39Verfassungswidrige Beschränkungen in der Mindestsicherung
Verfassungswidrige Beschränkungen in der Mindestsicherung
Dem Gesetzgeber steht bei der Beurteilung sozialer Bedarfslagen und bei der Ausgestaltung der an diese anknüpfenden sozialen Maßnahmen ein weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu. Ist allerdings in einem vom Gesetzgeber eingerichteten System der Sicherung eines zu einem menschenwürdigen Leben erforderlichen Mindeststandards der Zweck, dem betroffenen Personenkreis das Existenzminimum zu gewähren, nicht mehr gewährleistet, dann verfehlt ein solches Sicherungssystem insoweit seine Aufgabenstellung.
Eine Differenzierung der Höhe der Mindestsicherung je nach der Aufenthaltsdauer in den letzten sechs Jahren in Österreich verstößt gegen Art 7 B-VG, weil Staatsbürger ohne sachliche Rechtfertigung ungleich behandelt werden.
Für ein solche Differenzierung fehlt auch im Hinblick auf Asylberechtigte eine sachliche Rechtfertigung; sie verstößt daher ebenfalls gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art 7 B-VG und Art I Abs 1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung).
Auch eine Deckelung der Leistungen eines Systems der Bedarfsorientierten Mindestsicherung auf insgesamt € 1.500,–, unabhängig davon, wie viele und welche Personen tatsächlich im Haushalt leben und wie hoch deren konkreter Bedarf ist, verfehlt den eigentlichen Zweck dieses Systems, und ist daher wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz und Art I Abs 1 des BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung verfassungswidrig.
Das Landesverwaltungsgericht (LVwG) Niederösterreich (NÖ) hat in insgesamt 38 (!) Anträgen gem Art 140 Abs 1 Z 1 lit a B-VG verfassungsrechtliche Bedenken gegen mehrere Bestimmungen des NÖ Mindestsicherungsgesetzes (LGBl 9205-0 idF LGBl 103/2016, NÖ MSG) vorgebracht und deren Aufhebung als verfassungswidrig begehrt. Der VfGH ist diesen Anträgen weitgehend gefolgt und hat drei Bestimmungen des NÖ MSG als verfassungswidrig aufgehoben.
Dabei handelte es sich konkret um die §§ 10 Abs 4, 11a und 11b dieses Gesetzes. Regelungsgegenstand von § 11a NÖ MSG waren die „Mindeststandards – Integration
“, die für „Hilfe suchende Personen, die sich innerhalb der letzten sechs Jahre weniger als fünf Jahre in Österreich aufgehalten haben
“, (um teilweise fast ein Drittel) niedrigere Mindeststandards vorsahen als sonst an Geldleistungen zur Deckung des notwendigen Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs nach diesem Gesetz (vgl dessen § 11) gebühren. In § 10 Abs 4 NÖ MSG fanden sich Ausnahmen von diesen strengeren Regelungen, auf die damit wieder die allgemeinen Mindeststandards anzuwenden waren.411
§ 11b NÖ MSG sah schließlich eine „Deckelung der Mindeststandards
“ in der Form vor, dass die „Summe der Mindeststandards [...] aller Personen, die gemeinsam in einer Haushalts- oder Wohngemeinschaft leben, [...] mit dem Betrag von € 1.500,– begrenzt
“ war (Abs 1). Diese monatliche Summe wurde durch anteilige prozentuelle Kürzung der den einzelnen Personen an sich zukommenden Mindeststandards erreicht (vgl Abs 2), wovon zwar bestimmte Personen (zB solche, die Pflegegeld beziehen) ausgenommen waren, was aber offenbar nicht an der Gesamtdeckelung ändern sollte (vgl Abs 4 dieser Bestimmung).
Die Aufhebung dieser Bestimmungen hat der VfGH in der Sache im Wesentlichen wie folgt begründet (Rz 91 ff):
[...]
11. Der Gleichheitsgrundsatz gebietet dem Gesetzgeber, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln und setzt ihm insofern inhaltliche Schranken, als er es verbietet, andere als sachlich begründbare Differenzierungen zwischen den Normadressaten zu schaffen. [...] Innerhalb dieser Schranken ist es dem Gesetzgeber jedoch von Verfassungs wegen durch den Gleichheitsgrundsatz nicht verwehrt, seine politischen Zielvorstellungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verfolgen. [...]
Dem Gesetzgeber steht bei der Beurteilung sozialer Bedarfslagen und bei der Ausgestaltung der an diese Bedarfslagen anknüpfenden sozialen Maßnahmen ein weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu. [...] Der Gesetzgeber ist daher nicht gehalten, Leistungen der Mindestsicherung (bzw der Sozialhilfe) in unbeschränkter Weise zu gewähren, wenn dies eine Förderung rechtspolitisch unerwünschter Ziele zur Folge hätte [...]; ist allerdings in einem vom Gesetzgeber eingerichteten System der Sicherung zur Gewährung eines zu einem menschenwürdigen Leben erforderlichen Mindeststandards der Zweck, dem betroffenen Personenkreis das Existenzminimum zu gewähren, nicht mehr gewährleistet, dann verfehlt ein solches Sicherungssystem offensichtlich insoweit seine Aufgabenstellung (VfSlg 19.698/2012).
12. Zu § 10 Abs 4 und § 11a NÖ MSG
12.1. Gem § 5 NÖ MSG haben Personen, die hilfsbedürftig sind, ihren Hauptwohnsitz oder Aufenthalt in Niederösterreich haben und zum dauernden Aufenthalt in Österreich berechtigt sind, Anspruch auf Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Grundsätzlich sind daher österreichische Staatsbürger, Unionsbürger und Drittstaatsangehörige mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht (dazu zählen gem § 5 Abs 2 Z 3 NÖ MSG jedenfalls Asylberechtigte) anspruchsberechtigt. Subsidiär Schutzberechtigte sind gem § 5 Abs 3 Z 4 NÖ MSG explizit aus dem Kreis der anspruchsberechtigten Personen ausgeschlossen. Der VfGH hat diese Regelung als verfassungsrechtlich unbedenklich qualifiziert [...] (vgl VfGH 28.6.2017, E3297/2016).
12.2. Anspruchsberechtigte Personen haben entweder Anspruch auf Mindeststandards gem § 11 NÖ MSG oder Anspruch auf Mindeststandards – Integration gem § 11a NÖ MSG. [...]
12.3. Der Mindeststandard – Integration betrug 2017 gem § 11a NÖ MSG für eine volljährige, alleinstehende Person € 572,50 [...]; das sind rund 32 % weniger als der allgemeine Mindeststandard gem § 11 NÖ MSG. [...]
12.4. [...] Personen, die sich innerhalb der letzten sechs Jahre weniger als fünf Jahre in Österreich aufgehalten haben, steht seit der Novelle LGBl 9205-0 idF LGBl 103/2016 nur der (verminderte) Mindeststandard – Integration gem § 11a NÖ MSG zu. Davon sind wiederum Personen ausgenommen, die „Österreich nachweislich zu Ausbildungszwecken oder aus beruflichen Gründen verlassen haben“ (vgl § 10 Abs 4 Z 1 NÖ MSG). In „Österreich geborene Kinder, bei denen einer der Obsorgeberechtigten nicht zum Personenkreis nach § 11a Abs 1 zählt“ sind ebenfalls vom Erfordernis des fünfjährigen Aufenthalts befreit (vgl § 10 Abs 4 Z 2 NÖ MSG). [...]
Der NÖ Gesetzgeber hat damit zunächst eine Regelung geschaffen, die österreichische Staatsbürger im Hinblick auf die Höhe der zu gewährenden Mindeststandards – abhängig von ihrer Aufenthaltsdauer im Inland – ungleich behandelt.
12.5. Das LVwG hält die Anknüpfung an die Aufenthaltsdauer für ein unsachliches Differenzierungskriterium und die Regelung daher für gleichheitswidrig. [...] Die NÖ Landesregierung verweist zum Zweck der Regelung auf die langfristige finanzielle Absicherung des Sozialsystems.
12.6. Es steht dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, auf eine die öffentlichen Haushalte übermäßig belastende Nachfrage nach bestimmten steuerfinanzierten Transferleistungen zu reagieren und den Zugang zu diesen Leistungen zu erschweren. [...] Dabei muss der Gesetzgeber aber an sachliche Kriterien anknüpfen. [...]
12.7. Das vom NÖ Gesetzgeber gewählte Kriterium der Aufenthaltsdauer in Österreich innerhalb der letzten sechs Jahre stellt keine sachliche Differenzierung iSd oben zitierten Rsp dar:
12.7.1. Die NÖ Landesregierung bringt vor, dass das Merkmal der Aufenthaltsdauer einen Anknüpfungspunkt bzw eine Nahebeziehung zur Solidargemeinschaft jenes Staates darstellen solle, der für die Leistungen aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung finanziell aufkommt. Diese von der NÖ Landesregierung geforderte Nahebeziehung besteht bei allen Staatsbürgern kraft dieses Status, sie sind – unabhängig von der Dauer ihres Aufenthaltes – jedenfalls Teil der Gesellschaft, die für die Leistungen aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung aufkommt. [...]
12.7.4. Die NÖ Landesregierung bringt vor, dass der Mindeststandard – Integration Bemühungen der Anspruchsberechtigten, sich zu integrieren und einen Arbeitsplatz zu finden, verstärken solle. Für den VfGH ist nicht erkennbar, weshalb österreichische Staatsbürger, die innerhalb der letzten sechs Jahre weniger als fünf Jahre in Österreich aufhältig waren, einen stärkeren Arbeitsanreiz benötigten, zumal der bloße Aufenthalt im In- oder Ausland keinerlei Rückschluss auf die Arbeitswilligkeit der Person zulässt. Eine Differenzierung nach der Aufenthaltsdauer österreichischer Staatsbürger [...]412kann daher nicht mit dem erforderlichen Anreiz zur Arbeitsaufnahme sachlich begründet werden.
12.7.5. Im Hinblick auf die von der NÖ Landesregierung vorgebrachte Zielsetzung, einen Anreiz zur Integration zu schaffen, genügt es darauf hinzuweisen, dass die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft eine vorhandene Integration voraussetzt. [...]
12.8. Die Ausnahmeregelung des § 10 Abs 4 Z 2 NÖ MSG überträgt letztlich die nach § 11a NÖ MSG verfassungswidrig geregelten Mindeststandards auf Kinder und ist daher ebenso verfassungswidrig: Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Bedarfsorientierte Mindestsicherung für Kinder von Staatsbürgern vom früheren Aufenthalt ihrer Eltern in Österreich abhängen soll.
12.9. Die von § 10 Abs 4 iVm § 11a NÖ MSG vorgenommene Differenzierung der Höhe der Mindestsicherung je nach der Aufenthaltsdauer in den letzten sechs Jahren in Österreich verstößt daher gegen Art 7 B-VG, weil Staatsbürger ohne sachliche Rechtfertigung ungleich behandelt werden.
13. Hinzu kommt, dass die Anknüpfung an die Aufenthaltsdauer in Österreich innerhalb der letzten sechs Jahre auch im Hinblick auf Asylberechtigte unsachlich ist:
13.1. Nach dem NÖ MSG ist der Kreis der anspruchsberechtigten ausländischen Staatsangehörigen auf Fremde begrenzt, die über ein nicht bloß provisorisches Aufenthaltsrecht verfügen (vgl § 5 Abs 1 Z 3 NÖ MSG). Damit verhindert das NÖ MSG, dass Personen ausschließlich zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen nach Österreich migrieren. Ein Ausschluss solcher Personen ist – auch im Hinblick auf Unionsbürger (vgl EuGH 11.11.2014, Rs C-333/13, Dano) – unbedenklich: Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen steht es grundsätzlich frei, in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren, um Sozialleistungen ihres Herkunftsstaats, nach den dort geltenden Vorgaben, in Anspruch zu nehmen.
13.2. Im Unterschied zu dieser Personengruppe haben Asylberechtigte ihr Herkunftsland [...] wegen „wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden“ verlassen und können aus denselben Gründen (derzeit) nicht dorthin zurückkehren. Schon dies begründet einen Unterschied im Tatsächlichen, der es im Lichte des Gleichheitsgrundsatzes verbietet, Asylberechtigte gleich wie die vorhin umschriebene Personengruppe zu behandeln, die jederzeit in ihren Herkunftsstaat zurückkehren kann. Dieser besonderen Situation der Asylberechtigten trägt auch das Genfer Abkommen vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (GFK) Rechnung, das für Österreich verbindlich ist: Art 23 GFK verlangt eine nach Art und Höhe gleich ausgestaltete öffentliche Unterstützung und Hilfeleistung für Asylberechtigte und Staatsbürger [...] Leistungen aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung sind jedenfalls Zuwendungen aus der öffentlichen Fürsorge. [...]
13.3. § 10 Abs 4 iVm § 11a NÖ MSG sehen vor, dass Asylberechtigte ebenso wie Unionsbürger und Drittstaatsangehörige je nach der Aufenthaltsdauer in den letzten sechs Jahren in Österreich eine unterschiedlich hohe Mindestsicherung erhalten. Für diese Regelung fehlt – auch im Hinblick auf Asylberechtigte – eine sachliche Rechtfertigung.
14. § 10 Abs 4 und § 11a NÖ MSG, die zwar nicht nach der Staatsangehörigkeit, aber nach der Aufenthaltsdauer im Inland differenzieren, verstoßen vor diesem Hintergrund gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art 7 B-VG und Art I Abs 1 des BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung).
15. Zu § 11b NÖ MSG
15.1. Unabhängig davon, ob der Mindeststandard gem § 11 NÖ MSG oder der Mindeststandard – Integration gem § 11a NÖ MSG zusteht, sieht § 11b NÖ MSG eine Deckelung des Mindeststandards pro Haushalt vor: In einem Haushalt können maximal € 1.500,– an Bedarfsorientierter Mindestsicherung bezogen werden. [...]
15.2. Das LVwG bringt vor, dass die Regelung des § 11b NÖ MSG unsachlich sei, weil auch in Haushalts- oder Wohngemeinschaften ein individueller Bedarf pro Person (etwa für Lebensmittel) bestehe, der nicht durch die Haushalts- oder Wohngemeinschaft abgedeckt werde. [...]
15.3. Dem entgegnet die NÖ Landesregierung, dass die Deckelung bei € 1.500,– am Medianeinkommen orientiert sei; insb bei kinderreichen Familien bestehe die Gefahr, dass durch den Bezug von Sozialleistungen ein monatliches Einkommen erzielt werde, das ein Arbeitseinkommen üblicherweise übersteigt. Die Deckelung sei daher notwendig, um einen Anreiz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu setzen. [...]
15.4. Zur Frage der Deckelung von Leistungen der Mindestsicherung hat der VfGH [...] in VfSlg 11.662/1988 [...] bereits betont, dass die Lebenshaltungskosten pro Person bei zunehmender Größe der Haushaltsgemeinschaft abnehmen mögen, jedoch immer noch je weiterer Person ein Aufwand in einiger Höhe erforderlich ist. Es ist also kein sachlicher Grund zu erkennen, richtsatzmäßige Geldleistungen für eine Haushaltsgemeinschaft ab dem dritten Haushaltsangehörigen abrupt zu kürzen. In Fällen, in denen allfällige weitere Haushaltsangehörige keine Familienbeihilfe beziehen (die keineswegs besonders selten sind), ist eine Höchstgrenze jedenfalls verfehlt. Aber auch dann, wenn für allfällige weitere Haushaltsangehörige Anspruch auf Familienbeihilfe besteht, kann in der Regel mit der Familienbeihilfe allein der Lebensunterhalt dieser weiteren Personen (beispielsweise des zweiten und dritten Kindes) nicht bestritten werden.
Ist in einem vom Gesetzgeber eingerichteten System der Sicherung zur Gewährung eines zu einem menschenwürdigen Leben erforderlichen Mindeststandards der Zweck, dem betroffenen Personenkreis das Existenzminimum zu gewähren, nicht mehr gewährleistet, dann verfehlt ein solches Sicherungssystem offensichtlich insoweit seine Aufgabenstellung (VfSlg 19.698/2012).413
15.5. Der VfGH sieht sich nicht veranlasst, von dieser Rsp abzugehen:
15.5.1. Die NÖ Landesregierung weist auf öffentliche Interessen, wie die Herstellung einer gesamtgesellschaftlich gerecht empfundenen Verteilungsordnung und den damit verbundenen Anreiz zur Erwerbsaufnahme, hin. Es steht dem Gesetzgeber frei, besondere Regelungen für Haushaltsgemeinschaften zu schaffen, weil hier grundsätzlich ein anderer Bedarf vorliegt als bei Einpersonenhaushalten. So haben in Haushaltsgemeinschaft lebende Personen geringere Wohnkosten und – in einem gewissen Ausmaß – auch geringere Lebenshaltungskosten, die sich beispielsweise in degressiven Mindeststandards niederschlagen können (vgl VfGH 12.12.2017, V 101/2017).
15.5.2. Zweck der Bedarfsorientierten Mindestsicherung ist die „Vermeidung und Bekämpfung von Armut und sozialer Ausschließung oder von anderen sozialen Notlagen bei hilfsbedürftigen Personen
“ (§ 1 Abs 1 NÖ MSG). Der niederösterreichische Gesetzgeber legt in § 11 NÖ MSG fest, dass alleinstehende und alleinerziehende Personen einen höheren Betrag zur Deckung ihres Lebensunterhaltes und Wohnbedarfes erhalten als volljährige Personen, die in Haushaltsgemeinschaft mit anderen volljährigen Personen leben oder Minderjährige, die mit anderen volljährigen Personen im Haushalt leben. Das System der Bedarfsorientierten Mindestsicherung [...] stellt somit – wenn auch einer Durchschnittsbetrachtung folgend – auf die konkrete Bedarfslage der hilfsbedürftigen Personen ab. § 11b NÖ MSG begrenzt hingegen – in Abkehr vom System der Bedarfsorientierten Mindestsicherung – den Anspruch eines Haushaltes bei € 1.500,–, unabhängig davon, wie viele und welche Personen (volljährige, minderjährige, mit oder ohne Anspruch auf Transfer- bzw Unterhaltsleistungen) dem Haushalt angehören. Diese Regelung kann aber nicht mit geringerem Wohnbedarf oder mit Synergieeffekten einer Haushaltsgemeinschaft sachlich gerechtfertigt werden. Die Deckelung gem § 11b NÖ MSG wird überdies unabhängig davon wirksam, ob die weiteren Mitbewohner selbst Bedarfsorientierte Mindestsicherung beziehen. Damit hat der niederösterreichische Gesetzgeber eine unsachliche Regelung geschaffen: Wenngleich € 1.500,– für bestimmte Haushaltskonstellationen ausreichend sein können, verhindert das NÖ MSG eine einzelfallbezogene und damit sachliche Bedarfsprüfung.
15.5.3. Die prozentuelle Kürzung der Mindeststandards der Haushaltsmitglieder gem § 11b Abs 2 NÖ MSG ändert nichts daran, dass ihnen nach Maßgabe der Deckelung insgesamt nur € 1.500,– zustehen, und zwar unabhängig davon, wie viele und welche Personen tatsächlich im Haushalt leben und wie hoch deren konkreter Bedarf ist. Auch wenn die Lebenshaltungskosten pro Person bei zunehmender Größe der Haushaltsgemeinschaft abnehmen mögen, so ist doch immer noch je weiterer Person ein Aufwand in einiger Höhe erforderlich (VfSlg 11.662/1988). Die gem § 13 NÖ MSG geschaffene Möglichkeit, Zusatzleistungen in Form des Privatrechts zu erbringen, kann diese Systemwidrigkeit des § 11b NÖ MSG nicht ausgleichen.
15.5.4. Die NÖ Landesregierung bringt vor, dass die Familienbeihilfe im System der Bedarfsorientierten Mindestsicherung nicht angerechnet werde und daher sichergestellt sei, dass der Bedarf von Familien gedeckt sei. Der VfGH geht weiterhin davon aus, dass es zulässig ist, den Grundbetrag der Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag bei der Bemessung von Leistungen beim Anspruchsberechtigten aus der Mindestsicherung zu berücksichtigen (vgl VfSlg 19.913/2014). Dies ändert jedoch nichts an der unsachlichen Ausgestaltung von § 11b NÖ MSG, die es verhindert, den konkreten Bedarf von Personen, die in einer Haushaltsgemeinschaft leben, wahrzunehmen. Vor dem Hintergrund der systemimmanenten Unsachlichkeit kann auch nicht von einem bloßen Härtefall gesprochen werden.
Das mit § 11b NÖ MSG geschaffene System nimmt keine Durchschnittsbetrachtung vor, sondern verhindert die Berücksichtigung des konkreten Bedarfes von in Haushaltsgemeinschaft lebenden Personen. Dadurch verfehlt dieses System der Bedarfsorientierten Mindestsicherung ab einer bestimmten Haushaltsgröße seinen eigentlichen Zweck, nämlich die Vermeidung und Bekämpfung von sozialen Notlagen bei hilfsbedürftigen Personen (vgl VfSlg 19.698/2012).
15.5.5. Soweit die NÖ Landesregierung auf andere sozialrechtliche Regelungen verweist, die eine „Deckelung“ vorsehen, ist ihr entgegenzuhalten, dass keine der genannten Bestimmungen mit § 11b NÖ MSG vergleichbar ist: [...]
16. § 10 Abs 4, § 11a und § 11b NÖ MSG sind daher wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz und gegen Art I Abs 1 des BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung als verfassungswidrig aufzuheben. [...]
Die Frage, in welchem Ausmaß, ja sogar ob überhaupt nach Österreich geflüchteten oder migrierten Personen hier Sozialleistungen zukommen sollen, ist in den letzten Jahren zu einem der meistdiskutierten sozialpolitischen Themenfelder geworden. Zumindest massive Kürzungen im Vergleich zu den bisher üblichen Standards stoßen in der Öffentlichkeit wohl auf breite Zustimmung und haben dementsprechend auch in etlichen Gesetzen Niederschlag gefunden. Dabei wird freilich übersehen, dass den jeweiligen Gesetzgebern hier keine beliebigen Spielräume zukommen. Vielmehr sind Vorgaben aus dem Völkerrecht (insb die im Erk bezogene GFK, vgl deren Art 23 und 24), dem Unionsrecht (Art 18 GRC, vor allem aber Art 29 und 30 der [Status-]RL 2011/95/EU) und auch dem nationalen Verfassungsrecht zu beachten. Das vorliegende Erk hat nur letzteres als Maßstab genommen und darauf gestützt zwei Ansätzen eine klare Absage414erteilt, von denen einer offenkundig als „Ausweichstrategie“ zur Vermeidung von solchen Völker- bzw Unionsrechtswidrigkeiten gewählt wurde (dazu 2.). Der andere zielte wohl auch auf Beschränkungen für Nicht-Staatsangehörige, erfasste aber in einem uU noch stärkeren Maß InländerInnen und deren Familien (3.). Insofern drängt sich der Verdacht auf, dass die „Migrations- bzw Flüchtlingsdebatte“ als Vorwand für einen allgemeinen Abbau von sozialrechtlichen Standards dient. Auch dafür gibt es aber, wie der VfGH mit erfreulicher Deutlichkeit aufgezeigt hat, Grenzen, die auch für künftige Maßnahmen, wie sie etwa im Regierungsprogramm angekündigt sind, beachtet werden müssen (4.).
Der Anspruch auf Sozialleistungen ist üblicherweise von einer Bindung an jene Gemeinschaft abhängig, die diese Leistung vergeben soll. In der SV erfolgt dies idR in Form vorheriger Beiträge, die zum Teil (wie in der AlV und vor allem in der PV) sogar für einen längeren Zeitraum geleistet worden sein müssen. In anderen Rechtsbereichen sind die Ansprüche an besondere Verdienste für die Gemeinschaft (die historische Wurzel für die Beamtenversorgung) oder an besondere Opfer (wie im Entschädigungsrecht für politisch Verfolgte, Kriegs- oder Verbrechensopfer) geknüpft. Es gibt aber auch Systeme, bei denen der aktuelle Bedarf ausschlaggebend ist, wie das grundsätzlich bei Sozialhilfe und Mindestsicherung, aber etwa auch beim Pflegegeld oder der wegen Behinderung erhöhten Familienbeihilfe der Fall ist.
In diesen Systemen wird die Bindung auf andere Weise verlangt. Meist gebühren Leistungen auch hier nur für die Dauer des Aufenthalts im betreffenden Territorium, der noch dazu idR ein rechtmäßiger sein muss (so auch im vorliegend einschlägigen NÖ MSG, vgl dessen § 5 Abs 1 Z 2 und 3; grundsätzlich Rebhahn, Bedürftigkeitsabhängige Sozialleistungen, DRdA 2017, 431 [435 f]). Dieses Aufenthaltsrecht hängt dann meist mit der Herkunft bzw Staatsangehörigkeit der betreffenden Person zusammen (vgl auch dafür exemplarisch § 5 Abs 2 und 3 NÖ MSG). Im Kontext der EU könnte diese Verbindung auch durch die Unionsbürgerschaft vermittelt werden, die der EuGH zunächst als per se ausreichende Anknüpfung angesehen hat. Diese Auffassung hat er aber in der Folge deutlich relativiert und einen „genuine link“ zum Aufenthaltsstaat verlangt (vgl nur Pfeil, Sozialleistungen für migrierende Arbeitslose, ZIAS 2016, 151 [160 f]) bzw bei nicht mit AN-Freizügigkeit oder Niederlassungsfreiheit verbundenen Leistungen strengere Maßstäbe angelegt (vgl nur die im vorliegenden Erk unter 13.1. zitierte Rs Dano).
Soweit diese Voraussetzungen aber erfüllt sind, ist der Bedarf das entscheidende Kriterium (vgl bereits VfGH 2012/VfSlg 19.698). Die zuständigen Gesetzgeber sind zwar – in Ermangelung von sozialen Grundrechten und sonstigen verfassungsrechtlichen Vorgaben (abgesehen vom Verbot unmenschlicher Behandlung in Art 3 MRK) – relativ frei, welche Standards in welcher Höhe sie als zur Bedarfsdeckung ausreichend definieren. Diese Standards müssen aber in sich stimmig sein und dürfen nicht in unsachlicher Weise differenzieren. Völlig zutreffend hat der VfGH hier den – schon in langjähriger Rsp relativ weit verstandenen – verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz ins Spiel gebracht. Es bedürfte also bereits einer besonderen sachlichen Rechtfertigung, um die Leistungshöhe (und nicht erst den Leistungsanspruch als solchen) von der Dauer des Aufenthalts im betreffenden Territorium abhängig zu machen.
Politisch wird das gerne mit der Notwendigkeit von „Einzahlungen ins System“ legitimiert, ein Argument, das im Kontext der Mindestsicherung – ebenso wie etwa beim Pflegegeld oder der erhöhten Familienbeihilfe – aber gerade nicht durchschlägt (vgl bereits Pfeil, Erwerbsarbeit und Mindestsicherung – ein schwieriges Verhältnis, wbl 2016, 679 [686 f]). Auch der Verweis auf die Zulässigkeit von Beschränkungen für Angehörige anderer EU-Staaten geht ins Leere, weil diese ja die Option haben, in ihren Heimatstaat zurückzukehren (vgl noch einmal 13.1. der Erkenntnisbegründung). Wenn ein/e österreichische/r Staatsangehörige/r aber genau das tut, sind zusätzliche Vorkehrungen zur Integration – jedenfalls in Form des Druckmittels geringerer Leistungen wie gegenständlich – nicht erforderlich und vor allem nicht zulässig. Gleiches gilt für einen allfälligen stärkeren Druck zur Arbeitsaufnahme, noch dazu in einem System, das ohnedies strenge Anforderungen an die Arbeitswilligkeit stellt und deren Fehlen scharf sanktioniert (vgl nur § 7 NÖ MSG).
Ist eine Differenzierung nach der Aufenthaltsdauer aber für Staatsangehörige damit – völlig zutreffend – als unsachlich und daher unzulässig qualifiziert, muss das auch für Asylberechtigte gelten. Dafür gibt es klare Vorgaben in Art 23 GFK, vor allem aber in Art 29 Abs 1 der Status-RL (vgl nur Rebhahn, DRdA 2017, 444 f). Dem Argument, dass bei der vorliegenden Differenzierung nach der Aufenthaltsdauer die Gleich(freilich: -schlecht-)behandlung mit den InländerInnen gewährleistet wäre, könnte auch mit dem Hinweis auf mittelbare Diskriminierung begegnet werden, würde es doch gerade Geflüchteten besonders schwer fallen, diese Voraussetzung zu erfüllen (vgl bereits Pfeil, wbl 2016, 688). Auf diese Fragen hat sich der VfGH aber gar nicht eingelassen und die sachliche Rechtfertigung bereits nach innerstaatlichem Verfassungsrecht (insb auch Art I BVG-Rassendiskriminierung) verneint. Das erspart den „Umweg“ zum EuGH, der mittlerweile auf Grund eines Vorabentscheidungsersuchens des LVwG Oberösterreich (OÖ) mit der Prüfung der Unionsrechtskonformität der sogar noch schärfer differenzierenden Regelungen im OÖ MSG befasst ist (vgl Rs C-713/17). Nur am Rande sei angemerkt, dass dieser „Umweg“ in einem Vorerkenntnis zum NÖ MSG (VfGH 28.6.2017, E3297/2016) durchaus angezeigt gewesen wäre, weil die dort vorgenommene Auslegung des nach Art 29 Abs 2 Status-RL eine Differenzierung bei subsidiär Schutzberechtigten ermöglichenden Begriffes „Kernleistungen“415kaum begründet und in der Sache auch nicht überzeugend ist (vgl Kaspar, Sozialhilferechtliche Differenzierung aufgrund des Aufenthaltsstatus von subsidiär Schutzberechtigten? juridikum 2017, 476 ff).
Mit der Verfassungswidrigkeit des § 11a NÖ MSG war auch die (Ausnahmen von dieser strengeren Regelung enthaltende) Bestimmung des § 10 Abs 4 nicht zu halten, mögen auch diese Ausnahmen für sich genommen plausibel und sachlich gewesen sein. Da das Grundprinzip – und zwar nicht nur rechtspolitisch, sondern eben auch verfassungsrechtlich – verfehlt ist, hätten wohl auch zusätzliche Ausnahmen nichts genutzt, sondern den Grundansatz sogar noch weiter in Frage gestellt (vgl erneut bereits Pfeil, wbl 2016, 687 f).
Die vorrangige Orientierung am Bedarf ist auch das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der Zulässigkeit der Deckelung der einem Haushalt insgesamt zuzubilligenden Geldleistungen aus der Mindestsicherung. Dass der niederösterreichische (und im Übrigen auch andere, dazu unten 4.) Landesgesetzgeber ungeachtet der Vorjudikatur (insb VfGH 1988/VfSlg 11.662 bzw VfGH 2012/VfSlg 19.698) und der insoweit einhelligen Meinung in der (zumindest veröffentlichten) Literatur (vgl Rebhahn, DRdA 2017, 439 ff; Hiesel, Mindestsicherung neu, juridikum 2017, 80 [85]; aber auch meine Beiträge in wbl 2016, 683 ff bzw ÖZPR 2017, 24 [25 f]) eine derartige Deckelung vorgesehen haben, muss doch ein wenig überraschen.
Der VfGH lässt zwar – mit Recht – Durchschnittsbetrachtungen, wie sie letztlich den standardisierten und nur grob nach Bedarfsgruppen differenzierenden Beträgen in der Mindestsicherung zu Grunde liegen, ebenso zu wie eine degressive Ausgestaltung dieser Mindeststandards auf Grund der Synergien gemeinsamen Haushaltens und Wirtschaftens zu. Eine Konstruktion wie in § 11b NÖ MSG verhindert jedoch gerade eine einzelfallbezogene (dh den konkreten Bedarf von in Haushaltsgemeinschaft lebenden Personen berücksichtigende) und damit sachliche Bedarfsprüfung (so ausdrücklich die Begründung des Erk in 15.5.4.). Unter Verweis auf die Vorjudikatur (vgl noch einmal insb VfGH 2012/VfSlg 19.698) wird dem System der Mindestsicherung in diesem Fall attestiert, ab einer bestimmten Haushaltsgröße seinen eigentlichen Zweck, nämlich die Vermeidung und Bekämpfung von sozialen Notlagen bei hilfsbedürftigen Personen, zu verfehlen.
Da dieser Zweck jedoch – wie ausgeführt – nur einfachgesetzlich festgeschrieben ist, wären dem jeweiligen Gesetzgeber generell niedrige Sätze oder auch das Ausweichen auf Sachleistungen, etwa zur Deckung des Unterkunftsbedarfes, nicht von vornherein verwehrt (vgl insb VfGH 12.12.2017, V 101/2017, zur Mindestsicherung in Vorarlberg). Ebenso ist eine Differenzierung, die besonders auf arbeitsfähige Personen abzielt, um für sie den Arbeitsanreiz zu erhöhen, insb indem der „Lohnabstand“ zu typischerweise erzielbaren Einkommen gewahrt bleibt, nicht a priori unsachlich, wie der VfGH auch im vorliegenden Erk deutlich macht. Derartige Anreize nutzen freilich bei Personen mit einem geringen Einkommen aus Erwerbstätigkeit (oder aus einer solchen abgeleiteten Sozialleistungen), den sogenannten „AufstockerInnen“, die immer noch den überwiegenden Teil der BezieherInnen von Mindestsicherung ausmachen, nichts. Abgesehen davon ist es eine ökonomische Banalität, dass die Reduktion von Transferleistungen auch den Druck auf die Erwerbseinkommen (zumal bei hoher Arbeitslosigkeit) verschärft, so dass jene, auf deren Missgunst die politische Kritik an zu hoher Mindestsicherung besonders setzt, vielfach die nächsten sein werden, die Einkommensverluste hinnehmen müssen.
Vor allem aber trifft eine rigide, auf Haushalte schlechthin abzielende Deckelung zuallererst jene, die gerade nicht in der Lage sind, ihre Arbeitskraft einzusetzen, weil sie zu jung, zu alt, zu krank oder zu gebrechlich sind (näher bereits Pfeil, wbl 2016, 685 f). Insofern ließen sich gegen die Unsachlichkeit der niederösterreichischen Regelung noch weitere verfassungsrechtliche Argumente ins Treffen führen, namentlich das Verbot der Benachteiligung wegen Behinderung nach Art 7 Abs 1 B-VG und die Verbriefungen auf Grund des BVG-Kinderrechte (BGBl I 2011/4, vgl insb dessen Art 1).
Der VfGH sah sich im vorliegenden Erk nicht mehr veranlasst, auf diese einzugehen. Gerade die letztgenannte Bestimmung hätte möglicherweise eine Befassung mit dem teilweise eklatanten Widerspruch erforderlich gemacht, dass auf der einen Seite der Anspruch auf Familienbeihilfe nicht nur mit dem Alter der Kinder, sondern auch mit deren Zahl steigt (vgl § 8 Abs 2 und 3 FLAG), ein Vorteil der von gut verdienenden und/oder vermögenden Eltern voll lukriert werden kann, denen nun durch den „Familienbonus“ im EStG (idF BGBl I 2018/4) eine zusätzliche Vergünstigung zu Teil wird. Auf der anderen Seite soll es dem jeweiligen Gesetzgeber grundsätzlich frei stehen, zumindest den Grundbetrag der (auch bei wirtschaftlich besser Gestellten nicht auf vorherige eigene Beiträge zurückgehende!) Familienbeihilfe auf andere Transferleistungen anzurechnen (vgl neben 15.5.4. der oben angeführten Begründung insb das VfGH-Erk 12.12.2017, V 101/2017). Auf diese Weise wird der Effekt dieser Familienleistungen gerade bei sozial Schwächeren konterkariert. Die Auseinandersetzung mit diesem Aspekt kann im vorliegenden Zusammenhang nicht erfolgen, soll aber bald an anderer Stelle nachgeholt werden.
Im Hinblick auf die Verfassungswidrigkeit der gegenständlichen Deckelung ist aber noch hervorzuheben, dass der VfGH die Gleichbehandlung der Asylberechtigten auch hier nicht mit völker- bzw unionsrechtlichen Vorgaben, sondern erneut vor allem mit Art I BVG-Rassendiskriminierung begründet hat. Dies ist insofern bemerkenswert, als auch dieser Deckel zumindest in der öffentlichen Diskussion zweifach asyl- bzw migrationskritisch induziert war: Zum einen wurden wiederholt (freilich nur Einzel-)Beispiele ins Treffen geführt, dass gerade Flüchtlinge in größeren416Familien anzutreffen seien oder zumindest, wenn es sich um alleinstehende junge Männer handelt, häufig in Wohngemeinschaften zusammenleben und daher besonders von den dort möglichen Synergien profitierten. Zum anderen wurde und wird immer noch in der Gesamthöhe der einem Haushalt gebührenden Leistungen ein wesentlicher „pull-Faktor“ für Migration vermutet, wobei überdies nicht unbeträchtliche „remittance“-Zahlungen zurück in die Herkunftsländer fließen sollen. Schon die empirische Belastbarkeit dieser Argumente ist zweifelhaft, für die sachliche Rechtfertigung einer Differenzierung dürfen sie – jedenfalls bei Asylberechtigten – keine Rolle spielen.
Mit der Aufhebung der niederösterreichischen Regelungen ist die Diskussion gewiss nicht beendet. Ähnliche Restriktionen finden sich in den Mindestsicherungsgesetzen im Burgenland (Bgld) sowie in OÖ: Auch § 10a Bgld MSG sieht eine Differenzierung der Leistungshöhe nach der Aufenthaltsdauer vor, die aber durch den „Integrationsbonus“ nach Abs 6 dieser Bestimmung weitgehend ausgeglichen wird; bei der haushaltsbezogenen Deckelung wird ebenso zwar eine Obergrenze wie in NÖ eingezogen, diese gilt nach § 10b Abs 1 Bgld MSG aber nur für Personen, die arbeitsfähig sind und von denen der Einsatz der Arbeitskraft verlangt werden darf, die aber kein anderes Einkommen erzielen. Damit sind also „Aufstocker“ ausgenommen und wird insgesamt dem – um es noch einmal zu betonen: grundsätzlich nicht unsachlichen Arbeitsanreizaspekt – wesentlich besser Rechnung getragen als in den vorliegend aufgehobenen Bestimmungen. Ein noch höheres Maß an potenzieller sachlicher Rechtfertigung ist der Deckelung in § 13a OÖ MSG zu bescheinigen, zumal dort auch besondere Bedarfslagen zusätzliche Berücksichtigung finden (vgl die Abs 3 bis 7 dieser Bestimmung). Dass dieses Gesetz dennoch nicht nur dem EuGH, sondern mittlerweile auch dem VfGH zur Prüfung vorgelegt wurde, hat wohl vor allem mit den deutlich niedrigeren Leistungen zu tun, die nach § 13 Abs 3a und 3b iVm der Anlage zum OÖ MSG den Asylberechtigten zugestanden werden.
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Nichtzulässigkeit einer Differenzierung Anlass dafür bieten könnte, Leistungen insgesamt zu kürzen. Genau das ist in dem Ministerratsvortrag vorgesehen, der Eckpunkte für ein bereits im Regierungsprogramm angekündigtes Bundes-Grundsatzgesetz nach Art 12 Abs 1 Z 1 B-VG zur „Mindestsicherung Neu“ enthält (https://www.bundeskanzleramt.gv.at/documents/131008/849801/20_16_mrv.pdf/80a64186-147f-4b30-84d5-f69703b98cc2https://www.bundeskanzleramt.gv.at/documents/131008/849801/20_16_mrv.pdf/80a64186-147f-4b30-84d5-f69703b98cc2). So begrüßenswert der Versuch einer bundesweiten Vereinheitlichung dieser Materie ist (die im Übrigen gerade an der Uneinigkeit der Länder mit dem Bund bzw untereinander im Hinblick auf die Ansprüche für MigrantInnen und Flüchtlinge gescheitert ist!), so zweifelhaft ist, ob diese Vorschläge (völker-, unions- und vor allem verfassungs)rechtlich haltbar sind, auch wenn sie offenkundig das hier besprochene Erk schon reflektiert haben: An Stelle der noch im Regierungsprogramm vorgesehenen Deckelung soll nämlich eine stark degressive Staffelung kommen, die ab dem dritten Kind im Haushalt höchstens eine Leistung in Höhe von maximal 5 (statt bisher mindestens 15) % des einem alleinstehenden Erwachsenen gebührenden Betrages vorsieht. Dieser soll wie bisher beim Ausgleichszulagenrichtsatz für Einzelpersonen vermindert um den Krankenversicherungsbeitrag liegen. Allerdings sollen in dieser Summe (von derzeit rund € 863,– im Monat) für alle Hilfe Suchenden (noch einmal sei das Stichwort „Gleichschlechtbehandlung“ verwendet), die arbeitsfähig sind und denen der Einsatz der Arbeitskraft zumutbar ist, € 300,– auf einen „Arbeitsqualifizierungsbonus“ entfallen, dessen Zahlung insb einen Pflichtschulabschluss in Österreich oder Deutschkenntnisse auf B1- bzw Englischkenntnisse auf C1-Niveau voraussetzt.
Die konkrete Umsetzung dieser Vorschläge steht zwar noch aus. Auch ohne deren Kenntnis kann aber davon ausgegangen werden, dass der VfGH – trotz seiner eindeutigen, dogmatisch überzeugenden (und rechtpolitisch besonders wertvollen) Aussagen im vorliegenden Erk – alsbald wieder mit Grundfragen des Mindestsicherungsrechts befasst sein wird.417