Kahil-WolffDroit social européen. Union européenne et pays associés
Schulthess Verlag, Zürich 2017, 768 Seiten, € 134,–
Kahil-WolffDroit social européen. Union européenne et pays associés
Bettina Kahil-Wolff, die an der Rechtsfakultät der Universität Lausanne lehrt, hat ein umfangreiches Lehrbuch mit dem Titel „Droit social européen“ vorgelegt. Dieser Begriff verlangt sogleich eine Klarstellung (vgl auch die Erläuterungen der Autorin, S 27 ff). Droit social ist nicht mit dem hierzulande üblichen Verständnis von Sozialrecht gleichzusetzen. Vielmehr inkludiert der Begriff sowohl Arbeits- als auch Sozialrecht und Droit social européen ist nichts anderes als das Sozialrecht der Europäischen Union in einem so weit verstandenen Sinne. Die Verfasserin folgt insoweit hier der Tradition der französischen Lehrbuchliteratur. Das Schaubild auf S 45 bringt dem Leser eine klare Vorstellung von der Architektur des Gebäudes des so bezeichneten Sozialrechts der EU. Es zerfällt in zwei große Abteilungen, die durch das Primärrecht der AN-Freizügigkeit (Art 45 ff AEUV) und der Sozialpolitik (Art 155 AEUV) bestimmt sind. Die erste Abteilung gliedert sich ihrerseits in zwei Unterabteilungen, das Koordinierungsrecht der sozialen Sicherheit und das Recht zur Vermeidung von Diskriminierung auf dem Gebiet sozialer Vergünstigungen (VO Nr 492/2011). Ebenso gliedert sich die zweite Abteilung in einen Bereich, der die arbeitsrechtlichen Richtlinien der EU und einen weiteren Bereich, der die Richtlinien zur Verhinderung von Diskriminierung erfasst. Mit dieser Architektur (auch die Autorin benutzt dieses Bild) wird nicht nur die formale Struktur des europäischen Sozialrechts und des Aufbaus des Werkes wiedergegeben. Mit ihr wird vielmehr auch eine inhaltliche Aussage getroffen, dass nämlich das europäische Sozialrecht ein (rechtliches) Gebäude darstellt, das in seiner Gesamtheit zu erfassen ist. Und so ist das Werk nichts weniger als ein Lehrbuch sowohl des europäischen Arbeits- wie des europäischen Sozialrechts geworden, auf deren Verzahnung die Verfasserin großen Wert legt.
Sichtbarer Ausdruck für die architektonische Gestaltung des europäischen Sozialrechts durch die Verträge sind die Kapitel 2 bis 9 des ersten Teils des Lehrbuchs, die sich mit den primärrechtlichen Vorgaben und Determinanten des europäischen Sozialrechts befassen (historische Grundlegung, Rechtsquellen, Gesetzgebungsverfahren, Zuständigkeit, Sozialpolitik, Einflüsse anderer Politiken, Wettbewerbsrecht und schließlich das Sozialrecht in den Außenbeziehungen der EU). Kernstücke des Buches bilden das 10. Kapitel, das dem Recht der Personen- und Dienstleistungsfreiheit, und das 11. Kapitel, das dem Koordinierungsrecht der sozialen Sicherheit gewidmet ist. Daran schließt sich das 12. Kapitel an, das den internationalen Arbeitsvertrag mit seinen international-privatrechtlichen und international-prozessrechtlichen Implikationen zum Gegenstand hat. Einbezogen wird auch im Hinblick auf das Bestehen privater Versicherungsverträge mit sozialrechtlichem Gehalt das IPR-Versicherungsrecht, weil hier auch Schnittstellen zum Sozialrecht bestehen. Zum Abschluss des ersten Teils werden in Kapitel 13 kurz die steuerrechtlichen Folgen der Wahrnehmung der Personenfreizügigkeit behandelt.
Der zweite Teil des Werkes ist überschrieben mit „La Suisse face à l‘Europe“. Dass eine Schweizer Autorin sich diesem Thema zuwendet, liegt nahe. Aber fast noch von größerer Bedeutung ist dieser Teil für den Nichtschweizer Leser aus Anrainerstaaten. Die deutsch-Schweizerischen, österreichisch-Schweizerischen und französisch-Schweizerischen Rechtsbeziehungen sind zahlreich und vielfältig. Das gilt sowohl für das Arbeits- wie das Sozialrecht. Die Schweiz als Nichtmitglied der EU hat sich auf der Basis von Vereinbarungen mit der EU einen weitgehend einem Mitgliedstaat ähnlichen Status geschaffen. Aus diesen Vereinbarungen resultiert deshalb vielfach, aber eben auch nicht uneingeschränkt, die Anwendung europäischen Arbeits- und Sozialrechts.
In sieben Kapiteln und über 100 Seiten präsentiert und analysiert die Verfasserin die einschlägigen Rechtsquellen und Materien. Ich kenne keine andere Veröffentlichung, die in ähnlich umfassender Weise für den Leser den Stoff hierzu aufbereitet. Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU steht seit der Volksabstimmung vom Februar 2014 auf wackeligen Beinen. Ein Gesetz von 2015 hat aber noch nicht die parlamentarische Hürde genommen. Die Autorin beschreibt die dogmatisch höchst interessanten Aspekte des Prozesses der Rechtsangleichung Schweizerischen Rechts an das Europäische Recht, ein Prozess, der vor allem mit dem Programm „swisslex“ unternommen wird. In Kapitel 4 werden die internationalen Abkommen der Schweiz mit der EU in Grundzügen vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt freilich und zu Recht im 5. Kapitel auf der wichtigsten Rechtsquelle, dem Freizügigkeitsabkommen (ALCP, Accord entre la Confédération Suisse, d‘une part, et la Communauté Européenne et ses Etats-Membres, d‘autre part, sur la libre circulation des personnes). Es ist die Grundlage für die (weitestgehende) Anwendung des europäischen Sozialrechts. Hier findet der Leser alle Grundlagen eingehend behandelt. Vor allem werden die einschlägigen Urteile des Schweizer Bundesgerichts und des EuGH einbezogen. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich im 6. Kapitel die Darstellung der Inhalte und der Besonderheiten der Koordinierung der sozialen Sicherheit Schweizerischen Sozialrechts. Besonders aufschlussreich sind hier die Ausführungen der Verfasserin über die praktische Tragweite des ALCP für die Koordinierung, die in einer reichhaltigen bundesgesetzlichen Rsp ihren Niederschlag gefunden hat.
Der dritte Teil des Werkes ist dem Internationalen Sozialrecht gewidmet. Das mag auf den ersten Blick verwundern, da es sich nicht genuin um europäisches Sozialrecht handelt. Das behandelte Sozialrecht der Vereinten Nationen, der Internationalen Arbeitsorganisation und der Europäischen Konvention für Menschenrechte sind aber auf unterschiedliche Weise für die Anwendung des europäischen Sozialrechts relevant.
Ein wichtiges Kapitel des dritten Teils stellt die Behandlung der Sozialversicherungsabkommen dar, welche ua die Schweiz mit Deutschland und Österreich abgeschlossen hat. Die Aktualität solcher Abkommen bleibt wegen des Petroni-Prinzips auch unter Geltung der VO 883/2004 erhalten. Diese Abkommen würden erneut zur vollen Geltung kommen, wenn die Schweiz das ALCP aufkündigen würde.
Mit dem hier angezeigten Werk hat die Autorin das Schrifttum zum europäischen Sozialrecht in einer458beeindruckenden Weise bereichert. Das Werk ist ein wahres Kompendium der einzelnen Rechtsmaterien, bestens geeignet als Nachschlagewerk, vor allem auch zum Auffinden bedeutsamer Rsp, aber auch als dogmatischer Beitrag zur Erfassung und zum Verständnis des europäischen Sozialrechts. Dass auch dem Schweizer Recht gebührend Platz eingeräumt wird, macht das Buch in besonderem Maße interessant. Das Werk wird sich einen hervorragenden Platz in der europarechtlichen Fachliteratur erobern.