränkungen zusteht, führt das BVerfG aus, dass die Beschwerdeführer, die an Streiks teilgenommen hatten, die eine gewisse Nähe zum Unterstützungsstreik aufwiesen, damit nicht in den Kernbereich der Gewährleistungen des Art 11 Abs 1 EMRK fallen (Rz 181). In Hinblick auf Art 11 Abs 2 Satz 2 EMRK hält das BVerfG fest, dass beamtete Lehr-450kräfte sehr wohl in den diesbezüglichen Bereich der Staatsverwaltung fallen, mag es auch an einer Beantwortung dieser Frage durch den EGMR fehlen (Rz 186). Allein dieser Hinweis ist wohl zukunftsweisend: Einerseits scheint der Gang der Beschwerdeführenden zum EGMR wahrscheinlich (siehe den Praxishinweis von Lingemann, FD-ArbR 2018, 406633), andererseits ist damit vorgezeichnet, dass der Arbeit Katerndahls weitere zum Verhältnis zwischen deutschem Streikrecht und den Gewährleistungen der Konvention folgen werden. Der Maßstab, den Katerndahl mit seiner Arbeit gesetzt hat, ist indes ein hoher; die Lektüre kann daher uneingeschränkt empfohlen werden.