185Abschaffung des Pflegeregresses erfasst auch vor dem 1.1.2018 verwirklichte Sachverhalte
Abschaffung des Pflegeregresses erfasst auch vor dem 1.1.2018 verwirklichte Sachverhalte
Als Ergebnis ist festzuhalten, dass das Verbot des § 330a ASVG bereits vor dem 1.1.2018 verwirklichte Sachverhalte erfasst und das geänderte Recht von Amts wegen auch noch im Rechtsmittelverfahren anzuwenden ist.
Die Mutter des Bekl war nach einem Krankenhausaufenthalt in der Zeit vom 31.1. bis zum 29.4.2013 in Kurzzeitpflege in einem Geriatriezentrum. Der nunmehrige Kl ist eine Einrichtung der Stadt Wien mit Rechtspersönlichkeit (Fonds), der Förderleistungen aus Steuergeldern nach dem Wiener Sozialhilfegesetz (WSHG) erbringt. Der Heimaufenthalt wurde gefördert und die Mutter des Bekl zahlte noch zu Lebzeiten € 7.938,78 zurück. Nach ihrem Tod erhielt der Bekl die Verlassenschaft auf Grund einer unbedingten Erbserklärung eingeantwortet. Der Fonds verlangt nun klagsweise € 22.363,94 für übernommene Sozialhilfekosten (Förderungen); die Forderung sei gem § 26 Abs 4 WSHG auf den Erben übergegangen.
Das Erstgericht, das seine Entscheidung noch vor dem 1.1.2018 (Anmerkung der Bearbeiterin: Abschaffung des Pflegeregresses) traf, gab der Klage statt. Das Berufungsgericht gab der Berufung Folge und wies das Klagebegehren ab. Mit dem in Verfassungsrang stehenden § 330a ASVG sei der Pflegeregress abgeschafft worden und gem der ebenfalls in Verfassungsrang stehenden Übergangsbestimmung des § 707a Abs 2 ASVG sei die Neuregelung am 1.1.2018 in Kraft getreten; Ersatzansprüche dürfen nicht mehr geltend gemacht werden; dies gelte für alle gerichtlichen und verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Da im vorliegenden Fall noch keine rechtskräftige Entscheidung vorliege, bestehe ein laufendes Verfahren, sodass das Verbot des Pflegeregresses zum Tragen komme und der Zugriff auf das Vermögen des Bekl unzulässig sei. Der OGH hält die Revision für zulässig, aber nicht berechtigt.
„[…] Nach § 30 Abs 3 WSHG sind für Streitigkeiten unter anderem über die nach § 26 Abs 4 leg cit geltend gemachten Ansprüche die ordentlichen Gerichte zuständig.
2.1 Mit dem Sozialversicherungs-Zuordnungsgesetz (SV-ZG), BGBl I 2017/125, wurde § 330a in das ASVG eingefügt. Diese Bestimmung unter der Überschrift ‚Verbot des Pflegeregresses‘ steht im Verfassungsrang und lautet:
‚(Verfassungsbestimmung) Ein Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen, deren Angehörigen, Erben/Erbinnen und Geschenknehmer/inne/n im Rahmen der Sozialhilfe zur Abdeckung der Pflegekosten ist unzulässig.‘
2.2 Nach den Materialien […] soll mit dieser Bestimmung der Pflegeregress verboten werden. Ihr Inkrafttreten regelt die ebenfalls mit dem Sozialversicherungs-Zuordnungsgesetz eingefügte Verfassungsbestimmung des § 707a Abs 2 ASVG. Sie lautet:
‚(Verfassungsbestimmung) § 330a samt Überschrift in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 125/2017 tritt mit 1. Jänner 2018 in Kraft. Ab diesem Zeitpunkt dürfen Ersatzansprüche nicht mehr geltend gemacht werden, laufende Verfahren sind einzustellen. Insoweit Landesgesetze dem entgegenstehen, treten die betreffenden Bestimmungen zu diesem Zeitpunkt außer Kraft. Nähere Bestimmungen über den Übergang zur neuen Rechtslage können bundesgesetzlich getroffen werden. [...]‘
2.3 Nach den Materialien […] soll mit dieser Übergangsregelung sichergestellt werden, dass ab dem Inkrafttreten sowohl laufende gerichtliche als auch verwaltungsbehördliche Verfahren eingestellt werden. Auch neue Rückzahlungsverpflichtungen sollen demnach nicht mehr auferlegt werden dürfen. Weiters wird unter beispielhafter Anführung der §§ 26 und 27 des WSHG angemerkt, dass die entgegenstehenden landesgesetzlichen Bestimmungen nur insoweit außer Kraft treten sollen, als sie sich auf den Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen und ihrer Erben/Erbinnen und Geschenknehmer zur Abdeckung der Pflegekosten beziehen. […]
4.2 Nähere Bestimmungen zum Übergang zur neuen Rechtslage iSd § 707a Abs 2 ASVG hat der Bundesgesetzgeber nicht erlassen. […]
4.3 […] Auch im Bereich des Sozialversicherungsrechts ist eine geänderte gesetzliche Bestimmung ohne besondere Übergangsregel nur auf jene Fälle anwendbar, die einen Sachverhalt zum Gegenstand haben, der sich nach dem Wirksamkeitsbeginn der geänderten Bestimmung ereignet (RIS-Justiz RS0008706). Gesetzesänderungen wirken daher im Allgemeinen auf bereits abgeschlossene Sachverhalte nicht zurück (vgl 9 ObA 8/16s mwN).
4.4 Eine ausdrückliche Rückwirkungsanordnung enthält die Übergangsregel des § 707a Abs 2 ASVG nicht. Sie lässt aber in Verbindung mit dem Wortlaut des § 330a ASVG keinen Raum für Zweifel daran, dass der Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen oder – wie im vorliegenden Fall relevant418– eines Erben nach dem 31.12.2017 unzulässig ist. Aus dem Umstand, dass der Verfassungsgesetzgeber auf den Zeitpunkt des Vermögenszugriffs abstellt, folgt zwingend, dass das in § 330a ASVG angeordnete Verbot auch dann zum Tragen kommen muss, wenn die Ersatzforderung (hier nach § 26 WSHG) auf einer stationären Aufnahme beruht, die zu Leistungen des Sozialhilfeträgers vor dem 1.1.2018 geführt hat. Insoweit enthält die vom Gesetzgeber gewählte Formulierung die Anordnung, dass die geänderte Rechtslage auch auf bereits abgeschlossene Sachverhalte Anwendung findet.
5.1 […] Ob eine Gesetzesänderung für ein laufendes Verfahren zu beachten ist, richtet sich daher im Wesentlichen ebenfalls nach den Übergangsbestimmungen (RIS-Justiz RS0031419).
5.2 Die durch das Sozialversicherungs-Zuordnungsgesetz geänderte Rechtslage ist erst nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz in Kraft getreten. […]
5.3 Die in der Übergangsbestimmung des § 707a Abs 2 ASVG enthaltene Anordnung, dass laufende Verfahren einzustellen sind, ergänzt § 330a ASVG, der den Zugriff auf das Vermögen des davon erfassten Personenkreises ab 1.1.2018 verbietet, und macht unmissverständlich klar, dass diese Bestimmung auch in anhängigen Verfahren anzuwenden ist. Nur dadurch ist sichergestellt, dass das Verbot, ab diesem Zeitpunkt auf Vermögen zuzugreifen, lückenlos umgesetzt werden kann, worauf der Verfassungsgesetzgeber mit den Neuregelungen zweifellos abzielte (s das Wort ‚auch‘ in den Erläuterungen zu § 707a ASVG). Die Übergangsregel des § 707a ASVG steht damit der Anwendung der geänderten Gesetzeslage im Rechtsmittelverfahren nicht nur nicht entgegen, sondern setzt gerade voraus, dass die neue Rechtslage zum Tragen kommt, solange das Verfahren über den Kostenregress noch nicht rechtskräftig beendet ist. […]
5.4 Auch in der bisher zur neuen Rechtslage veröffentlichten Literatur besteht soweit Einigkeit, dass das in § 330a ASVG normierte Regressverbot jedenfalls dann greift, wenn ein Verfahren darüber zwar vor dem 1.1.2018 eingeleitet worden, aber bis zu diesem Stichtag keine Entscheidung über die Ersatzpflicht ergangen und rechtskräftig geworden ist (Pfeil, Umsetzungsfragen für das ‚Verbot des Pflegeregresses‘, ÖZPR 2017/109, 184 [185]; Wetsch, Zivilrechtliches zur Abschaffung des Pflegeregresses, Zak 2017, 364 [365]; Hiesel, Die Abschaffung des Pflegeregresses, ÖZPR 2017/88, 152 [153]; vgl auch Fucik/Mondel, Was bedeutet die Abschaffung des ‚Pflegeregresses‘ für zivilgerichtliche Verfahren? SWK 2017/36, 1561 [1562]).
5.5 Als Ergebnis ist daher festzuhalten, dass das Verbot des § 330a ASVG bereits vor dem 1.1.2018 verwirklichte Sachverhalte erfasst und das geänderte Recht von Amts wegen auch noch im Rechtsmittelverfahren anzuwenden ist. […]
6. Die ‚Einstellung‘ eines Verfahrens über eine Klage ist der Zivilprozessordnung […] an sich fremd. Der klagende Fonds leitete seinen Kostenregressanspruch aus § 26 Abs 1 und Abs 4 WSHG ab. Mit 1.1.2018 sind jedoch diejenigen Landesgesetze außer Kraft getreten, die dem Verbot des § 330a ASVG entgegenstehen. Damit ist dem Begehren (nachträglich) die materiellrechtliche Grundlage entzogen worden, weil das Landesgesetz keinen Anspruch mehr gibt, zum Zweck des Ersatzes von Kosten einer stationären Pflege auf Vermögen des von § 330a ASVG erfassten Personenkreises zuzugreifen. Schon in seiner Entscheidung 2 Ob 12/18f hat der zweite Senat des Obersten Gerichtshofs mit Bezug auf § 330a ASVG angemerkt, dass wegen der mit 1.1.2018 geänderten Rechtslage ein allfälliger Zivilprozess jedenfalls nicht zu einem stattgebenden Urteil führen könnte […].“
Mit dieser E hat der OGH wichtige und inhaltlich begrüßenswerte Klarstellungen für alle Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen getroffen. Nach jahrelanger Diskussion zu diesem Thema hat der Gesetzgeber im Sommer 2017 letztlich doch überraschend mit einem Abänderungsantrag zum Sozialversicherungs-Zuordnungsgesetz (AÄ-225 25. GP) mit überwiegender Mehrheit die Abschaffung des sogenannten Pflegeregresses beschlossen. Die bisherige Rechtslage sah in den Sozialhilfegesetzen der Bundesländer unterschiedliche Regelungen vor, wie und in welcher Höhe bzw bis zu welcher Höhe auf das Vermögen von Pflegebedürftigen bzw deren Angehörigen und ErbInnen zugegriffen werden konnte. Auch der Rechtsweg ist unterschiedlich: In manchen Bundesländern wird mittels Bescheid entschieden, der beim LVwG zu bekämpfen ist, im vorliegenden Fall wurde gem § 30 Abs 3 WSHG eine Klage vor dem Zivilgericht gegen den Erben eingebracht.
Der Vermögenszugriff führte vor allem bei langen Pflegeheimaufenthalten oft „zur gänzlichen Verwertung sämtlicher oft mühsam erworbener Vermögenswerte, wie etwa eines Eigenheims oder Sparguthabens“ (Erläuterungen zum Abänderungsantrag). Da diese Regelungen in die Landeskompetenz fallen, wurde im Nationalrat eine Verfassungsbestimmung beschlossen und ein neuer Abschnitt IIa in das ASVG eingefügt. § 330a ASVG normiert die Unzulässigkeit des Vermögenszugriffs von in stationären Einrichtungen aufgenommenen Personen, aber auch auf das Vermögen deren Angehörigen, ErbInnen und GeschenkannehmerInnen im Rahmen der Sozialhilfe. Die Regelung ist am 1.1.2018 in Kraft getreten (§ 707a Abs 1 ASVG) – so weit so (un)klar. Auch § 707 Abs 2 ASVG sorgte nicht für Klarheit. Was heißt es, dass Ersatzansprüche nicht mehr geltend gemacht werden dürfen? Was bedeutet es, dass laufende Verfahren einzustellen sind? Der Verfassungsgesetzgeber stellte auch klar, dass entgegenstehende319Bestimmungen in Landesgesetzen außer Kraft treten. Die (klare) Regelung, dass nähere Bestimmungen über den Übergang zur neuen Rechtslage durch den Bundesgesetzgeber getroffen werden können, wurde nicht genutzt – weder vom Gesetzgeber vor der Nationalratswahl noch nachher. Einig war man sich auch in der Literatur dahingehend, dass für Pflegeheimaufenthalte ab dem 1.1.2018 der Vermögenszugriff verboten ist. Umstritten war, wie mit Forderungen umzugehen sei, wie Heimaufenthalte im Zeitraum bis zum 31.12.2017 zu behandeln seien. Zahlreiche AutorInnen publizierten dazu und vertraten – soweit überblickbar – überwiegend die Auffassung, dass auch Pflegeheimaufenthalte bis zum 31.12.2017 betroffen sein können. Die Frage, was genau unter einem anhängigen Verfahren zu verstehen ist, wurde ebenfalls diskutiert.
Der OGH betont, dass § 707a Abs 2 ASVG keine ausdrückliche Rückwirkungsanordnung enthält. In Verbindung mit dem Wortlaut des § 330a ASVG bestehe aber kein Zweifel, dass der Zugriff auf das Vermögen unzulässig sei. Der Verfassungsgesetzgeber stellt auf den Zeitpunkt des Vermögenszugriffs ab, woraus zwingend folgt, dass auch Aufenthalte in Pflegeheimen betroffen sind, bei denen der Sozialhilfeträger vor dem 1.1.2018 Leistungen erbracht habe. Grundsätzlich ist die Rechtslage zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz maßgeblich; auch das Rechtsmittelgericht hat jedoch Änderungen des zwingenden Rechts zu beachten. Die Anordnung, dass laufende Verfahren einzustellen seien, könne laut OGH gar nicht anders interpretiert werden. Solange keine rechtskräftige Erledigung vorliegt, ist die geänderte Rechtslage zu beachten. Der Verfassungsgesetzgeber verwendet den der ZPO an sich fremden Begriff „Einstellung des Verfahrens“. Allerdings wurde dem Begehren des Fonds die materiellrechtliche Grundlage entzogen, weil eben entgegenstehende landesgesetzliche Bestimmungen außer Kraft getreten sind.
Die Vorgangsweise mittels Abänderungsantrag im Plenum des Nationalrats, ohne Begutachtung derart weitreichende und bedeutsame Regelungen einzubringen und zu beschließen, trägt jedenfalls nicht zur Rechtssicherheit bei – weder für Betroffene noch für Behörden oder Gebietskörperschaften. Weitere offene Fragen, beispielsweise was alles unter dem Begriff „stationäre Pflegeeinrichtung“ zu verstehen ist oder die ebenso bedeutsame Abgrenzung zwischen Einkommen und Vermögen, werden noch zu beantworten sein. Spannend bleibt, wann auch der VwGH über eine Revision gegen eine Entscheidung eines LVwG mit dieser Thematik befasst wird.
ANMERKUNG DER BEARBEITERIN: Im RIS sind mittlerweile Entscheidungen der Landesverwaltungsgerichte Vorarlberg (ua 29.1.2018 LVwG 340-1/2018), Salzburg (1.3.2018, LVwG 405-9/472/1/8-2018), Tirol (13.3.2018 LVwG 2018/41/0196) und Niederösterreich (16.1.2018 LVwG 1559/001-2017) veröffentlicht. In den meisten Fällen wird, wie vom OGH im vorliegenden Fall entschieden, zum Teil wird die ordentliche Revision nicht zugelassen. |